Unterhändler des Imaginären Regenmachen im vormodernen Japan
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Auf einer Klippe über dem Meer hat sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Alle Aufmerksamkeit ist auf einen Mönch in rotem Gewand gerichtet, der sich mit geschlossenen Augen auf sein Gebet konzentriert. Heftiger Regen hat eingesetzt und ein Diener schützt den Betenden mit einem großen Schirm. Alle Umstehenden scheinen in großer Erregung. Der Regen legt sich wie ein Vorhang aus schwarzen Schnüren vor die dargestellte Szene. Lediglich das Gesicht des betenden Mönchs bleibt ausgespart – ein heller Ruhepol inmitten der entfesselten Elemente.1
Werk von Utagawa Kuniyoshi (1797–1861). Edo-Zeit. The British Museum.
Der hier beschriebene Farbholzschnitt von Utagawa Kuniyoshi [Utagawa Kuniyoshi (jap.) 歌川国芳 1798–1861; Maler und Zeichner. Bekannter Verteter des ukiyo-e-Farbholzschnitts] stellt eine Szene dar, die zu den legendären Wundertaten des berühmten Mönchs Nichiren [Nichiren (jap.) 日蓮 1222–1282; Begründer des Nichiren Buddhismus] (1222–1282) zählt: Nach einer langen Dürreperiode im Sommer 1271 gelang es Nichiren durch seine Gebete Regen zu erwirken. Kuniyoshis Holzschnitt zeigt den Moment, als diese Gebete in Form eines plötzlichen Wolkenbruchs Früchte tragen. Das Erstaunen der Gruppe um Nichiren ist umso größer, als zuvor bereits hochrangige Spezialisten mit wesentlich aufwendigeren rituellen Prozeduren versucht haben, die Dürre zu beenden. Nichiren genügen jedoch ein einfacher Opfertisch und eine Gebetskette, die er in den gefalteten Händen reibt. Sein Gebet besteht aus nichts anderem als der Anrufung des Lotos Sutras. Es ist, so suggerieren Bild und Legende, vor allem seinem aufrichtigen Glauben an diesen elementaren Text des Mahayana [Mahāyāna (skt.) महायान „Großes Fahrzeug“, buddhistische Richtung (jap. daijō bukkyō 大乗)]-Buddhismus zuzuschreiben, dass die höheren Mächte, die für Regen verantwortlich sind, Nichirens Bitten Gehör schenken.2
Diese Legende macht uns heutige Betrachter auf ein Thema aufmerksam, das bislang nur am Rande in Studien zur japanischen Religion behandelt wurde: Die Kunst des Regenmachens. Derartige magische Praktiken werden leicht als merkwürdiger „Aberglaube“ abgetan und keiner näheren Betrachtung für wert befunden, doch zweifellos war ein Künstler wie Kuniyoshi, der zur Bildungselite seiner Zeit zählte, fest von der Wirkung derartiger Riten überzeugt. Im vorliegenden Essay möchte ich daher anhand eines geschichtlichen Überblicks auf die kontinuierliche, nicht zuletzt politische Bedeutung von Regenriten in Japan aufmerksam machen und zugleich auf die unterschiedlichen rituellen Verfahren und ihre historischen Veränderungen eingehen.
