Der Buddhismus der Nara-Zeit
Seine erste große Blüte erlebte der Buddhismus im achten Jahrhundert, als Japan von Nara (damals Heijō-kyō) aus regiert wurde. Die Förderung des Buddhismus wurde vor allem durch Shōmu Tennō vorangetrieben, der zusammen mit seinen Vorgängern Tenji und Tenmu zu den tatkräftigsten Herrschern zählt, die Japan je besaß. Seine Regierung war zunächst von Seuchen und Hungersnöten sowie von Rivalitäten innerhalb des Hofadels gekennzeichnet. Letztere versuchte Shōmu durch die Verlegung seiner Residenz in den Griff zu bekommen: Zwischen 741 und 744 siedelte er dreimal um, bis er schließlich 745 endgültig nach Nara zurückkehrte. Während dieser Zeit setzte er auch religionspolitische Maßnahmen, die rückblickend gesehen konsequenter und planmäßiger wirken als seine Hauptstadtpolitik.
Staats-buddhistische Reformen
741 erging ein kaiserlicher Erlass, der die Errichtung eines landesweiten Netzes von „Provinztempeln“ (kokubunji) befahl.1 Als Zentrum dieser Provinztempel sollte ein neuer Tempel von ungeheuren Ausmaßen, der Große Tempel des Ostens (Tōdaiji) in Nara errichtet werden. Das ganze System sollte offenbar ein Gegengewicht zu den Familien-Tempeln (ujidera) der verschiedenen Adelshäuser bilden und den Buddhismus stärker in den Dienst der öffentlichen Verwaltung einbinden.
Die Errichtung des Tōdaiji und seines Großen Buddhas (daibutsu) im Jahr 752 waren der sichtbare Ausdruck von Shōmus ambitionierter Religionspolitik. Besonders die Herstellung der damals wie heute weltweit größten Bronzestatue war ein Ereignis, das weit über die Landesgrenzen hinaus Bedeutung erlangte. Die gesamte buddhistische Welt schickte Abgesandte zur „Augenöffnungszeremonie“ des Großen Buddhas, die Einweihung wurde von einem indischen Mönch vorgenommen. Allerdings trieben die Herstellungskosten von Statue und Tempel den antiken Staat an den Rand des Ruins und waren nur dank groß angelegter Spendenkampagnen zu bewältigen. Dass der Buddhismus in Japan gerade damals zu derartigen Leistungen fähig war, ist zweifellos ein Zeichen für die besonderen Hoffnungen, die sich Staat und Gesellschaft von der fremdländischen Religion machten.
Weniger spektakulär, aber womöglich wirkungsvoller waren die „Provinztempel“, als deren Zentrum der Tōdaiji errichtet worden war. Sie befanden sich im allgemeinen nahe der neu eingerichteten Verwaltungszentren in den Provinzen und waren auch als Maßnahme zur Stärkung einer landesweiten zentralistischen Verwaltung im Dienste der ritsuryō-Gesetzgebung gedacht. Noch heute zeugen Orte mit dem Namen Kokubunji davon, dass es sich wohl um bedeutende regionale Zentren gehandelt haben muss. Allerdings verloren diese offiziellen „Staatstempel“ in dem Maß an Bedeutung, in dem die zentrale Verwaltung insgesamt durch private Ländereien (shōen) unterwandert bzw. ersetzt wurde. Im Zuge der Heian-Zeit wurde außerdem der Tōdaiji vom benachbarten Kōfuku-ji an Bedeutung überflügelt und mehr oder weniger absorbiert. Der Kōfuku-ji war aber letztlich nichts anderes als der Ahnentempel des mächtigsten Adelsgeschlechts, der Fujiwara. Nach und nach verwandelte sich der frühe japanische Buddhismus somit von einem Instrument der staatlichen Zentralisierung zu einem Verbündeten der alten Klan-Strukturen, die allen äußerlichen Sinisierungsmaßnahmen zum Trotz allmählich wieder die Herrschaft des Landes bestimmten. Der Buddhismus war somit eng mit den Fragen Verstaatlichung vs. Privatisierung verbunden, die bereits in den unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen des japanischen Altertums eine Rolle spielten.
