Sensō-ji: Der Tempel des niederen Grases
Wenn man in Tōkyō einen traditionellen Tempel besuchen will, so ist der Sensō-ji, auch bekannt als Asakusa Tempel, die erste Adresse. Natürlich gibt es noch zahlreiche andere buddhistische Tempel in Tōkyō, aber nur wenige, bei denen das gesamte architektonische Ensemble (inklusive Eingang, Pagode und Seitengebäude) nach wie vor so gut zur Geltung kommt.


© Tokyo Views, flickr 2009
Asakusa war bereits vor der Edo-Zeit ein populäres Zentrum des Kannon Glaubens. Das Hauptheiligtum ist eine winzige Kannonstatue, die der Sage nach von drei Fischern in ihren Netzen gefunden wurde. In der Edo-Zeit entwickelte sich nahe des Tempels das berühmte Vergnügungsviertel Yoshiwara und auch die Tempelanlage selbst war bereits damals für ihre vielen bunten Souvenirläden und für die mit riesigen Lampions geschmückten Tempeltore berühmt. Wie die meisten Sehenswürdigkeiten Tōkyōs fiel das gesamte Ensemble den Brandbomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer und wurde in der Nachkriegszeit — teilweise aus Stahlbeton — wieder aufgebaut. Doch tat dies der Beliebtheit des Tempels keinen Abbruch.
Photorundgang


© Bohous Kotal, 2006


© Wada Yoshio, 2006


© Edward Hahn, 2007


© Shige's Wallpapers, über Internet Archive


© Lawrence Ong, 2005


© Wada Yoshio, 2006


© Yewco Kootnikoff, flickr 2007


© Shige's Wallpapers, über Internet Archive


© H. L. Wallaart, pbase, 2005
Tempelgründungslegende
Asakusa war bereits ein lokales Heiligtum, bevor Tokugawa Ieyasu im Jahr 1590 seine Residenz nach Edo verlegte und damit den Grundstein der heutigen Metropole Tōkyō legte. Der offizielle Name Kinryū-zan Sensō-ji (Tempel des niederen Grases, Klosterberg des Goldenen Drachens) gemahnt an die Gründungslegende, die im Jahr 628 angesiedelt ist: Damals sollen drei Fischer (der Dorfvorsteher Haji no Nakatomo und seine Helfer, die Brüder Hamanari und Takenari) eine lediglich 5cm große reingoldene Kannon-Figur in ihren Netzen gefunden haben. In Ermangelung einer anderen Aufbewahrungsstätte flochten sie der Statue einen Tempel aus Gras. Die Kannon-Statue stellt angeblich noch heute den Hauptverehrungsgegenstand (honzon) des Asakusa Tempels dar. Sie ist ein sogenannter hibutsu, wtl. ein „geheimer Buddha“, und wird daher nicht öffentlich ausgestellt. Bisweilen heißt es auch, dass es sich bei der Kannon-Statue von Asakusa um eine etwa einen halben Meter große Holzstatue handelt. Die drei Fischer wurden jedenfalls im Laufe der Zeit zu lokalen Gottheiten (kami) erhoben und in einem Schrein verehrt, der sich noch heute auf dem Gelände der Tempelanlage befindet.


© National Diet Library, Tōkyō


© National Diet Library, Tōkyō
Nakamise Shopping Mall


© don.lee, flickr 2006
Seine besondere Beliebtheit verdankt die Gegend rund um den Tempel der Tatsache, dass sich in seiner unmittelbaren Umgebung das Freudenviertel von Edo, Yoshiwara, befand. Schon in der Edo-Zeit war damit nicht nur sinnliches Vergnügen, sondern auch Kaufrausch verbunden. Die berühmte Einkaufsstraße vor dem Tempel (Nakamise), die man durch das „Donnertor“ (Kaminari-mon) betritt, gab es angeblich bereits in der Genroku-Zeit (erste Blütezeit Edos um 1700). Gegen Jahresende, jeweils am 17. und 18. 12., wurde in Asakusa außerdem ein besonderer Markt (toshi no ichi) für Ziergegenstände zur Feier des Neujahrs abgehalten, zu dem ganz Edo drängte. Heute kann man derartige Gegenstände das ganze Jahr über in den Souvenirläden der Nakamise kaufen, an den ursprünglichen Jahrmarktstagen gibt es aber zusätzlich besondere Feiern für die Glücksgötter Daikoku und Ebisu.


