Die Reformen der Heian-Zeit
Werk von Hayashi Yoshinaga. Edo-Zeit. David Rumsey Map Collection.
Die Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit (794–1185) verdankt ihren Namen der Tatsache, dass der Sitz der Zentralmacht in dieser Zeit in Heian-kyō [Heian-kyō (jap.) 平安京 urspr. Name der Stadt Kyōto; wtl. Stadt des Friedens; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)], dem heutigen Kyōto lag. Während die Politik ihr Zentrum wechselte, blieben die großen Klöster in Nara [Nara (jap.) 奈良 Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō]. In der neuen Hauptstadt Heian hingegen waren Tempel vorerst nur außerhalb der Stadtgrenzen geduldet. Zwischen dem Kaiserhof und der Führung des buddhistischen Klerus kam es also zu einer markanten geographischen Trennung, die wohl auch eine politisch-kulturelle Entfremdung zum Ausdruck brachte. Doch damit war der Buddhismus nicht auf Dauer vom politischen Zentrum entfernt worden.
Religiöse Reformer
Schon bald nach Gründung der Hauptstadt traten zwei Persönlichkeiten auf, die die religiöse Landschaft nachhaltig veränderten: Saichō [Saichō (jap.) 最澄 767–822; Gründer des Tendai-Buddhismus; auch bekannt als Dengyō Daishi] und Kūkai [Kūkai (jap.) 空海 774–835, Gründer des Shingon Buddhismus; Eigennamen Saeki Mao, Ehrennamen Kōbō Daishi]. Beide wurden zunächst — sogar mit der gleichen offiziellen Gesandtschaft — nach China geschickt, um dort ihre buddhistischen Kenntnisse zu vertiefen. Beide kehrten zurück mit den Weihen bislang in Japan unbekannter Schulen. Und beide wurden zu den Gründervätern neuer Richtungen im japanischen Buddhismus: Tendai-shū [Tendai-shū (jap.) 天台宗 Tendai-Schule, chin. Tiantai] und Shingon-shū [Shingon-shū (jap.) 真言宗 Shingon-Schule, wtl. Schule des Wahren Wortes; wichtigste Vertreterin des esoterischen Buddhismus (mikkyō) in Japan].
Am Beginn der Heian-Zeit, zu Lebzeiten von Saichō und Kūkai, war der japanische Buddhismus bereits im Besitz einer unüberschaubaren Menge buddhistischer Schriften. Das geistige Klima war allen Einzellehren gegenüber prinzipiell tolerant, doch herrschte wohl auch das Bedürfnis, Ordnung in die einander oft widersprechenden Dogmen zu bringen. Wie auf den folgenden Seiten genauer ausgeführt wird, kamen Saichō und Kūkai diesem Bedürfnis entgegen, indem sie jeder auf seine Weise einen Maßstab zur Bewertung der Schriften anlegten und einzelne als besonders wichtig hervorstrichen. Sie trafen damit eine Auswahl, setzten innerhalb des vorhandenen buddhistischen Schrifttums Akzente und legten den Grundstein für spezifisch japanische Ausformungen der buddhistischen Lehre, die über Jahrhunderte das Wesen des japanischen Buddhismus prägen sollten.
Populäre Glaubensvorstellungen
Bereits in der Nara [Nara (jap.) 奈良 Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō]-Zeit begannen einzelne Mönche, den japanischen Buddhismus zu popularisieren, d.h. seine Inhalte in allgemein verständliche Texte zu fassen. Diese Tendenz setzt sich in der Heian-Zeit weiter fort: Buddhistische Mönche verfassen Legenden, die den Wert buddhistischer Moralvorstellungen erläutern, und verbreiten sie in japanischer Sprache unter den Laien. Damit sind, wohlgemerkt, nicht nur die breiten Bevölkerungsschichten gemeint, wie man der Bezeichnung „Popularisierung“ vielleicht entnehmen könnte. Die Adressaten der einheimischen buddhistischen Erzählliteratur waren zunächst und vor allem die Adeligen, und erst in weiterer Folge die restliche Bevölkerung. Auch wurden die heute oft naiv anmutenden Vorstellungen nicht nur von den Laien, sondern auch vom Klerus selbst durchaus ernst genommen.