Die Sechs Nara-Schulen
In der Nara-Zeit wurde der Buddhismus von Strömungen dominiert, die man zusammenfassend als die „Sechs Nara-Schulen“2 bezeichnet. Im Unterschied zu späteren Richtungen, verstanden sich diese Schulen weniger als unterschiedliche Auslegungen des buddhistischen Dharma, denn als komplementäre Disziplinen innerhalb des gleichen religiös-philosophischen Systems. So widmet sich etwa die „Schule der Ordensregeln“ (Risshū) in erster Linie den Mönchsgeboten, bzw. den Regeln des Zusammenlebens im Kloster. Die einflussreichste Richtung war die Hossō Schule, die auch noch in der Heian-Zeit ein bestimmender Faktor in der alten Hauptstadt Nara blieb. Die Sechs Schulen verteilten sich auf sieben Tempel,3 die wiederum die geistigen Zentren des Nara-zeitlichen Buddhismus darstellten und alle innerhalb oder in der Nähe der Hauptstadt angesiedelt waren.
Der Dōkyō-Zwischenfall
Auch für die Nachfolger Shōmu Tennōs war die Förderung des Buddhismus ein zentrales Anliegen, nicht zuletzt, um die eigene Position zu legitimieren und zu stärken. Das galt ganz besonders für Shōmus Tochter, Prinzessin Abe (718–770), die Shōmu ganz gegen alle Gepflogenheiten zu seiner Erbin und Nachfolgerin eingesetzt hatte. Als Prinzessin Abe unter dem Namen Kōken Tennō die Herrschaft antrat, stürzte dies den gesamten Hof in Unruhe, sodass Kōken bald von ihrem kaiserlichen Amt zurücktrat und sich in ein buddhistisches Kloster zurückzog. Dort wurde sie zu allem Überfluss Opfer einer schweren Krankheit, die jedoch im Jahr 761 von einem Wunderheiler namens Dōkyō „mit magischen Riten“ geheilt wurde. Dies führte dazu, dass die Exkaiserin mit Dōkyō als Berater erneut die politische Bühne des Landes betrat. Um die Geschicke des Landes selbst wieder in die Hand zu nehmen, bedurfte es allerdings handfester dynastischer Kämpfe mit ihrem Onkel mütterlicherseits, Fujiwara no Nakamaro, die Kōken 764 zu ihren Gunsten entschied, worauf sie unter dem Namen Shōtoku (r. 764–770) zum zweiten Mal das Amt des Tennō übernahm.


Bildquelle: Tanaka Motomasa.
Offenbar war die Kaiserin der Meinung, ihre Machtübernahme dem Beistand Buddhas zu verdanken und nahm kurz nach ihrer zweiten Machtergreifung eine Reihe von teilweise bizarren Maßnahmen zur Förderung des Buddhismus in Angriff. Zur Feier ihres militärischen Sieges ordnete sie etwa die Herstellung von einer Million winziger Stupas (hyakuman tō) an und ließ sie in den Klöstern des Landes verteilen. In der Folge übertrug sie Dōkyō das höchste Ministeramt und ernannte ihn schließlich zum Dharmakönig (hōō), ein Titel, der höchste religiöse, aber auch weltliche Macht implizierte. Schließlich sollte Dōkyō sogar zum Erben der kinderlosen Kaiserin eingesetzt werden. Damit entstand erstmals in der japanischen Geschichte die Aussicht, dass dem genealogischen Prinzip der Tennō-Erbfolge ein Ende gesetzt und Japan von einer Art buddhistischer Theokratie regiert werden könnte.