Regenbitte und Regenabwehr
Grundsätzlich gab es zwei komplementäre Wetterriten, nämlich die Bitte um Regen (amagoi [amagoi (jap.) 雨乞い Regenmachen durch rituelles Gebet und Zauber; Regenbitte; s.a. shōu, kiu], kiu [kiu (jap.) 祈雨 Regenbitte; Ritus, um Regen zu erwirken; s.a. amagoi, shōu] 祈雨 oder shōu [shōu (jap.) 請雨 Regenbitte; Ritus, um Regen zu erwirken; s.a. amagoi, kiu] 請雨) und ihr Gegenstück, die Bitte um Sonnenschein (hiyorigoi [hiyorigoi (jap.) 日和乞い Gebet oder Ritus zum Erwirken von Sonnenschein] 日和乞い, himaneki [himaneki (jap.) 日招き wtl. Einladen der Sonne; Gebet um Sonnenschein] 日招き oder shiu [shiu (jap.) 止雨 Regenabwehr; Gebet oder Ritus, um Regen zu beenden; s.a. himaneki, hiyorigoi] 止雨). Das Regenbitten ist dabei in Kunst und Literatur — und auch im vorliegenden Essay — prominenter vertreten als die Regenabwehr, wohl aus dem einfachen Grund, weil bei der Bitte um Regen der Erfolg mit dem plötzlichen Einsetzen von Niederschlag besser im Gedächtnis behalten wird. Umgekehrt ist aber die Bitte um Sonnenschein auch heute noch fester Bestandteil jeder japanischen Kindheit, und zwar in Gestalt des Schönwetter-Mönchleins (teruteru bōzu [teruteru bōzu (jap.) 照る照る坊主 wtl. Schönwetter Mönchlein; Puppe, die Schönwetter bringen soll]), einer einfachen Puppe aus weißem Stoff, bestehend aus Kopf und Körper, die jedes Kind selbst herstellen kann und ans Fenster hängt, wenn es sich für den nächsten Tag schönes Wetter wünscht. Auch gibt es den Ausdruck „Regenmensch“ (ame no hito [ame no hito (jap.) 雨の人 „Regenmensch“; jemand, der immer Schlechtwetter mitbringt]) für Mitschüler oder Freunde, die immer schlechtes Wetter mitbringen, wenn sie an einem Ausflug teilnehmen, und auch das Gegenteil, „Schönwettermensch“ (hare no hito [hare no hito (jap.) 晴れの人 „Schönwettermensch“; jemand, der immer Schönwetter mitbringt]). Diese spielerischen Kinderbräuche stehen in engem Verhältnis zu alten Riten, die bis heute Teil des traditionellen landwirtschaftlichen Brauchtums geblieben sind. Hingegen sind staatlich organisierte Wetterriten heute vollkommen verschwunden oder haben sich bis zur Unkenntlichkeit in den Wetterbericht der öffentlichen Medien transformiert.
Regenriten in der Frühzeit
Es bedarf kaum der Erklärung, dass eine Landwirtschaft wie die japanische, die zum überwiegenden Teil auf die intensive Bewässerung von Reisfeldern, den Nassfeld-Reisbau, abgestimmt ist, in besonderem Maße auf regelmäßige Niederschläge angewiesen ist. Außergewöhnliche Wetterereignisse wie Dürre oder Überschwemmungen bedrohten daher in der vormodernen japanischen Gesellschaft rasch die Existenzgrundlage. Solche Ereignisse wurden zumeist Wassergottheiten zugeschrieben, die man sich als drachen- oder schlangenartige Wesen vorstellte. Eine ungefähre Vorstellung solcher Schlangengottheiten lässt sich bereits in den frühesten Legenden gewinnen, in denen lokale Gottheiten eine Rolle spielen.
Das Hitachi fudoki [Hitachi fudoki (jap.) 常陸風土記 „Aufzeichnungen von Luft und Erde aus Hitachi“; auch Hitachi no kuni fudoki, 713; Chronik kultureller Bräuche der historischen Provinz Hitachi 常陸, heutige Präf. Ibaraki] (eine Lokalchronik, die Anfang des achten Jahrhunderts verfasst wurde) berichtet von einem Provinzverwalter aus der Hauptstadt namens Matachi, der die Provinz im sechsten Jahrhundert für die Landwirtschaft erschloss. Als er nahe einer Bezirksgarnison eine schilfbewachsene Ebene trocken legen ließ, um Reisfelder anzulegen, erschienen die Götter des Tals (yatsu no kami) als gehörnte Schlangen, um sich gegen die Urbarmachung ihres Territoriums zur Wehr zu setzen. Während die Einheimischen vor diesen Schlangen flohen, setzte sich Matachi zur Wehr.
