Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
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Wenn man vom a·bend·län·dischen Reli·gions·ver·ständ·nis ausgeht, ver·bindet sich mit dem Begriff „Opfer“ die Vor·stel·lung des Blut·opfers oder der Ver·nich·tung von essen·tiellen Res·sourcen (vgl. die biblische Episode von Kain und Abel: Abel opfert Fleisch, Kain Getreide, indem sie es ver·bren·nen). Auch wenn die moderne Christ·liche Religion keine der·artigen Opfer mehr fordert, existiert die Idee des Blut·opfers weiter fort, mani·festiert sie sich doch nicht zuletzt in Christus, der sich selbst zum Opfer machte bzw. von Gott-Vater für die Opfer·rolle aus·er·sehen wurde (vgl. diesbez. auch das von Abraham ge·forderte Opfer des eigenen Sohnes). Opfer im·pli·ziert demnach Gewalt gegen die eigenen Inter·essen oder Gewalt an sich selbst.
Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze.
Ähnliche Opfer-Konzepte existierten auch in Indien, ins·be·sondere im Veda [Veda (skt.) वेद „Wissen“, älteste indische Textsammlung zur brahmanischen Religion, in Versform; ursp. nur mündlich tradiert], wo neben de·tail·lier·ten Opfer·ritualen auch Theorien zu finden sind, die jedes Opfer (auch das Opfer von Pflanzen) explizit mit dem Töten von Lebe·wesen gleich·setzen und diese Gewalt·anwendung zu einem zentralen Teil des Opfers erklären.1 In·te·res·san·ter·weise schließen vedische Opfer·vor·schriften mit ein, dass der Opfernde eine vorbereitende Phase des Vegetarismus (sowie des Gewalt- und Sexualverzichts) durchläuft, an dessen Ende Blut·opfer und Fleisch·konsum stehen. Blut·opfer/ Fleisch·konsum einerseits und Gewalt·verzicht/ Vege·tarismus anderer·seits standen also in einem zyklischen Ver·hält·nis zu einander.2 Erst später setzte sich der Vegetarismus als generelle ethische Norm in Indien durch und wurde in dieser Form auch vom Bud·dhis·mus über·nommen.
In Japan ist von blutigen Opfern in den imaginären Be·zie·hungen zwischen Mensch und Gott·heit auf den ersten Blick nichts zu erkennen (s. Hauptseite Opfergaben). Wendet man sich aber religiösen Legenden aus alter Zeit zu, wird all·mählich klar, das Blut und Gewalt wohl auch in Japan einen festen Platz in der religiösen Vor·stellungs·welt gehabt haben müssen.
Prähistorische Menschenopfer
Kofun-Zeit, 6. Jh. Japanese Archaeological Association, 2006.
Das chinesische Ge·schichts·werk Weizhi [Weizhi (chin.) 魏志 Chin. Chronik der Wei Dynastie (220–266) aus dem 3. Jh. u.Z.; enthält die frühesten Berichte über Japan (Wa) (vgl. wo)] (Chronik der Wei, 297 u.Z.), das die äl·tes·ten einigermaßen verlässlichen his·to·ri·schen Be·rich·te über Ja·pan ent·hält, be·rich·tet, dass an·läss·lich des To·des der Pries·ter·köni·gin Himiko [Himiko (jap.) 卑弥呼 ca. 170–248; frühgeschichtliche Priesterkönigin; auch Pimiko (wahrscheinliche Bedeutung: „Kind der Sonne“); chin. Pei-mi-hu] über hun·dert Ge·folgs·leute ge·zwun·gen wur·den, ihr in den Tod zu fol·gen.3 Auch das Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] (720) er·zählt vom Brauch der To·des·gefolg·schaft im früh·ge·schicht·lichen Japan: Als der jün·gere Bruder des semi-mythi·schen Herr·schers Suinin Tennō [Suinin Tennō (jap.) 