Ein frühes Beispiel buddhistischer Erzählliteratur ist das Nihon ryōiki [Nihon ryōiki (jap.) 日本霊異記 „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)] (mit vollem Titel Nihonkoku genpō zen'aku ryōiki „Berichte von Wundern karmischer [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. gō 業)] Vergeltung für Gutes und Böses in Japan“, abgefasst zwischen 810 und 823 von Kyōkai [Kyōkai (jap.) 景戒 buddhistischer Mönch des Yakushi-ji 薬師寺 (ein Tempel der Hossō-Schule) zur Nara-Zeit]), ein Werk, das auf sehr drastische Weise die Auswirkungen von gutem und schlechtem Karma in diesem und in den nächsten Leben illustriert. Das Nihon ryōiki ist das erste erhaltene Werk der sogenannten setsuwa [setsuwa (jap.) 説話 Lehrerzählung, didaktische Anekdote; meist von buddh. Mönchen in Form umfangreicher Sammlungen kompiliert]-Literatur. Setsuwa bedeutet wörtlich Lehrerzählung, gemeint ist natürlich die buddhistische Lehre. Die bekannteste und umfangreichste Sammlung von Lehrerzählungen ist das Konjaku monogatari [Konjaku monogatari (jap.) 今昔物語 „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext] („Erzählungen aus alter und neuer Zeit“, 12. Jh.) mit über tausend Legenden und Anekdoten, die z.T. auch in Indien und China angesiedelt sind. In dieser Sammlung und auch in manchen späteren setsuwa-Sammlungen tritt der unterhaltsame Aspekt der Geschichten gegenüber dem didaktischen Anliegen bisweilen in den Vordergrund. Unter der Hand erfährt man dabei viel über die allgemeinen Lebensumstände der damaligen Zeit.
Hölle und Unterwelt
13. Jh. Kyōto National Museum.
Zu den populären buddhistischen Glaubensvorstellungen, die in den setsuwa vertreten sind, zählen auch Höllenbilder beziehungsweise die Ausschmückung der sogenannten Sechs Bereiche (rokudō [rokudō (jap.) 六道 wtl. die Sechs Wege = Bereiche der Wiedergeburt]) der Wiedergeburt (s. Jenseitsvorstellungen). Ein zentraler Text in diesem Zusammenhang ist das Ōjō yōshū [Ōjō yōshū (jap.) 往生要集 „Essentielle [Lehren] der Wiederbgeburt“, 985 von Genshin verfasst] („Essentielle [Lehren] der Wiedergeburt“, 985 verfasst von Genshin [Genshin (jap.) 源信 Tendai-Mönch (942–1017); auch bekannt als Eshin; Autor des Ōjō yōshū; Wegbereiter der Jōdo-shū]), ein Traktat über die buddhistischen Wiedergeburtsvorstellungen, in dem vor allem die Hölle in sehr anschaulichen, sprich brutalen, Bildern geschildert wird. Der Höllenglaube ging Hand in Hand mit Entwicklungen in China, wo es ab der Tang [Tang (chin.) 唐 chin. Herrschaftsdynastie, 618–907]-Zeit (618–907) zur Ausgestaltung der Figur des Höllenfürsten Enma [Enma (jap.) 閻魔 skt. Yama; König oder Richter der Unterwelt; auch Enra; meist als Enma-ten oder Enma-ō angesprochen] (skt. Yama [Yama (skt.) यमराज Gottheit der Unterwelt und des Todes (jap. Enma 閻魔)], chin. Yanlou [Yanlou (chin.) 閻羅 abgeleitet von skt. Yama Raja, König Yama; jap. Enra oder Enma; König oder Richter der Unterwelt]) beziehungsweise der Zehn Richter der Unterwelt kam. In Japan blieb dieser spezifisch chinesische Aspekt des Unterweltglaubens dadurch erhalten, dass Enma und sein Gericht stets in chinesischer Tracht abgebildet wurden.