Erzürnt legte Matachi seine Rüstung an, nahm seine Hellebarde und tötete mehrere yatsu no kami. Der Rest zog sich zum Fuß des [nächsten] Berges zurück. Dort schlug Matachi einen Pfosten in den Bewässerungsgraben, um sein Territorium zu markieren. Zu den yatsu no kami sagte er, dass den Göttern das Gebiet oberhalb dieser Grenze gehöre, während das Gebiet darunter für den Reisanbau seiner Leute bestimmt sei. ‚Überschreitet diese Grenze nicht und hegt keinen Groll, denn ich werde euch einen Schrein errichten und dort das Priesteramt vollziehen. Meine Nachkommen werden euch ehrerbietig Opfergaben darbringen.‘ Er errichtete daraufhin einen Schrein und die Verehrung der yatsu no kami setzte sich von Generation zu Generation fort.3
Das Nihon ryōiki [Nihon ryōiki (jap.) 日本霊異記 „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)], eine Quelle aus dem frühen neunten Jahrhundert, berichtet von einem Bauern, der bei Regen auf seinem Feld arbeitete, als er sich unversehens mit einem Donnergott konfrontiert sah. Dieser hatte die Gestalt eines menschlichen Kindes. Als der Bauer Anstalten machte, das Donner-Kind zu erschlagen, bat es um Mitleid und versprach Belohnung. Einige Zeit später wurde dem Bauern ein Sohn geboren, der bei der Geburt eine Schlange auf dem Kopf trug. Später wurde dieser Sohn unglaublich stark und begründete eine adelige Dynastie.4
Schon in diesen frühen Legenden begegnet uns die Vorstellung, dass lokale Gottheiten eine Schlangenform haben oder annehmen können und dass sie mit dem Wasser und/oder mit Gewittern in Verbindung stehen. Darüber hinaus offenbart sich in den genannten Legenden ein zweckrationales Verhältnis zwischen Menschen und kami: Lokale Götter und Menschen befinden sich auf Augenhöhe. Sie haben zwar unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten, können aber auch voneinander profitieren. Es kommt zum Tausch, der jedoch immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Schreine sind Orte, wo sich dieser Tausch vollzieht.
Staatliche Regenriten
Die ersten historisch verlässlichen Erwähnungen von staatlich sanktionierten Regenriten stammen aus dem 7. Jahrhundert, einer Zeit, in der die alten Bräuche nach und nach mit buddhistischen Alternativen konfrontiert wurden.
Im Sommer des ersten Regierungsjahres der Kaiserin Kyōgoku [Kōgyoku Tennō (jap.) 皇極天皇 594–661; weibliche Tennō, r. 642–645; herrschte ein weiteres Mal unter dem Namen Saimei, 655–661] (642) herrschte eine außergewöhnliche Dürre. In dieser Situation kamen die Minister des Hofes unter Führung des Soga no Emishi [Soga no Emishi (jap.) 蘇我蝦夷 587–645; Staatsmann (oberster Minister) in der Asuka-Zeit] (587–645) überein, dass man sich nicht mehr auf die Blutopfer von Pferden und Rindern der Dorfpriester (hafuri 祝部) verlassen sollte. Stattdessen sollten buddhistische Sutren öffentlich rezitiert werden. Allerdings blieb auch diese Maßnahme ohne Wirkung. Schlussendlich vollzog die Kaiserin in eigener Person einen Regenritus, der Erfolg hatte.5
In diesem kurzen Bericht begegnen uns drei alternative Regenrituale: Blutopfer durch lokale Priester, buddhistische Sutrenlesungen und ein Bittritus unbekannter Art, der vom Herrscher beziehungsweise der Herrscherin selbst vorgenommen wird. Man gewinnt den Eindruck, dass pro-buddhistische Kreise wie die Familie der Soga in dieser Zeit zwar nach Alternativen zu althergebrachten Formen des Regenmachens suchten, jedoch keine überzeugenden Mittel zur Hand hatten, sodass neben lokalen (möglicherweise schamanistischen) Opferriten auch die Riten eines sakralen Königtums, das das vorbuddhistische Japan gekennzeichnet hatte, zum Einsatz kamen.