Dōkyō half bei diesen Maßnahmen natürlich selbst aktiv mit. Zeitnahe Chroniken berichten, dass er mit Priestern im weit entfernten Usa Schrein in Kyūshū konspirierte, bis diese ein Orakel des weissagungsmächtigen Hachiman fabrizierten, das Dōkyō zum Thronerben bestimmte. Doch offenbar gab es Zweifel an der Echtheit dieser Offenbarung, sodass die Kaiserin beschloss, einen Boten zu Hachimans Schrein zu schicken, damit er die Sache bestätige. Dieser Bote, Wake no Kiyomaro, kehrte jedoch wider Erwarten mit einem abschlägigen Orakelspruch zurück, der besagte, dass nur Mitglieder der kaiserlichen Familie Anrecht auf den Thron hätten. Dies führte nach allgemeinem Dafürhalten zum Scheitern von Dōkyōs Plänen. Als die Kaiserin kurze Zeit später starb, kam es zum Regimewechsel und Dōkyō endete in der Verbannung. Auch Kiyomaro erntete für seine Botschaft zunächst grausame Bestrafung, wurde aber nach Dōkyōs Fall rehabilitiert, machte unter dem späteren Kanmu Tennō Karriere und erlangte für seine mutige Tat historischen Ruhm. In der Meiji-Zeit wurde er als Nationalheld und Verteidiger des Tennōtums sogar auf Geldscheinen verewigt.


Setagaya Stamp/Coin.
Anti-buddhistische Reflexe
Nachfolgende Kaiser waren nun bestrebt, die Verflechtungen von Buddhismus und Staat zu lockern. So soll die Verlegung der Hauptstadt unter Kanmu Tennō (zunächst 784 nach Nagaoka, dann 794 nach Heian [= Kyōto]) aus dem Bedürfnis entstanden sein, dem Einfluss der Nara-Klöster zu entkommen. Manche Religionshistoriker meinen zudem, dass die Existenz von gegen den Buddhismus gerichteten Tabu-Bestimmungen innerhalb des Ise Schreins und in vielen Bereichen des höfischen Ritualwesens direkt mit der Dōkyō-Affäre in Verbindung steht. Diese Affäre könnte somit Anlass für ein bewusst nicht-buddhistisches höfisches Ritualwesen und damit der Beginn einer Art „shintōistischen Bewusstseins“ innerhalb der Hofaristokratie gewesen sein. Allerdings tritt dieser „höfische Shintō“ nach außen hin nicht als konkurrierendes religiöses System gegen den Buddhismus auf und ist weder unter der Bezeichnung „Shintō“ noch unter einem anderen Namen als eigenständige Religion fassbar. Mehr dazu auf der nächsten Seite.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Offiziell trugen die Provinzialtempel für Mönche folgende Bezeichnung: „Tempel für den Schutz des Staates durch die Vier Himmelskönige des Goldglanz [Sutra]s“ (Konkōmyō shitennō gokoku no tera 金光明四天王護国之寺). Provinzialtempel für Nonnen hießen „Tempel des Lotos [Sutras], das das Böse besiegt“ (Hokke metsuzai no tera 法華滅罪之寺)
- ↑ Hossō-shū, Kegon-shū, Risshū, Sanron-shū, Kusha-shū, Jōjitsu-shū
- ↑ Tōdaiji, Yakushi-ji, Kōfuku-ji, Hōryū-ji, Saidai-ji, Gangō-ji und Daian-ji.
Literatur
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:
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Dass es sich hier um den Tennō-treuen Wake no Kiyomaro handelt, lässt sich nur anhand des Schreins auf der linken Bildhälfte verifizieren. Es handelt sich um den Goō Jinja in Kyōto, der durch zwei Wildschweinfiguren charakterisiert ist. Diese sind vor dem Schrein undeutlich zu erkennen. Der Legende nach retteten sie Kiyomaro das Leben, als er von den Schergen seines Erzfeindes Dōkyō verfolgt wurde. Kiyomaros Portrait war ab 1890 auf Geldscheinen zu finden. Die Vorlage stammt vom Italiener Edoardo Chiossone, der die meisten Geldscheine der Meiji-Zeit entwarf. Chiossone soll sich für dieses Portrait den Meiji-Oligarchen Kido Takayoshi (1833–1877) zum Vorbild genommen haben. Werk von Edoardo Chiossone (1833–1898). Meiji-Zeit, 1901
Setagaya Stamp/Coin.
Glossar
Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite:
- Fujiwara no Nakamaro 藤原仲麻呂 ^ 706–764; Staatsmann, Kanzler in der Nara-Zeit; Eigenname Emi no Oshikatsu
- Kanmu Tennō 桓武天皇 ^ 737–806; 50. japanischer Tennō; (r. 781–806); verantwortlich für Verlegung der Hauptstadt nach Heian (Kyōto)
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„Der Buddhismus der Nara-Zeit.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001