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Phallus-Kulte in Fruchtbarkeitsriten, Volksbräuchen und Shunga

In früherer Zeit waren Phallus-Kulte und Riten mit offenkundig sexuellen Anspielungen offenbar ein häufiges Phänomen in Japan. Besonders zu Frühlingsbeginn, vor dem Auspflanzen oder Säen, wurden Zeremonien und Tänze abgehalten, in denen die Bitten um ein reiches Erntejahr (Glossar:Hounen2) durch die Verehrung überdimensionaler männlicher oder weiblicher Geschlechtsorgane sowie durch rituell angedeutete Geschlechtsakte ausgedrückt wurden. Der Einfluss Europas führte im 19. Jh. jedoch zu einem Rückgang solcher Fruchtbarkeitsriten. Einer der Väter der westlichen Japanforschung, W. G. Aston, schrieb im Jahr 1896:

Besonders vor der Revolution 1868 sind wohl allen Reisenden in Japan die zahlreichen Hinweise auf einen Phallus-Kult aufgefallen. In den letzten Jahren hat sich die Regierung zwar nach Kräften bemüht, diese besonders derbe Form der Naturverehrung zu unterdrücken, doch exisistiert sie nach wie vor an abgelegenen Orten [...].

Ich selbst war einmal Zeuge eines phallischen Umzugs in einer Ortschaft ein paar Meilen nördlich von Tokyo. Ein Phallus von mehreren Fuß Länge, in grellem Scharlachrot bemalt, wurde da auf einer Art Bahre von johlenden, lachenden Kulis mit erhitzten Gesichtern in abrupten Zickzack-Bewegungen von einer Seite der Straße zur anderen schlingernd einhergetragen.

Zitiert aus Astons Nihongi (Teil 1, S. 11-12), Ü: B. Scheid

phallus

Sichtlich angeheiterte Mitglieder der Schreingemeinde des Tagata Schreins tragen den Verehrungsgegenstand ihres Schreinfestes, einen 2,5m langen, 400kg schweren Phallus, auf ihren Schultern...

phallus2

... weibliche Mitglieder tragen verkleinerte Abbilder hinterher.
Bilder: Peter Thoeny 1998 (2006/1)

Astons Beschreibung passt ziemlich genau auf das Fruchtbarkeitsfest (hōnen matsuri 豊年祭) des Tagata Schreins im Raum Nagoya, welches heute zu den bekanntesten seiner Art zählt. Obwohl derartige Umzüge, wie Aston andeutet, den Anschein einer besonders archaischen Form von Naturverehrung tragen, ist es auch möglich, dass Phalluskulte und religiöse Zeremonien sexuellen Inhalts gerade in der unruhigen Zeit des frühen 19. Jh.s einen besonderen Aufschwung erfuhren. Jedenfalls erfreuten sich in dieser Zeit die sogenannten Shunga („Frühlingsbilder“), Pornographien mit grotesk überproportionalen Genitaldarstellungen, besonderer Beliebtheit. Die phantisievollsten Meister des Shunga-Genres schufen vereinzelt sogar Bilder von Fruchtbarkeitsgöttern, die wiederum die Form von Genitalien haben und von Fruchtbarkeitsriten inspiriert zu sein scheinen.

Auf dieser Seite folgen zum einen Beispiele für Fruchtbarkeitskulte und phallische Bräuche, die heute noch in Japan zu finden sind, zum anderen Shunga Motive mit Bezügen zur japanischen Götter- und Sagenwelt. Ob zwischen den beiden Phänomenen eine nähere Beziehung besteht, sei vorläufig dahin gestellt, fest steht, dass beide eine erstaunliche hohe Toleranz gegenüber sexuell konnotierten Themen in der religiösen Landschaft des vormodernen (und bis zu einem gewissen Grad auch des heutigen) Japan belegen.

Phallus- und Fruchtbarkeits-Kulte

Tagata und Ōagata Jinja

Der bereits erwähnte Tagata Schrein im Norden Nagoyas, der jährlich Mitte März einen Phallus-Umzug veranstaltet, besitzt ein Gegenstück im nahe gelegenen Ōagata Schrein, wo zur gleichen Zeit ein riesiger Reiskuchen (mochi) umhergetragen wird. Der Reiskuchen ähnelt entfernt einem weiblichen Geschlechtsorgan. Im Ōagata Schrein befinden sich außerdem mehrere Vagina-artige Steine, während der Tagata Schrein Phallus-artige Steine aufbewahrt. Beide Schreine sind bereits in den Engishiki, einem Dokument aus dem 10. Jh. erwähnt, ob damals aber schon ein Fruchtbarkeitskult vorhanden war, ist nicht bekannt.