Erst vier Jahrzehnte später stoßen wir in den Chroniken auf einen ausgewiesenen buddhistischen Experten des Regenmachens, ein Mönch namens Dōzō [Dōzō (jap.) 道蔵 koreanischer Mönch aus Baekje, spätes 6. Jh.; im Nihon shoki als Experte des Regenmachens erwähnt] 道蔵 aus Baekje (Korea), der am Hof des Kaisers Tenmu [Tenmu Tennō (jap.) 天武天皇 631?–686; 40. japanischer Kaiser; (r. 673–686)] beziehungsweise der Kaiserin Jitō [Jitō Tennō (jap.) 持統天皇 645–703, r. 686–697; 41. japanische Kaiserin] erfolgreiche Regenrituale durchführte.6
In der folgenden Nara- und Heian-Zeit (710–794, 794–1185) gewann der Buddhismus – von kleineren Rückschlägen abgesehen – kontinuierlich an Einfluss. Es wäre daher anzunehmen, dass sich buddhistische Regenriten schon damals allgemein durchsetzten, doch gerade auf diesem Gebiet kam den einheimischen Gottheiten bis Mitte der Heian-Zeit nach wie vor große Bedeutung zu. Rund um die jeweiligen Hauptstädte (Nara [Nara (jap.) 奈良 Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō] und später Heian-kyō [Heian-kyō (jap.) 平安京 urspr. Name der Stadt Kyōto; wtl. Stadt des Friedens; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]/Kyoto) begann sich ein ganzes Netzwerk von kami-Kultstätten zu bilden, an denen regelmäßig Regenriten abgehalten wurden.7 Der kaiserliche Hof erließ dabei immer detailliertere Verordnungen, wie man sich durch besondere Opfergaben günstiger Wetterbedingungen zu versichern habe. Zwei Schreine galten in dieser Hinsicht als besonders einflussreich: der Kifune [[[glossar:kifune|]] () ]貴船-Schrein im Bergland nördlich von Kyoto und der Niukawakami [[[glossar:niukawakami|]] () ] 丹生川上-Schrein südöstlich der Nara-Region. Diese beiden Schreine, die jeweils Wasser- oder Gewittergöttern geweiht waren, markierten in etwa die Nord-Süd-Achse durch die damaligen japanischen Kernprovinzen. Ihnen sollte jedes Jahr – gleichsam prophylaktisch – ein schwarzes Pferd zugeführt werden, außer wenn es zu viel Regen gab. Dann sollte ein weißes Pferd für Wetterbesserung sorgen.8 Was aus den Pferden wurde, ist nicht ganz klar. Meist wurden sie offenbar nicht getötet, sondern gingen als heilige Tiere oder als Nutztiere in den materiellen Besitz der bedachten Institution über. Doch finden sich auch Hinweise auf die im Nihon shoki erwähnte Blutopfer-Praxis. In ihrer Studie zur religiösen Bedeutung des Pferdes berichtet die Mythenforscherin Nelly Naumann [Naumann, Nelly (west.) 1922–2000; deutsche Japanologin und Mythenforscherin] von japanischen Regenriten, bei denen der abgetrennte Kopf eines Pferdes oder Rindes in ein Gewässer geworfen wurde. Manches spricht dafür, dass damit ein ritueller Tabubruch begangen wurde, um die Gottheit zu reizen und so Regen herbeizuführen. Unter buddhistischem Einfluss wurden solche Blutopfer mit der Zeit aber durch Statuen oder Bilder substituiert.9
Buddhistische Riten für Schlangen und Drachen