垂仁天皇 11. kaiserl. Herrscher Japans, leg. Regiergungszeit 29 v.–70 n.u.Z.] starb, muss·ten seine persön·lichen Vas·sal·len ihm in den Tod folgen, indem man sie auf·recht ste·hend mit ihm zu·sam·men begrub. Sie star·ben also einen lang·samen, qual·vollen Tod und ihr Weh·klagen war noch Tage nach dem Be·gräb·nis zu ver·neh·men. Der Herr·scher be·schloss darauf·hin, diesem Brauch ein Ende zu machen, und befahl, an·statt leben·der Per·sonen Grab·bei·gaben aus Ton (haniwa [haniwa (jap.) 埴輪 frühgeschichtliche Grabbeigaben aus Ton, meist in Form einfacher Skulpturen]) zu ver·wenden.4
Die Histori·zität und zeit·liche Ein·ordnung dieses Berichts ist nicht ein·deutig erwie·sen. Da·gegen spricht, dass sich bei einer grö·ßeren Ver·breitung der·artiger Bräuche ent·sprechende Ske·lette finden lassen müssten. Archäo·logisch ist jedoch bisher noch kein ein·deutiger Nach·weis von regel·mäßi·gen rituel·len Men·schen·opfern erbracht wor·den. Auch sind haniwa in Wirk·lichkeit älter, als sie gemäß der vorlie·genden Legen·de sein müssten. Ein interes·santer Aspekt der haniwa-Ent·stehungs·legende im Nihon shoki besteht aller·dings in dem expliziten Hin·weis, dass man Töpfer·meis·ter aus Izumo [Izumo (jap.) 出雲 alter Namen der Präfektur Shimane in West-Japan; auch kurz für Izumo Taisha] mit der Her·stel·lung der irde·nen Grab·figuren beauf·tragte. Das scheint auf eine beson·dere Kompe·tenz Izumos auf dem Gebiet dieser früh·geschicht·lichen Bestat·tungs·kultur hin·zu·weisen.
Während die Frage nach der Existenz von prä·histor·ischen Menschen·opfern also nicht restlos geklärt ist, lassen sich Blut·opfer von Rindern und Pferden aus historisch ver·läss·lichen Abschnitten des Nihon shoki vor allem im Zu·sam·men·hang mit Regenriten nachweisen.5 Noch in historischer Zeit findet man Berichte, dass bei Tro·cken·heit der abgetrennte Kopf eines Pferdes in ein Gewässer geworfen wurde. Dabei stand aber weniger die Demonstration von Verzicht im Vor·der·grund, als eine Art von Tabu·bruch: Der abgetrennte Kopf sollte die Was·ser·gott·heit in Zorn versetzen und auf diese Weise ein Un·wetter herbeiführen. Auch derartige Riten kamen aber unter bud·dhis·tischem Einfluss mehr und mehr außer Gebrauch.6
Selbstopfer im Buddhismus
Dass blutige religiöse Zeremonien in Japan schließ·lich an Bedeutung verloren, war wohl in erster Linie dem bud·dhis·tischen Tötungs·verbot zu·zu·schreiben. Dieses Tötungs·verbot bezieht sich jedoch nicht auf das eigene Leben und in der Tat kennt der Bud·dhis·mus Bei·spiele von will·lent·lich durch·ge·führten Selbst·opfern. In den Geschichten von den Vorleben des historischen Bud·dhas, den Jataka [Jātaka (skt.) जातक „Wiedergeburtsgeschichte“, Heiligenlegende des Buddha (jap. Honjōtan 本生譚 oder Honjōkyō 本生経)], finden sich dafür zahl·reiche Bei·spiele. Der viel·leicht prominenteste Fall einer bud·dhis·tischen Selbst·opferung ist die Selbst·ver·bren·nung des Bodhisattvas Yakuō im Lotos Sutra (Saddharma pundarika sutra [Saddharma puṇḍarīka sūtra (skt.) सद्धर्मपुण्डरीकसूत्र „Sutra vom weißen Lotos des wunderbaren Dharma“, Lotos Sutra (jap. Myōhō renge kyō 妙法蓮華経 oder Hoke-kyō 法華経)]). Dieser eminent wichtige Texte des Mahayana [Mahāyāna (skt.) महायान „Großes Fahrzeug“, buddhistische Richtung (jap. daijō bukkyō 大乗)]-Buddhis·mus enthält zum Thema Opfer/Spende (kuyō [kuyō (jap.) 