© National Museum of Asian Art


© Museum of Fine Arts, Boston


© Library Metro Tokyo
Lampion und Torwächter sind hier gut zu erkennen,
dahinter — einst wie heute — die Souvenirläden der Nakamise Dōri.
Feste


© Jens Quade, flickr 2005


© Wada Yoshio, 2006


© Wada Yoshio, 2006
In Asakusa gibt es darüber hinaus mehrere äußerst populäre Feste und Feiern. Zu Neujahr ist der Tempel einer der beliebtesten Ziele des „ersten Schreinbesuchs“ (hatsumōde), ungeachtet der Tatsache, dass es sich um einen buddhistischen Tempel und keinen Schrein handelt. Ein weiteres beliebtes Fest wird außerdem jedes Jahr im Mai zu Ehren der drei Finder der Kannon-Statue von Asakusa gefeiert. Es hieß ursprünglich Asakusa Kannon Matsuri und wurde von dem Tempel zugehörigen Mönchen und Shintō-Priestern gemeinsam veranstaltet. Seit der gesetzlich verordneten Trennung von Buddhismus und Shintō (shinbutsu bunri, 1868) wurde es aber dem Tempel entzogen und lediglich dem Asakusa Schrein (eigentlich ein Schutzschrein des Tempels) unterstellt. In diesem Schrein werden die drei Fischer als Schutzgötter des Tempels verehrt und der Einfachheit halber als Sanja-sama (wtl. Drei Schrein-Götter) bezeichnet. Daher heißt auch das Fest heute Sanja Matsuri. Bei diesem matsuri beteiligen sich auch Figuren, die dem ehemaligen Vergnügungsviertel entstiegen zu sein scheinen. Unter anderem nützen Tätowierte aus dem Yakuza-Milieu die Möglichkeit, ihren Körperschmuck, der im Alltag verborgen bleibt, öffentlich vorzuführen (s. Abb. oben). Diese Tattoo-Schau lässt sich bereits auf ukiyo-e der Edo-Zeit nachweisen.
Der Tempel selbst ergänzte sein Repertoire an jährlichen Feiern durch den Tanz des Goldenen Drachens (Kinryū no mai), der 1958 vom Dramatiker Kubota Mantarō ins Leben gerufen wurde und seit damals regelmäßig im März stattfindet.