Die frühesten dokumentierten Regenriten des Buddhismus finden sich in einem Bericht des chinesischen Pilgermönchs Faxian [Faxian (chin.) 法顯 früher chin. Pilgermönch (337?–422?), Autor eines Reiseberichts] (337–422).10 Darüber hinaus gibt es kanonische Texte zum Regenmachen wie etwa das Große Wolken-Sutra (Mahāmegha sūtra, chin. Dayun jing [Dayun jing (chin.) 大雲經 Großes Wolken-Sutra; skt. Mahāmegha sūtra, jap. Daiun-kyō; die früheste Übersetzung ins Chinesische wurde von Dharmakṣema zwischen 414 and 421 angefertigt (DDB, s.v. Dafangdeng wuxiang jing 大方等無想經)] 大雲經, 大方等無想經), das im fünften Jahrhundert ins Chinesische übersetzt und später auch in Japan im Kontext des Regenmachens benutzt wurde.11 Aus diesem Text geht klar hervor, dass man auch im indischen Buddhismus der Meinung war, Schlangen beziehungsweise Schlangengötter (naga [nāga (skt.) नाग „Schlange, Kobra“, indische Schlangengottheit (jap. naka 那伽)]s) würden über den Regen gebieten. Das Sutra enthält unter anderem magische Formeln (dharani [dhāraṇī (skt.) धारणी (magische) Gebetsformel, ähnlich wie, aber meist länger als Mantra (jap. darani 陀羅尼 oder ju 呪)]), die an die nāgas zu richten sind, um Regen zu erbitten.12
Nāgas stellen in Indien eine eigene Kategorie von Dämonen dar, die sowohl die Gestalt von Menschen als auch die von Schlangen annehmen können. In der buddhistischen Mythologie ist zum Beispiel von einem nāga-König Mucilinda [Mucilinda (skt.) मुचिलिन्द Name eines Drachens, der Buddha Shakyamuni während seiner Meditation vor Regen schützte] die Rede, der den historischen Buddha [Buddha (skt.) बुद्ध „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)] während seiner Meditation unter dem bodhi [bodhi (skt.) बोधि „Erwachen, Erleuchtung“ (jap. bodai 菩提)]-Baum in Bodhgaya [Bodhgayā (skt.) बोध्गया „Ort der Erleuchtung“, Ort, an dem Buddha seine Erleuchtungserfahrung hatte (jap. Buddagaya 仏陀伽邪)] sieben Tage lang vor Wind und Regen schützte. Ähnliche Schlangenwesen existierten auch in China, wo der mythologische Kaiser Fuxi und seine Frau Nüwa als Schlangenmenschen aufgefasst wurden. Fast immer besteht auch eine enge Beziehung zum Wasser und zum Regen. Indo-buddhistische Regenriten ließen sich daher ohne größere Schwierigkeiten in einen ostasiatischen Kontext übertragen. Drachen
Schlangen, die zu Gottheiten erhöht wurden, erhielten in Ostasien zumeist das Aussehen eines chinesischen Drachens. Der Übergang zwischen der realen Schlange und dem imaginären Drachen war dabei fließend. Beiden wurde die Fähigkeit zugesprochen, menschliche Gestalt anzunehmen. Zwischen dem chinesischen Drachen als Sinnbild des Kaisers und den indischen nāgas, die aus buddhistischer Sicht eine besondere Kategorie unerleuchteter Wesen darstellen, bestand zwar sicher ursprünglich ein wesensmäßiger Unterschied, doch kam es in Bild und Legende sowohl in China als auch in Japan zu einer Nivellierung dieser Vorstellungen. Nāga-Könige, die im indo-buddhistischen Kontext oft das Aussehen von Kobras haben, wurden in China als Drachenkönige (longwang, japanisch ryūō [ryūō (jap.) 龍王 Drachenkönig; myth. Figur, meist mit Wasser oder mit dem Meer verbunden]) bezeichnet und entsprechend dargestellt. Auch wurden sie in großen, oft staatlich finanzierten Riten um Regen gebeten.13
Die indische nāga-Folklore gelangte also mit dem Buddhismus über den Umweg der chinesischen Drachen-Konzeption nach Japan und vermischte sich mit lokalen Schlangengöttern. Wie in China verbanden sich auch hier Drachen, Schlangen und Wasser zu einer assoziativen Einheit. Einen Widerhall dieser Vorstellung findet man noch heute in beinahe jedem größeren Tempel oder Schrein, wo unweigerlich ein Brunnen am Eingang zu finden ist, damit sich die Besucher Mund und Hände waschen können. Das Wasser wird dabei oft von einer Drachenfigur aus Metall gespendet.
