Und die einheimischen Götter? Kami-Kulte am antiken Kaiserhof
Im sechsten und siebenten Jahrhundert sah sich Japan gegenüber China in einer Situation, die sich viele Jahrhunderte später in der Begegnung mit dem Westen wiederholen sollte: Man wurde sich zunehmend einer militärisch und technologisch überlegenen Macht bewusst, die die territoriale Eigenständigkeit des Landes bedrohte. Schon damals wählte Japan den Weg der freiwilligen Anpassung, um sich mit den Mitteln des Gegners gegen eine Fremdherrschaft zu wehren. Die Übernahme des chinesischen Staatswesens war Ausdruck dieser Strategie.
Übernahme der chinesischen Verwaltung


© Asuka Museum
Die Sinisierung des Staates erreichte einen ersten Höhepunkt in der Zeit nach 662. Damals war der wichtigste Verbündete Japans auf dem Kontinent, das koreanische Reich Baekje, unter Mithilfe Tang-Chinas vom Nachbarreich Silla eingenommen worden. Japan unternahm im Jahr 662 einen großangelegten Versuch, Baekje militärisch zu Hilfe zu kommen, wurde jedoch vernichtend geschlagen und musste fürchten, selbst Objekt von chinesisch-koreanischen Begehrlichkeiten zu werden. Als Reaktion auf diese Vorgänge wurden die Häfen dicht gemacht und die Tribut-Zahlungen, die Japan bis dahin regelmäßig an die chinesische Tang-Dynastie entrichtet hatte, eingestellt.
Zugleich trieb man die Zentralisierung von Staat und Verwaltung nach chinesischem Muster unvermindert voran. Eine Schlüsselfigur dieser Entwicklung stellt Tenmu Tennō dar. Wie bereits erwähnt, wurde die Umstrukturierung des Staatswesens nach chinesischem Muster unter seiner Herrschaft endgültig vollzogen (siehe Kap. Frühzeit). Unter Tenmu bürgerte sich der chinesisch anmutende Titel Tennō (Himmels-Herrscher) für den japanischen Herrscher ein, auch der Landesname Nihon/Nippon — wtl. Sonnenursprungsland, also Land im Osten [Chinas] — ersetzte das alte Yamato.
Auf den ersten Blick mag all das wie ein Zugeständnis an China erscheinen. Doch zugleich präsentierte sich Japan dadurch als eine dem chinesischen Kaiserreich ebenbürtige Macht mit einem ebenbürtigen Kaiser, der ebenso wie dieser als Sohn des Himmels angesprochen wurde. In diesem Sinne legte Tenmu auch den Grundstein für die Niederschrift der mytho-historischen Landeschroniken, die später in Gestalt von Kojiki (712) und Nihon shoki (720) vollendet wurden. Auch der Buddhismus erfuhr unter Tenmu Tennō Unterstützung, während zugleich der Schrein der Sonnengottheit Amaterasu in Ise als wichtigster Ahnenschrein des Tennō-Hauses festgelegt und entsprechend gefördert wurde. Manche Forscher nehmen sogar an, dass die heute gängige Verehrung der kami in sogenannten „Schreinen“, die mit dem chinesischen Binom jinja bezeichnet werden, erst unter Tenmu Hand in Hand mit der Einführung des chinesischen Verwaltungssystems eingeführt wurde.1
Das siebente Jahrhundert war somit wahrscheinlich von einer ähnlichen Dynamik und Widersprüchlichkeit geprägt wie die Meiji-Zeit des modernen Japan: Rasanter Wechsel ging mit dem Festhalten an alten Traditionen bzw. mit der Erfindung neuer „alter Traditionen“ Hand in Hand (s. Staatsshintō). Aus dieser Situation heraus ist es wohl auch verständlich, wie ein eigenständiges, auf die einheimischen Götter gerichtetes Hofzeremoniell festgelegt werden konnte, das sowohl zahlreiche Elemente des chinesischen Staats- und Kaiserkults in sich aufnahm, als auch breiten Raum für den Buddhismus frei ließ.
Das Götteramt
Das Hofzeremoniell unter Tenmu ist vor allem insofern bemerkenswert, als es einer eigenen Behörde unterstellt war, die als einziges Regierungsamt nicht auf einem chinesischen Vorbild beruhte: Das Götteramt, Jingi-kan (wtl. „Behörde für Götter des Himmels und der Erde“).