Bildquelle: New York Public Library, flickr, 2008


Bildquelle: Japanese Prints, Richard Kruml
Verweise
Internetquellen
- Sensō-ji, fotografische Dokumentation der gesamten Anlage von Asian Historical Architecture, Timothy M. Ciccone (Hg.)
- Sanja Matsuri, Wada Yoshio (jap.)
Hier findet man zahlreiche fotographische Eindrücke und eine genaue Beschreibung.
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:
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Eingang zum Tempelzugangsweg durch das Kaminari-mon des Asakusa Tempels, bewacht von Windgott und Donnergott.
© Tokyo Views, flickr 2009 - ^
Das Kaminari-mon mit der dahinterliegenden Straße Nakamise-dōri.
© Bohous Kotal, 2006 - ^
Zugangsweg zum Asakusa Tempel und älteste Shoppingmall Japans aus der Edo-Zeit.
© Wada Yoshio, 2006 - ^
Der berühmte Asakusa-dera in Tōkyō besaß bis zum Zweiten Weltkrieg eine fünfstöckige Holzpagode (gojū-tō) aus dem Jahr 1648. Sie wurde 1945 zusammen mit den meisten anderen Gebäuden der Anlage zerstört. Die neue Pagode wurde von der rechten auf die linke Seite des Zugangswegs (Nakamise dōri) verlegt. 1973
© Edward Hahn, 2007 - ^
Wie in allen großen Tempeln werden auch im Sensō-ji Rauchopfer in Form von Räucherstäbchen in einem großen, mit Asche gefüllten Bronzegefäß (o-kōro) dargebracht.
© Shige's Wallpapers, über Internet Archive - ^
Besucher fächeln sich den Rauch der geopferten Räucherstäbchen zu. Rauchbecken (o-kōro) des Sensō-ji in Asakusa, Tōkyō.
© Lawrence Ong, 2005 - ^
Der dem Sensō-ji Tempel zugeordnete Asakusa Schrein überstand den Zweiten Weltkrieg unversehrt und ist eines der ältesten Bauwerke der Anlage. 1649
© Wada Yoshio, 2006 - ^
Mittleres Tor (mon) der Nakamise-dōri mit Neujahrsschmuck
© Yewco Kootnikoff, flickr 2007 - ^
Tōkyōs bekanntester buddhistischer Tempel, Sensō-ji, auch Asakusa-dera.
© Shige's Wallpapers, über Internet Archive - ^
Seitenansicht der Haupthalle des Sensō-ji
© H. L. Wallaart, pbase, 2005 - ^
Drei Fischer entdecken eine Kannon-Statue in ihren Netzen. Laut Gründungslegende des Asakusa-Tempels soll sich dieses wundersame Ereignis im Jahr 628 im nahe des Tempels gelegenen Fluss Sumidagawa zugetragen haben. Werk von Utagawa Hiroshige.
© National Diet Library, Tōkyō
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Jahr-Markt (toshi no ichi) im Asakusa-dera. Werk von Utagawa Hiroshige (1797–1858).
© National Diet Library, Tōkyō - ^ Der Riesenlampion trägt das Schriftzeichen Kaminari-mon (Donnertor). Er ist laut Wikipedia 3,9m hoch und wiegt 700 kg. Die Schriftzeichen am Boden des Lampions verweisen auf seinen Sponsor, die Firma Matsushita Denki (aka. Panasonic), Hersteller von Elektrogeräten. Alles sehr sinnig, besonders wenn man bedenkt, dass der elektrische Strom (denki) auf Japanisch wörtlich genommen „Blitzkraft“ bedeutet.
Der Grund für das Sponsoring von Panasonic liegt jedoch angeblich darin, dass der Firmengründer Matsushita Kōnosuke 1960 von einer Krankheit genas, nachdem er im Sensō-ji gebetet hatte, und daraufhin das Kaminari-mon, das schon hundert Jahre zuvor zerstört worden war, wieder neu errichten ließ.
© don.lee, flickr 2006 - ^
Die winterliche Anlage des Sensō-ji, durch das Eingangstor (Kaminari-mon) betrachtet. Dieses Tor wurde kurz nach der Fertigstellung dieses Bildes zerstört und erst 1960 wieder errichtet. Auch heute befindet sich in seinem Inneren ein riesiger roter Lampion. Dieser trägt jedoch den Namen des Tores, Kaminarimon. Ein ebenso großer Ballon mit der Aufschrift „Shinbashi“ 志ん橋 befindet sich jedoch heute im Eingang der Haupttempelhalle. Für dessen Schriftzug diente wiederum Hiroshiges Bild als Vorlage. Shinbashi bezeichnet einfach ein Stadtviertel Tōkyōs, das für die Kosten des Lampions aufkommt. Werk von Utagawa Hiroshige (1797–1858). Edo-Zeit, 1856
© National Museum of Asian Art - ^
Das Kaminari-mon ist hier ohne Lampion zu sehen, dafür sind die beiden Wächtergötter umso präsenter. Die Bauart des Tors stimmt mit der heutigen Form weitgehend überein, allerdings scheinen die Proportionen ein wenig anders zu sein. Das Bild entstammt einer frühen Periode von Hokusai, in der er mit westlicher Perspektivdarstellung experimentierte. Werk von Katsushika Hokusai (1760–1849).
© Museum of Fine Arts, Boston - ^
Kaminari-mon des Tempels Sensō-ji in Edo. Auf dieser Seitenansicht des Tors sind Torwächter, Wind-und Donnergott, gut zu erkennen, dahinter — einst wie heute — die Souvenirläden der Nakamise- dōri. In der linken Bildhälfte bemüht sich der Künstler, die restlichen Hauptgebäude (Mitteltor, Pagode, Haupthalle) in etwas zusammengestauchter Form unterzubringen. Werk von Keisai Eisen (1790–1848). späte Edo-Zeit
© Library Metro Tokyo - ^
Gedränge beim Fest des Goldenen Drachens (Kinryū no mai) des Sensō-ji.
© Jens Quade, flickr 2005 - ^
Aufnahme des Fests des Goldenen Drachen (Kinryū no mai) des Sensō-ji.
© Wada Yoshio, 2006 - ^
Tattoo-Beschau beim Sanja Matsuri auf dem Gelände des Asakusa Tempels.
© Wada Yoshio, 2006 - ^
Verkauf traditioneller Federballschläger (hagoita) zu Neujahr.
© anchoco, 2006 - ^
Die Pagode (tō) befindet sich seit dem Wiederaufbau der Tempelanlage von Asakusa nach dem 2. Weltkrieg auf der anderen Seite des mittleren Tores. Werk von Kusakabe Kinbei. um 1890
Bildquelle: New York Public Library, flickr, 2008 - ^
Hier ist der Asakusa Tempel aus der Vogelperspektive inmitten des umgebenden Stadtviertels im frühen 19. Jh. zu sehen. Im Hintergrund der Fluss Sumidagawa und der Berg Tsukuba, im NO der Stadt. Werk von Totoya Hokkei (1780–1850). 1820
Bildquelle: Japanese Prints, Richard Kruml
Glossar
Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite:
- Asakusa Jinja 浅草神社 ^ Schrein im Bereich der Tempelanlage von Asakusa. Geweiht den drei Fischern, die den Tempel der Legende nach gründeten.
- Daikoku 大黒 ^ Glücksgott und Stellvertreter der Sieben Glücksgötter (Shichi Fukujin); skt. Mahakala = „Großer Schwarzer“; auch Daikoku-ten
- Kannon 観音 ^ auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt
- Kinryū no mai 金龍の舞 ^ Schreinfest, wtl. Tanz des Goldenen Drachens; 1958 anlässlich des Wiederaufbaus der Haupthalle des Sensō-ji gegründet;
- shinbutsu bunri 神仏分離 ^ Trennung von kami und Buddhas; religionspolitische Maßnahme zur Entflechtung von buddh. Tempeln und Shintō-Schreinen; vereinzelt in der Edo-Zeit, vor allem aber für die frühe Meiji-Zeit (1868–1873) charakteristisch
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Tengu
- Oni und kappa
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
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- Mittelalter:
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- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
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- Neo-Konfuzianismus
- Kokugaku
- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Denken
- 八 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
- Bilder, Glossare
Diese Seite:
„Sensō-ji: Der Tempel des niederen Grases.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001