Buddhistische Regenriten in Japan
Eine der ersten permanenten Kultstätten für buddhistische Regenriten wurde Ende des 8. Jahrhunderts im Tempel Murō-ji 室生寺 nordwestlich von Nara errichtet, wo sich einige eindrucksvolle Grotten befinden. In diesen Grotten wähnte man einen Drachen namens Zennyo Ryūō , den man als eine Wiedergeburt des indischen nāga-Königs Anavatapta aus dem Himalaya identifizierte. Zennyo Ryūō erhielt nun interessanterweise einen Schrein, also ein Gebäude nach dem Muster der kami-Kultstätten, wo aber buddhistische Mönche um Regen beteten. Man dachte sich den Drachenkönig also eher als kami denn als Buddha, was aber buddhistische Regenriten keineswegs ausschloss. Mit dem zunehmenden Erfolg der buddhistischen Regenriten überlagerten die indischen nāga-kami nach und nach die einheimischen Schlangengötter, oder besser, die Schlangengötter vermischten sich bis zur Unkenntlichkeit mit den importierten nagas, ohne ihre vorbuddhistischen Merkmale je ganz zu verlieren.
Verweise
Fußnoten
- ↑ Der vorliegende Artikel ist die überarbeitete Version meines Beitrags für einen Ausstellungskatalog der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, „Die Logik des Regens / Logical Rain“ (Ausstellung 2013–2014) von Wolfgang Scheppe, der allerdings nie veröffentlicht wurde.
- ↑ Kuniyoshis Bild entstammt einer Serie von zehn Illustrationen zu Nichirens Heiligenvita, Kōso goichidai ryakuzu 高祖御一代略図 (Das Leben unseres hohen Ahnen, in Bildern zusammengefasst), die ca. 1835/36 herausgebracht wurde. Das im Kontext der ukiyo-e [ukiyo-e (jap.) 浮世絵 „Bilder der fließenden Welt“, populäre Farbholzschnitte der Edo-Zeit] eher ungewöhnliche Sujet einer religiösen Märtyrerbiografie ist wohl dem Umstand geschuldet, dass sich die Nichiren-Schule unter den Künstlern der Holzschnittkunst und ihrer Klientel, dem städtischen Bürgertum (chōnin oder machishū), einer großen Anhängerschaft erfreute. Auch Katsushika Hokusai [Katsushika Hokusai (jap.) 葛飾北斎 1760–1849; Maler und Zeichner. Bekanntester Verteter des ukiyo-e-Farbholzschnitts] (1760–1849) war ein Anhänger Nichirens und illustrierte einige seiner Wundertaten, während sein Schüler Katsushika Isai 葛飾為斎 (1821–1880) eine illustrierte Biografie Nichirens in Buchform herausgab.
- ↑ Hitachi no kuni fudoki 常陸国風土記 (Chronik der Provinz Hitachi, um 713). Paraphrasiert und übersetzt nach Akimoto Kichirō 秋本 吉郎 (Hg.) Fudoki 風土記 (Nihon koten bungaku taikei 2). Tokyo: Iwanami Shoten, 1958, pp. 54–55; für eine Übersetzung ins Englische s. Michiko Yamaguchi Aoki (Übersetzung), Records of Wind and Earth. A Translation of Fudoki with Introduction and Commentaries, Ann Arbor 1997 (= Association for Asian Studies XII), p. 50.
- ↑ Nihon ryōiki, Erzählung 1/3, übersetzt in Nakamura 1997, S. 105–108.
- ↑ Nihon shoki 24 (Kyōgyoku 1/7/25), zusammengefasst nach Aston 1972, II, S. 174–75.
- ↑ Der erste Ritus fand im Siebenten Monat 683 (Nihon shoki 29, Tenmu 12/7/20) statt, der zweite im Siebenten Monat 688 (Nihon shoki 30, Jitō 2/7/20); Aston 1972, II, S. 360 und 388.