„Angemessene Mittel“
Eine Grundannahme des Mahayana [Mahāyāna (skt.) महायान „Großes Fahrzeug“, buddhistische Richtung (jap. daijō bukkyō 大乗)]-Buddhismus geht davon aus, dass es je nach Grad der Erleuchtung verschiedene Formen der Wahrnehmung und damit auch der Wahrheit gibt. In einer berühmten Parabel aus dem Lotos Sutra wird dies folgendermaßen illustriert:
Die Parabel vom brennenden Haus
Ein Kaufmann von unermesslichem Reichtum wohnt mit zwanzig kleinen Kindern in einem baufälligen Palast, der nur einen Ausgang besitzt. Eines Tages bricht in dem Palast Feuer aus. Der Kaufmann erkennt die Gefahr, seine Kinder aber nicht. Statt jedem einzelnen die Situation zu erläutern, verspricht er jedem Kind das Spielzeug, das es sich gerade am meisten wünscht, wenn es nur den Palast verlässt. Als am Ende alle Kinder gerettet sind, erhalten sie viel prächtigere Geschenke, als ihnen versprochen wurden.
Lotus Sutra, Kap. 3, „Ein Gleichnis“1
Der reiche Kaufmann und Vater steht für den Buddha, der baufällige Palast für die hiesige Welt, das eine Tor für den Weg des Buddha und die herrlichen Geschenke außerhalb des Palastes für die Freuden des Nirvana [Nirvāṇa (skt.) निर्वाण „Erloschen, ausgelöscht“, Ort der Erlösung von allem Leid, absolutes Jenseits (jap. Nehan 涅槃)]. Die Kinder, also die gewöhnlichen Sterblichen, sind weder in der Lage, sich der Gefahr bewusst zu werden, in der sie sich befinden, noch können sie sich die Schätze vorstellen, die außerhalb des Palastes auf sie warten. Daher muss der Vater sie mit dem locken, was ihnen lieb und vertraut ist.
Das Gleichnis zeigt somit, dass selbst der Buddha [Buddha (skt.) बुद्ध „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)] Täuschungen an seiner Anhängerschaft vornimmt, um sie — gleich den Kindern im brennenden Haus — aus dem Stadium der Verblendung in das Stadium der Erleuchtung zu führen. Der Fachausdruck für diese legitimen Täuschungsmanöver lautet auf Sanskrit upaya [upāya (skt.) उपाय „[geschicktes] Mittel“ (jap. hōben 方便)], jap. hōben [hōben (jap.) 方便 geschicktes Mittel; skt. upāya], wtl. „geschickte“ oder „angemessene Mittel“. Die Vorstellung von der Notwendigkeit angemessener Mittel wurde in der späteren Heian-Zeit dadurch verstärkt, dass man glaubte, bereits in eine Phase des spirituellen Niedergangs, in die „Endzeit des Gesetzes“ (mappō [mappō (jap.) 末法 Endzeit des Dharma]) eingetreten zu sein, in der die ursprüngliche Lehre des Buddha nicht mehr verständlich sei.
Endzeit-Denken (mappō)
Das für den Buddhismus der Heian-Zeit typische Endzeitdenken beruhte auf dem Dogma der stufenweisen Verwässerung der buddhistischen Lehre, die mit naturgesetzlicher Konsequenz voranschreiten würde. Es gab in diesem Zusammenhang ein sehr konkretes Dreistufen-Modell:
- das „Wahre Gesetz“ (shōbō [shōbō (jap.) 正法 Zeit des wahren Dharma]), die Zeit, in der die Lehre Buddhas noch ganz in seinem Sinne verstanden wird. Sie dauert 500 Jahre, nach manchen Vorstellungen auch 1000 Jahre lang an.
- das „Imitierte Gesetz“ (zōbō [zōbō (jap.) 像法 Zeit des imitierten Dharma; buddhistisches Konzept]), weitere 500 oder 1000 Jahre, in denen die Lehre Buddhas nur dem Wortlaut nach, aber nicht in ihrer Essenz verstanden wird.
- die „Endzeit des Gesetzes“ (mappō [mappō (jap.) 末法 Endzeit des Dharma]), die folgenden 10.000 Jahre, in denen die Lehre des Buddha nicht mehr verstanden wird.
Viele Heian-zeitliche Buddhisten fühlten sich bereits in der Endzeit, die selbst optimistischen Einschätzungen zu Folge mit dem Jahr 1052 erreicht war.