Das Götteramt stand ursprünglich dem obersten Regierungsamt (Daijō-kan) gleichwertig gegenüber und war damit rangmäßig höher als die sogenannten „Acht Ministerien“, in denen die wesentlichen politischen Verwaltungsaufgaben des Landes behandelt wurden. Den sakralen und zeremoniellen Aufgaben wurde somit ein besonderer Platz in der Hierarchie staatlicher Angelegenheiten eingeräumt. Das Götteramt wurde anfangs von Priestern der Familie Nakatomi dominiert, die offenbar schon seit langem Spezialisten für rituelle Angelegenheiten waren. Das Daijōkan wiederum lag zumeist in Händen der Fujiwara, einer Zweigfamilie der Nakatomi. Sieht man sich jedoch die Ränge der jeweiligen Beamten an, erkennt man, dass der Status der Nakatomi niedriger war als der ihrer „weltlichen“ Fujiwara-Verwandten. Auch waren die weltlichen Behörden mit mehr tatsächlicher Machtbefugnis ausgestattet. Diese Ambivalenz bleibt im Grunde auch in späterer Zeit für die Behandlung alles „Shintōistischen“ charakteristisch: Den kami steht zwar immer der ehrenvollste Platz zu, die tatsächliche Macht geht aber von anderen Instanzen aus.
Das Götteramt regelte die wichtigsten rituellen Angelegenheiten bei Hof und bezog auch die ujigami der wichtigsten Adelsfamilien in seinen Aufgabenbereich ein. Zugleich oblag ihm die Abhaltung von jahreszeitlichen Festen, die teilweise wiederum von chinesischen Vorbildern geprägt waren. Obwohl das Götteramt selbst also eine japanische Erfindung ist, muss man sich das von ihm praktizierte Ritualsystem als Mischung von einheimischen und chinesischen Elementen vorstellen.
Da das Götteramt als Verwaltungsbehörde und nicht als eigene religiöse Körperschaft angesehen wurde, wurden seine Aufgaben in Gesetzestexten geregelt. Das genaueste Bild vermitteln die „Gesetzlichen Bestimmungen aus der Ära Engi“ (Engishiki), die Mitte des zehnten Jahrhunderts in Kraft traten. Die Engishiki legen u.a. das Personal des Götteramts genau fest, enthalten detaillierte Angaben zu den jahreszeitlichen Riten, die zum Teil unter Führung des Tennō abzuhalten sind, und listen schließlich über 3000 Schreine im ganzen Land auf, die mit dem Kaiserhof durch Austausch von Opfergaben in Verbindung stehen. Sie beschäftigen sich dabei in erster Linie mit formalen Details (Art und Anzahl der Opfergaben bei bestimmten Anlässen, Art und Dauer der Askese bei der Vorbereitung eines Ritus, etc.). Trotz ihrer überragenden Bedeutung als Quelle des antiken höfischen kami-Kults deutet manches daraufhin, dass die Engishiki eine Idealvorstellung des höfischen Zeremonialwesens darstellen, die in der Praxis nie vollkommen erreicht wurde. Besonders die landesweite Kommunikation mit Schreinen, die stets mit dem Geben und Nehmen von Opfergaben verknüpft war, stellte eine gewaltige logistische Herausforderung dar. Daher konzentrierte sich der Hof in der späten Heian-Zeit auf einige wenige Groß-Schreine und überließ die Pflege aller anderen Schreine den lokalen Provinzverwaltungen.
Tabus gegen den Buddhismus
Etwas rätselhaft ist, dass der höfische Buddhismus in den Engishiki weitgehend ausgeblendet ist. Im Gegensatz dazu sind nicht nur die Chroniken der einzelnen Schreine bereits in der Heian-Zeit voll von buddhistischen Bezügen, auch in der Hofaristokratie selbst greift die Praxis des buddhistischen Laienmönchsstands (nyūdō; meist verbunden mit dem Rücktritt von öffentlichen Ämtern) mehr und mehr um sich. Ende der Heian-Zeit macht sich diese Praxis selbst unter zurückgetretenen Kaisern breit, ja es kommt sogar zur berühmten Schattenregierung der „Klosterkaiser“ (insei). Dagegen ist es ausgeschlossen, dass ein amtierender Tennō in den Mönchsstand eintritt. Ohne jegliche theologische Begründung existiert somit eine deutliche Trennwand zwischen dem höfischen kami-Kult und dem buddhistischen Klerus.


© Bernhard Scheid, 2013
Am stärksten ist diese Tendenz im Ise Schrein ausgeprägt. So sind z.B. in den Engishiki mehrere buddhistische Begriffe genannt, die in Ise nicht verwendet werden dürfen. Stattdessen hat man sich bestimmter Tabuworte zu bedienen, etwa: „Langhaar“ für Mönch, „gefärbtes Papier“ für sutra, „Schindeldach“ für Tempel (andere ähnliche Tabuworte beziehen sich auf Krankheit, Tod und Fleischkonsum). Auch gibt es das rätselhafte Gebot, beim Betreten des Ise Schreins „den Atem des Buddhismus zu bedecken“, und buddhistische Mönche können den Schrein nur mit Schwierigkeiten besuchen. Ähnliche Gebote verbreiten sich auch in einigen wenigen anderen, dem Hof nahe stehenden, Schreinen. Es scheint somit, dass innerhalb des Zeremonialwesens, dessen Zentrum das Götteramt darstellte, der Einfluss des Buddhismus bewusst negiert wurde.