- ↑ Shintō daijiten 神道大辞典 (Große Shinto-Enzyklopädie), Tokyo 1994, Eintrag kiu shiu, S. 347–348.
- ↑ Naumann 1959, S. 190–192.
- ↑ Naumann 1959, S. 190–193 und 234.
- ↑ Ruppert 2002, S. 148.
- ↑ Die früheste Übersetzung ins Chinesische wurde von Dharmakṣema zwischen 414 and 421 angefertigt (DDB, s.v. 大方等無想經). S.a. Ruppert 2002, S. 148, Anm. 14.
- ↑ Schmidthausen 1997, S. 58–63; de Visser 1913, S. 25–28.
- ↑ Strickmann 2002, S. 64; siehe auch S. 102 für Beispiele chinesischer Drachen und Regenmagie aus dem 6. Jh.
Bilder
- ^ Diese Episode aus dem Leben Nichirens erzählt von einer großen Dürre, die Kamakura im Jahr 1271 (damals Hauptstadt) heimgesucht hatte. Die Regierung befahl den wichtigsten Tempeln, Regenbitt-Zeremonien (amagoi) durchzuführen, doch nichts half, bis endlich Nichiren auf den Plan trat. Er rezitierte (wie immer) seine schlichte „Anrufung des Lotos Sutra“ (namu myōhō renge kyō) und siehe da, der Regen kam.
Werk von Utagawa Kuniyoshi (1797–1861). Edo-Zeit. The British Museum.
Glossar
- Amagoi Komachi 雨乞小町 ^ „Komachis Bitte um Regen“; Motiv aus dem Leben der Dichterin Ono no Komachi in Nō, Kabuki oder ukiyo-e
- ame no hito 雨の人 ^ „Regenmensch“; jemand, der immer Schlechtwetter mitbringt
- Dayun jing (chin.) 大雲經 ^ Großes Wolken-Sutra; skt. Mahāmegha sūtra, jap. Daiun-kyō; die früheste Übersetzung ins Chinesische wurde von Dharmakṣema zwischen 414 and 421 angefertigt (DDB, s.v. Dafangdeng wuxiang jing 大方等無想經)
- Dōzō 道蔵 ^ koreanischer Mönch aus Baekje, spätes 6. Jh.; im Nihon shoki als Experte des Regenmachens erwähnt
- hare no hito 晴れの人 ^ „Schönwettermensch“; jemand, der immer Schönwetter mitbringt
- Hitachi fudoki 常陸風土記 ^ „Aufzeichnungen von Luft und Erde aus Hitachi“; auch Hitachi no kuni fudoki, 713; Chronik kultureller Bräuche der historischen Provinz Hitachi 常陸, heutige Präf. Ibaraki
- honji suijaku 本地垂迹 ^ wtl. Grundform und herabgelassene Spur; Theorie der Identität von kami und Buddhas
- Izumi Shikibu 和泉式部 ^ 978?–1033?; Hofdame und Dichterin der Heian-Zeit
- Jitō Tennō 持統天皇 ^ 645–703, r. 686–697; 41. japanische Kaiserin
- Kaempfer, Engelbert (west.) ^ 1651–1716; deutscher Arzt und Naturforscher, Japanreisender (1790–1792); Autor einer detaillierten Japanbeschreibung
- Kifune Jinja 貴船神社 ^ alter Schrein für eine Wassergottheit im Norden Kyotos; Kifune bedeutet wörtlich „edles Schiff“
- Kimbrough, R. Keller (west.) ^ 1968–; Japanologe an der University of Colorado
- Kitano Tenman-gū 北野天満宮 ^ Kitano Tenman Schrein (Kyōto); einer der beiden Hauptschreine des Sugawara no Michizane, gegr. 947
- Kōgyoku Tennō 皇極天皇 ^ 594–661; weibliche Tennō, r. 642–645; herrschte ein weiteres Mal unter dem Namen Saimei, 655–661
- Mucilinda (skt.) मुचिलिन्द ^ Name eines Drachens, der Buddha Shakyamuni während seiner Meditation vor Regen schützte
- Mujū Ichien 無住一円 ^ 1226–1312; buddh. Mönch und Autor essayistischer und anekdotischer Werke