Inyoseki tagata.jpg Himeishi oagata.jpgTagata banner.jpg Himenomiya.jpg

Steine und Festival-Banner des Tagata (li.) und des Ōagata Schreins (re.).

Tenteko Matsuri

Beim Tenteko Matsuri in Nishio-shi, ebenfalls im Großraum Nagoya, binden sich Männer Phallusattrappen ans Gesäß und vollführen damit suggestive Auf- und Ab-Bewegungen.

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Sechs rot gekleidete, vermummte Männer stehen im Mittelpunkt des Umzugs.

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Die Phallusattrappen sind aus Rettichen geschnitzt und so konstruiert, dass sie auf- und abwippen können.
Bilder: Okada Y. 2008 (2008/11)

Kanamara Matsuri

In Kawasaki südlich von Tokyo gibt es den Kanamara Schrein, der ehemals von Prostituierten zum Schutz vor Geschlechtskrankheiten aufgesucht wurde. Er leitet seinen Ursprung von einer Sage her, in der ein Dämon mithilfe eines Eisenpenis (kanamara) aus der Vagina eines Mädchens ausgetrieben wird. In den letzten Jahren hat sich daraus ein

matsuri(jap.)

religiöses (Volks-)Fest

Ritus

Der Begriff „matsuri“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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im Stil einer Love-Parade entwickelt, bei dem der Verehrungsgegenstand von Transvestiten getragen wird. Der Schrein hat sich zudem der Bekämpfung von Aids verschrieben (s. auch das Beispiel eines Votivtäfelchens, ema).

Phallus matsuri kanamara.jpg

Bild und weitere Informationen: Greggman (2006/1)

Yin Yang Steine

Wie schon an den obigen Beispielen erkennbar, gehen Fruchtbarkeitskulte oft von Steinen aus, die die Natur mit suggestiven Formen ausgestattet hat. Solche Steine oder Felsen nennt man vielsagend "Yin Yang Steine" (inyō-seki). Sie werden meist mit einem

shimenawa 注連縄 (jap.)

shintōistisches „Götter-Seil“; geschlagene Taue aus Reisstroh.

Gegenstand

Der Begriff „shimenawa“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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als heiliges Objekt gekennzeichnet oder in einen kleinen Schrein gestellt. Bei solchen Kultstätten soll ehemals um Kindersegen, leichte Geburt oder Genesung von Kinder- und Frauenkrankheiten gebetet worden sein. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist in der Region Miyazaki, Kyushu zu besichtigen:

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Bild: Photo Miyazaki, Morimori (2006/2)

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Es berdarf tatsächlich nicht allzu großer Phantasie, um hier ein männliches und ein weibliches Geschlechtsorgan im Felsen zu erkennen.

Mara Kannon

In der etwas abgelegenen Präfektur Yamaguchi (W-Honshū) gibt es einen buddhistischen Tempel mit dem seltsamen Namen Mara Kannon (Mara ist ein Dämon des Bösen im Buddhismus, aber auch ein Wort für "Penis",

Kannon 観音 (jap.)

auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt

Buddha

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ist der Bodhisattva des Mitgefühls). Der Tempel behauptet von sich, führend auf dem Gebiet des Phallus-Kultes zu sein:

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Eindrücke des Mara-Kannon Tempels in Yamaguchi
Mehr dazu: Chindera Dai-Dōjō (2007/5)

Konsei-sama

Reste ähnlicher Phalluskulte lassen sich schließlich auch in Nordjapan finden. In der Stadt Tōno, Präfektur Akita, die schon für den Pionier der japanischen Volkskunde Yanagida Kunio eine Fundgrube an religiösen Volksbräuchen darstellte, wird in mehreren Schreinen eine Gottheit namens Konsei-sama verehrt, die als Phallus gedacht wird. Oft handelt es sich um natürliche Steinformationen, die an Phalli manchmal aber auch an eine Vulva erinnern.

Konseisama.jpg

Hauptheiligtum des Konsei-Schreins in Yamasaki, Tōno-shi, Akita-ken
Bild und weitere Informationen: Okada Kenji 2008 (2008/11)

Yama no kami

In ländlichen Gegenden werden häufig anonyme Berggottheiten (yama no kami) verehrt. Das Beispiel unten zeigt einen etwas vernachlässigten Seitenschrein des Yaegaki Jinja in Matsue, Präfektur Shimane (die Gegend des

Izumo Taisha 出雲大社 (jap.)