Der mappō-Gedanke brachte aber nicht nur Pessimismus und depressive Lethargie mit sich, wie es manchmal in der Sekundärliteratur dargestellt wird. Er wurde von vielen Mönchen auch als Legitimation und Anreiz angesehen, um neue Strategien (= angemessene Mittel) zur Erlangung des Seelenheils zu propagieren, die zu Zeiten des historischen Buddha noch nicht adäquat gewesen waren. Das Argument dabei: Wie kann das, was Buddha einst predigte, heute noch gültig sein, wenn niemand mehr sein lebendiges Beispiel vor Augen hat, und wenn seine Lehre von niemandem mehr verstanden wird? Der mappō-Gedanke war somit in erster Linie eine Rechtfertigung, um den historischen Wandel des Buddhismus und die Abkehr von orthodoxen Traditionen zu legitimieren, ohne den Buddhismus als Ganzes abzulehnen.
Die wichtigste Neuerung, die mit der Betonung der End-Zeit einherging, war der Glaube an die Errettung in Amidas [Amida (jap.) 阿弥陀 Buddha Amitabha; Hauptbuddha der Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū bzw. Jōdo Shinshū)] Paradies (gokuraku [gokuraku (jap.) 極楽 wtl. höchstes Glück; Paradies; identisch mit dem Reinen Land (jōdo)]) bzw. Reines Land (jōdo [jōdo (jap.) 浄土 Reines Land, buddhistisches Paradies; auch gokuraku, Sukhavati]). Diese Vorstellung wurde zunächst vor allem vom Tendai [Tendai-shū (jap.) 天台宗 Tendai-Schule, chin. Tiantai]-Buddhismus propagiert, bevor sie — ab dem Mittelalter — die Form einer eigenen Sekte/Schule annahm (s. Amidismus). Das Hauptargument dieser Richtung war, dass man in der Endzeit nicht mehr aus eigener Kraft (jiriki [jiriki (jap.) 自力 wtl. eigene Kraft; buddhistisches Konzept]) zur Erleuchtung gelangen könne, sondern nur durch gläubiges Vertrauen in Amidas „andere Kraft“ (tariki [tariki (jap.) 他力 andere Kraft (helfende Kraft Amidas)]).
Ein weiteres Beispiel, was man sich unter den angemessenen Mitteln vorstellte, ist die Auffassung, dass sich Buddhas in Japan in Form von einheimischen Gottheiten offenbaren, um so besser und unmittelbarer verstanden zu werden. Auf diese Konzeption wird unter dem Stichwort honji suijaku [honji suijaku (jap.) 本地垂迹 wtl. Grundform und herabgelassene Spur; Theorie der Identität von kami und Buddhas] noch genauer eingegangen.
„Schule“ oder „Sekte“?
Im Japanischen gibt es den Begriff shūha [shūha (jap.) 宗派 rel. Schule oder Sekte, Glaubensgemeinschaft] (nach Eigennamen meist zu -shū [-shū (jap.) 宗 rel. Schule, Richtung, Sekte] verkürzt: Tendai-shū, Shingon-shū, Jōdo-shū, ...), der in der westlichen Fachliteratur unterschiedlich, entweder mit „Sekte“ (sect) oder „Schule“ (school) übersetzt wird. Der Begriff „Sekte“ verschwindet allerdings langsam aus der Fachliteratur, nachdem berechtigt darauf hingewiesen wurde, dass „Sekte“ im christlich-europäischen Kontext einen ausgesprochen pejorativen Beigeschmack hat (nämlich als Bezeichnung für unorthodoxe Abspaltungen von der offiziellen Amtskirche). Auf Japan übertragen hieße das, dass der gesamte japanische Buddhismus lediglich eine Ansammlung unorthodoxer Abspaltungen darstellt, was mit dem Begriff shūha zweifellos nicht gemeint ist. Andererseits lässt „Schule“ eher an theoretische theologische Unterschiede denken, weniger an institutionelle Trennungen. Es fragt sich also, was für Unterschiede eigentlich zwischen den einzelnen japanischen shūha bestehen.