- Nana Komachi 七小町 ^ „Sieben Komachi“; Gruppe von sieben Motiven aus dem Leben der Dichterin Ono no Komachi
- Naumann, Nelly (west.) ^ 1922–2000; deutsche Japanologin und Mythenforscherin
- Nihon/Nippon 日本 ^ Japan; wtl. Sonnenursprungs[land]
- Nihon ryōiki 日本霊異記 ^ „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)
- Niukawakami Jinja 丹生川上神社 ^ alter Schrein für eine Wassergottheit im Süden von Nara;
- Ono no Komachi 小野小町 ^ 825?–900?; Heian-zeitliche Dichterin und Hofdame
- Rinzai-shū 臨濟宗 ^ Rinzai-Schule des jap. Zen Buddhismus
- rokkasen 六歌仙 ^ die Sechs Dichter-Genies; der Ausdruck bezieht sich auf sechs Dichter aus der klassischen Gedichtanthologie Kokinshū (10. Jh.), nämlich Ōtomo no Kuronushi, Ono no Komachi, Ariwara no Narihira, Kisen, Henjō und Fun’ya no Yasuhide
- Ruppert, Brian (west.) ^ Japanologe und Religionshistoriker, Universität Kanagawa, Yokohama
- Shingon-shū 真言宗 ^ Shingon-Schule, wtl. Schule des Wahren Wortes; wichtigste Vertreterin des esoterischen Buddhismus (mikkyō) in Japan
- Shinsen’en 神泉苑 ^ „Garten der göttlichen Quelle“, im Süden des ehem. Kaiserpalastes in Kyōto gelegen;
- Soga no uji 蘇我氏 ^ Soga-Klan, die ersten Förderer des jap. Buddhismus
- Sotoba Komachi 卒都婆小町 ^ „Komachi am Grab“; Motiv aus dem Leben der Dichterin Ono no Komachi, dramatisiert in Nō, Kabuki oder ukiyo-e
- Sugawara no Michizane 菅原道真 ^ 845–903, Heian-zeitl. Staatsmann und Gelehrter; posthum als Tenman Tenjin vergöttlicht, heute Gott der Gelehrsamkeit
- Tenmu Tennō 天武天皇 ^ 631?–686; 40. japanischer Kaiser; (r. 673–686)
- teruteru bōzu 照る照る坊主 ^ wtl. Schönwetter Mönchlein; Puppe, die Schönwetter bringen soll
- Tsurugaoka Hachiman-gū 鶴岡八幡宮 ^ repräsentativster Schrein des ehemaligen Shōgunats in Kamakura; Gründung durch die Familie Minamoto, die Hachiman als Ahnengottheit verehrten
- Utagawa Kuniyoshi 歌川国芳 ^ 1798–1861; Maler und Zeichner. Bekannter Verteter des ukiyo-e-Farbholzschnitts
- Yamata no Orochi 八岐大蛇 ^ Mythologische Schlange (Drache) mit acht Köpfen; wtl. „achtfach gegabelte Schlange“; wird von Susanoo besiegt
- yatsu no kami 夜刀の神 ^ wtl. Götter des Tals; gehörnte Schlangengötter in der Regionalchronik Hitachi fudoki
Kyoko Nakamura, Miraculous Stories from the Japanese Buddhist Tradition. The Nihon ryōiki of the Monk Kyōkai, Cambridge 1997 [1973] Brian Ruppert, Buddhist Rainmaking in Early Japan. The Dragon King and the Ritual Careers of Esoteric Monks, in: History of Religions 42 (2002), Heft 2 Lambert Schmidthausen, Maitrī and Magic. Aspects of the Buddhist Attitude Toward the Dangerous in Nature, Wien 1997 Marinus Willem de Visser, The Dragon in China and Japan, Amsterdam 1913, pp. 25–28. Michel Strickmann, Chinese Magical Medicine, hrsg. von Bernard Faure, Stanford 2002
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„Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001