Großschrein von Izumo (Präfektur Shimane)

Schrein

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Geographische Lage

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Geographische Lage von Izumo Taisha; s.a. Geo-Glossar

), der einer anonymen Berggottheit gewidmet ist. Bergottheiten sind in Japan grundsätzlich weiblich, werden aber, wie man sieht, ggf. auch mit Phalluskulten bedacht.

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Yama-no-kami Jinja, Matsue, Shimane-ken.
Bildquelle unbekannt. Information: Inyōseki Kenkyūkai (2009/9)

Wegegötter

Ähnlich den sogenannten „Marterln“ im alpinen Raum gibt es in ländlichen Gegenden Japans immer wieder einfache Steinskulpturen, die zur Kennzeichnung von Wegen und Kreuzungen dienen oder den Rand eines Dorfes bewachen. Diese Statuen werden im allgemeinen dōsojin 道祖神 („Ahnengötter der Wege“) oder „Wegegötter“ genannt. Bisweilen besitzen sie eine phallische Form ähnlich den oben angeführten Beispielen. In vielen Fällen wird aber auch ein menschliches Paar dargestellt, manchmal in zärtlicher, manchmal in intimer Umarmung. In diesen Fällen spricht man auch von wagōjin 和合神, Göttern der (ehelichen) Harmonie. Ursprung und Geschichte dieser Wegegötter liegen weitgehend im Dunklen, es scheint sie aber bereits sehr lange zu geben. Rezente Beispiele stammen zumeist aus der Edo-Zeit. Viele Autoren vermuten sehen den Ursprung der Wegegötter in einem ursprünglichen Phalluskult, angesichts der Vielzahl der dargestellten Motive, zu denen auch buddhistische Gottheiten zählen, erscheint mir diese Annahme jedoch fraglich. Zweifellos gibt es aber eine große Gruppe von Wegegöttern mit offenen oder angedeuteten sexuellen Konnotationen.

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Weggötter aus dem Raum Miyazaki, Kyushu.
Der umgebende Stein ist hier deutlich in phallischer Form gehalten.
Bildquelle: Photo Miyazaki, Morimori (2009/8)

Weggötter in intimer Umarmung
Beispiel aus der Präfektur Gifu, Kurabuchi-mura.
Bildquelle: Kurabuchi no dōsojin (2009/8)

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Weggötter mit Sakeschalen,
ein Symbol ehelicher Verbundenheit
Präfektur Gifu, Shimosuwa Jinja, Datierung: 1788.
Bildquelle: Kurabuchi no dōsojin (2009/8)

Weggötter aus dem Raum Fujinomiya, Präfektur Shizuoka, unweit des Fuji-san. Datierung 1801.
Dieses Paar ist von einer charakteristischen Blütenform umrahmt, die als Vulva gedeutet werden kann.
Bildquelle: Kaze ni fukarete (2009/8)

Shunga

Die besondere Faszination an den menschlichen Geschlechtsorganen, die in der japanischen Volkreligion kaum tabuisiert wird, findet sich auch in den Edo-zeitlichen Shunga („Frühlingsbilder“) wieder. Beides, Phalluskulte und erotische Bilder kennt man natürlich auch aus anderen vormodernen Kulturen, es scheint jedoch in der Edo-Zeit zu einem besonderen Boom auf beiden Gebieten gekommen zu sein, der sich auch in der Literatur dieser Zeit (unter anderem in Werken von Ihara Saikaku, etwa Kōshoku ichidai otoko ["Der größte Liebhaber", 1682] oder Nanshoku ōkagami ["Spiegel der männlichen Liebe", 1687]) erkennen lässt. Fast alle bekannten Ukiyoe-Meister übten sich in der Anfertigung von Frühlingsbildern. Meist beschränkten sie sich dabei auf die Darstellung kopulierender Paare, deren primäre Geschlechtsmerkmale grotesk vergrößert sind. Manche Meister suchten aber nach etwas ausgefalleneren Motiven. Darunter befanden sich auch die „Götter der ehelichen Harmonie“, oder andere an die Wegegötter erinnernde Figuren, die von den Ukiyoe-Meistern auf bizarre Genitalien reduziert wurden. Ihre Inspiration holten sich diese Werke zweifellos aus der Volkreligion.

Religion in JapanAlltag
Diese Seite:

„Phallus-Kulte: Fruchtbarkeitsriten, Volksbräuche und shunga.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001