Der Buddhismus der Nara [Nara (jap.) 奈良 Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō]-Zeit wird oft durch die Schlagworte „Sechs Schulen“ und „Sieben Große Tempeln“ umrissen. Es bildeten sich nämlich Sechs Richtungen heraus, die ihre Zentren in sieben Tempeln hatten, wobei keinesfalls nur jeweils eine Richtung in einem Tempel vertreten war. Der Begriff -shū [-shū (jap.) 宗 rel. Schule, Richtung, Sekte] wurde damals im übrigen oft mit dem gleichlautenden Zeichen 衆 geschrieben, was soviel wie „Gruppe“ bedeutet. Die Sechs Schulen waren also Experten-Runden oder Studien-Gruppen, die sich jeweils besonders mit einem bestimmten Text oder einer Gruppe von Texten befassten. In jedem der großen Tempel wurden mehrere der von den Sechs Schulen diskutierten Themen angeschnitten. Es herrschte also nicht — wie in der späteren Entwicklung — das Prinzip, dass jeder Tempel einer bestimmten Richtung zuzuordnen war. Insofern sind die Sechs Nara-Schulen organisatorisch gesehen eher als eine einzige Richtung mit konkurrierenden Zentren aufzufassen und werden daher zumeist auch als Einheit behandelt.
In der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit entwickelte sich vor allem die Tendai-shū zu einer institutionell völlig vom Nara-Buddhismus unabhängigen religiösen Körperschaft und trat mit diesem immer mehr in Konkurrenz. Sie spaltete sich also vom Hauptstrom des damaligen Buddhismus ab und kann zumindest in ihrer Frühzeit sehr wohl als „Sekte“ im engeren Wortsinn angesehen werden. Gegen Ende der Heian-Zeit war der Tendai-Buddhismus allerdings bereits so einflussreich, dass der Begriff „Sekte“ (im Sinn von Abspaltung) nicht mehr wirklich passend erscheint.
In der folgenden Kamakura [Kamakura (jap.) 鎌倉 Stadt im Süden der Kantō Ebene, Sitz des Minamoto Shōgunats 1185–1333 (= Kamakura-Zeit)]-Zeit kam es innerhalb des Tendai-Buddhismus wiederum zu Abspaltungen, die einen signifikant „sektiererischen“ Charakter hatten. Aber auch diese Richtungen, beispielsweise Jōdo-shū [Jōdo-shū (jap.) 浄土宗 Schule des Amida-Buddhismus], entwickelten sich mit der Zeit zum Mainstream Buddhismus und haben ihre einstigen radikalen Züge längst abgelegt. Ob also „Sekte“, „Schule“, „Richtung“ oder ein anderes Wort als adäquate Übersetzung von shūha erscheint oder nicht, ändert sich mit dem historischen Kontext. Eine historisch und sprachlich konsistente Übersetzung von shūha ist daher meines Erachtens kaum möglich und wird daher auf diesen Seiten gar nicht versucht.
Wichtig ist jedoch, sich vor Augen zu halten, dass es sehr wohl markante Unterschiede zwischen den einzelnen Sekten oder Schulen gab, die heute allerdings weitgehend verloren gegangen sind. Das verhältnismäßig homogene Erscheinungsbild des japanischen Buddhismus ist ein Phänomen der frühen Neuzeit (1600-1868, siehe terauke-System). In der Heian-Zeit und im japanischen Mittelalter existierten nicht nur ausgeprägte Unterschiede zwischen den einzelnen Richtungen, es gab auch Interessensgegensätze zwischen verschiedenen Klöstern, die zu handfesten, mitunter kriegerischen Auseinandersetzungen führten. Diese Kämpfe, die an Aggressivität den europäischen Glaubenskriegen kaum nachstanden, vollzogen sich daher nicht notwendig entlang konfessioneller Grenzen sondern zwischen Netzwerken von Klöstern, die wiederum unterschiedlichen Richtungen angehören konnten.
Klerikale Verweltlichung und ihre Kritik
Wie in anderen Religionen führte der Erfolg des Buddhismus auch in China und Japan zu einer Vermischung von Politik und Religion, die — ähnlich wie im Christentum — theoretisch im Widerspruch zu den buddhistischen Idealen der Besitzlosigkeit und Weltabkehr stand. Mächtige Adelsfamilien schickten jüngere Söhne und Töchter in die Klöster, vermochten es, ihnen dort die höchsten Ämter zu verschaffen, und trieben so mit Hilfe der Klöster Familienpolitik. Klöster entwickelten sich zu eigenständigen Großgrundbesitzern, die ihre Besitztümer mit Waffengewalt verteidigten, während sie aufgrund ihres religiösen Status von der allgemeinen Steuerpflicht ausgenommen waren. In China führten diese Entwicklungen zu einer plötzlichen Wende in der Buddhismus-freundlichen Politik der Tang [Tang (chin.) 唐 chin. Herrschaftsdynastie, 618–907]-Zeit: 845 kam es zu einer großangelegten Verfolgung von Buddhisten durch den Staat, der für viele Traditionen, etwa den esoterischen Buddhismus, das Ende bedeutete.