Warum diese Trennung? Es mag sein, dass der latente Widerstand gegen den Buddhismus, der hier zu erkennen ist, mit einem Festhalten der Hofaristokratie an ihren angestammten Erbrechten zu tun hat, die trotz der „meritokratischen“ Hierarchie des chinesischen Beamtenstaates nie gänzlich abgeschafft wurden. In der Tat waren staatliche Beamtenprüfungen wie sie das chinesische Modell vorsieht, nur kurz im Nara-zeitlichen Japan üblich und verloren gegenüber den erblichen Privilegien einzelner Adelshäuser bald wieder an Bedeutung. Diese Erbrechte gründeten ideologisch auf den Ahnengottheiten (ujigami) der jeweiligen Familien. Daher pflegte der Adel neben dem Buddhismus auch den Kult der eigenen ujigami-Schreine weiter bzw. suchte er nach einer Synthese dieser beiden religionspolitischen Instrumente.
Die ujigami — und vielleicht die japanischen kami überhaupt — schufen eine Möglichkeit, im an sich perfekt geordneten Weltsystem der Karma-Theorie ein Schlupfloch zu finden. Man konnte beispielsweise, wenn kein karmischer bzw. moralischer Nutzen an einer bestimmten Handlungsweise zu erkennen war, göttliche Tabu-Regeln geltend machen. Der anti-systematische Charakter der alten kami-Religion kam zweifellos der Aufrechterhaltung bestimmter Sonderrechte oder Privilegien entgegen.
Der Buddhismus hingegen pflegte in seinen Klöstern eine Art Meritokratie. Trotz aller historischen Verflechtungen mit den einzelnen Adelsfamilien waren seine Grunddogmen daher nicht auf den Schutz weltlicher Einzelinteressen ausgerichtet. Unter Berufung auf das mönchische Ideal der Besitzlosigkeit oder auf die Unbeständigkeit aller weltlichen Güter konnten irdische Besitzrechte daher stets von Grund auf angezweifelt werden. Dass dies in der Praxis auch der Fall war, wird spätestens Ende der Heian-Zeit aus diversen buddhistischen Anekdoten (setsuwa) deutlich. Dies ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Punkt, wenn man nach Erklärungen sucht, warum nach einem anfänglichen Höhenflug des staatlich subventionierten Buddhismus eine verhaltene, aber doch deutliche Gegenbewegung spätestens seit dem Beginn der Heian-Zeit zu erkennen ist.
Vielleicht gab aber auch die erwähnte Affäre des buddhistischen Usurpators Dōkyō (siehe Kap. Nara) den Ausschlag, dass ein gewisser Bereich des höfischen Zeremoniells, einschließlich der Riten des Tennō, vom Einfluss des Buddhismus ferngehalten wurde. Jedenfalls erfolgte diese Abgrenzung im wesentlichen in Form von Tabu-Regeln. Bereits in der späten Heian-Zeit, als das buddhistische Weltbild im allgemeinen Bewusstsein der Japaner zur Selbstverständlichkeit geworden war, tat man sich schwer, den Sinn dieser Tabus zu verstehen, und suchte nach spitzfindigen Deutungen. Nichtsdestoweniger behielten sie auch in der buddhistisch dominierten Zeit des japanischen Mittelalters stets ein gewisses Maß an Gültigkeit.
Verweise
Fußnoten
- ↑ Inoue 2014.
Internetquellen
- Asuka Historical Museum (en.)
Mit Informationen und Abbildungen zum Takamatsuzuka Grab.
Literatur
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:
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Bei diesem Drachen (ryū) handelt es sich um ein chinesisches Emblem des Ostens. Das Bild stammt aus einem Hügelgrab (kofun) der Asuka-Zeit (7. Jh.), dem Takamatsu-zuka. Dass chinesische Embleme in dieser Zeit in Grabkammern festgehalten wurden, verdeutlicht den Einfluss der chinesischen Kosmologie und des daoistischen Polarstern-Glaubens im Japan der Asuka-Zeit. wahrscheinlich 7.Jh.
© Asuka Museum
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Der Ise Schrein kurz nach der Schreinverlegungszeremonie, Oktober 2013. Vor einem knallneuen torii verneigen sich zwei festlich gekleidete Damen unter Anleitung eines Priesters. Eine Masse von Schaulustigen, zu denen auch der Fotograf gehört, befindet sich hinter einem Zaun, der nur für prominente Gäste geöffnet wird. Vom eigentlichen Hauptgebäude ist lediglich ein kleines Stück Dach zu sehen, die Architektur entspricht jedoch dem überdachten Tor hinter dem torii. Rechts im Hintergrund ist noch die spiegelbildlich errichtete alte Anlage zu sehen, die in Kürze abgerissen wird, bis das Areal nach zwanzig Jahren für einen weiteren Neuaufbau genutzt wird.
© Bernhard Scheid, 2013
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„Und die einheimischen Götter? Kami-Kulte am antiken Kaiserhof.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001