In Japan kam es trotz gelegentlicher Kritik am Klerus nie zu derartigen politischen Repressionen. Ähnlich wie im Christentum formierten sich hier die Gegenbewegungen innerhalb des Buddhismus selbst.
Insbesondere der Buddhismus vom Reinen Land, der sich im Mittelalter zu voller Blüte entfalten sollte, war zumindest anfangs von einer Rückkehr zum buddhistischen Armutsideal beseelt. In der Heian-Zeit finden sich außerdem individuelle Asketen, die den klerikalen Luxus, der in der Heian-Zeit sowohl für die Nara-Schulen als auch für Tendai und Shingon charakteristisch war, aggressiv anprangerten. Zu diesen zählt unter anderem der Tendai-Mönch Zōga [Zōga (jap.) 増賀 917–1003; Mönch der Tendai-Schule]. Seine kompromisslose Strenge vereint sich mit schrankenloser Provokation, die auch vor Obszönitäten nicht Halt macht. Damit erscheint Zōga als eine Art Pionier mancher späterer Zen [Zen (jap.) 禅 chin. Chan, wtl. Meditation; Zen Buddhismus]-Mönche (mehr dazu auf der Sidepage Zōga). Auch in der Kunst entsteht mit der Figur des rakan [rakan (jap.) 羅漢 buddhistische Heilsgestalt; Skt. Arhat (oder arhant); eigentlich: arakan] (siehe Kap. Arhats) ein Vorbild für ein Asketentum, das aggressiv-gesellschaftskritische Züge nicht ausschließt.
Verweise
Fußnoten
- ↑ Zusammengefasst nach Deeg 2009, S. 77–83.
Literatur
Bilder
- ^ Auf dieser historischen Karte Kyōtos sind die religiösen Anlagen durch rote Unterstreichungen hervorgehoben und teilweise durch kleine Graphiken repräsentiert. Daran erkennt man, dass die Stadt von einem Ring aus Tempeln und Schreinen umgeben ist. Auch verhältnismäßig weit entfernte religiöse Anlagen sind verzeichnet. Die Karte muss wie ein Froschaugenbild gelesen werden, an dessen Rand sich die Abstände extrem verkürzen. Die Proportionen innerhalb des Stadtgebiets sind dagegen realistisch.
Werk von Hayashi Yoshinaga. Edo-Zeit. David Rumsey Map Collection. - ^ Gerichtshof des Königs der Totenwelt, Enma (chin. Yanlou).
Im Hintergrund Enma und zwei weitere Richter, im Vordergrund der Urteilsverkünder und der Schreiber.
13. Jh. Kyōto National Museum.
- ^ Der Mönch Zōga zeigt seine Verachtung gegenüber weltlichem Reichtum und Prunk, indem er an der Ehrung seines eigenen Lehrers Ryōgen (des Mönchs im Ochsenkarren) in zerschlissener Alltagskleidung teilnimmt. Die Illustration entstammt einer Edo-zeitlichen Querbildrolle des Tanzan Schreins, des geistigen Zentrums von Tōnomine, wo Zōga tätig war.
Werk von Kanō Einō (1631–1697). Edo-Zeit. Nara Women's University.
Glossar
- honji suijaku 本地垂迹 ^ wtl. Grundform und herabgelassene Spur; Theorie der Identität von kami und Buddhas
- Konjaku monogatari 今昔物語 ^ „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext
- Nihon ryōiki 日本霊異記 ^ „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)
- Shingon-shū 真言宗 ^ Shingon-Schule, wtl. Schule des Wahren Wortes; wichtigste Vertreterin des esoterischen Buddhismus (mikkyō) in Japan
Religion in Japan, Inhalt
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Dämonen
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Terauke-System
- Neo-Konfuzianismus
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- Moderne und Gegenwart:
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- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
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- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
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„Die Reformen der Heian-Zeit.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001