供養 Opfer(ritus), Spende; auch: Totenritual], skt. pūjā) ein er·staun·liches Kapitel, das man sowohl als Anlei·tung zur rituellen Selbst·ver·bren·nung als auch als deren Ge·gen·teil inter·pre·tieren kann. Es handelt sich um das Kapitel 23, in dem es um das Vor·leben des Yakuō Bosatsu [Yakuō Bosatsu (jap.) 薬王菩薩 Bodhisattva Medizinkönig; Bodhisattva im Lotos Sutra], wtl. „Bo·dhi·sattva Medizin-König“, geht. Ab·ge·sehen vom Thema „Opfer“ ist dieses Kapitel ein typisches Bei·spiel für die rekursive Form, in welcher bud·dhis·tische Sutren ihren eigenen Wert anpreisen. Der Wert einer Rezitation des Lotos Sutras ist — so die Botschaft in diesem Fall — höher als ein Selbst·opfer im Dienste der bud·dhis·tischen Lehre.
Die Geschichte des Medizinkönigs
Die weit·schweifige Er·zählung des Yakuō-Kapitels lässt sich fol·gender·maßen zu·sammen·fassen:7
Kamakura-Zeit, 1202. Bildquelle: Kurokawa Takao.
Wir be·finden uns in einem lange zu·rück lie·gen·den Zeit·alter, in dem der Buddha der Licht·reinen Tugend8 auf Erden weilt. Auch dieser Buddha pre·digt bereits das Lotos Sutra und führt da·durch den Bodhi·sattva des Freu·digen An·blicks9, den zukünftigen Yakuō, in einen Zu·stand medi·ta·tiver Ver·sen·kung (samadhi), in dem dieser alle Formen an·nehmen kann.
Zum Dank offenbart der Bo·dhi·sattva dem Buddha aller·lei Spen·den (Blumen, Räu·cher·werk, Parfüm), doch schluss·end·lich be·schließt er, seinen eige·nen Körper zu op·fern (kuyō), um der er·wie·se·nen Gnade gerecht zu wer·den. Nach auf·wän·digen Vor·berei·tun·gen (unter anderem trinkt er Öl, um seinen Körper brenn·bar zu machen) gelingt dies in einem Akt der Selbst·ver·bren·nung, dessen Licht bis in alle ande·ren Welten dringt. Die Buddhas aller dieser Welten wür·di·gen dies: „Wohl·getan, wohl·getan! Oh Sohn aus gutem Hause! Dies ist echte An·stren·gung! Dies nennt man eine wahre Ge·setzes·spende an den Tatha·gata!“
Der Bo·dhi·sattva wird sogleich wieder·geboren und begibt sich ein weiteres Mal zum Budda der Licht·reinen Tugend. Dieser erklärt ihn zu seinem Nach·folger und geht sodann ins Nirvana ein. Der Bo·dhi·sattva kümmert sich um die Ver·bren·nung der sterb·lichen Über·reste des Buddhas und die Bei·setzung seiner Reli·quien. Dann bringt er den Reli·quien ein wei·teres Selbst·opfer dar, indem er seine Arme verbrennt. Als Zeichen seiner zu·künf·tigen Buddha·schaft wachsen dem Bo·dhi·sattva aller·dings wieder neue Arme nach.
In der heutigen Welt (zur Zeit des historischen Buddhas) zeigt sich dieser Bo·dhi·sattva als Yakuō Bosatsu (Bodhi·sattva Medizin·könig).
Interpretation des Medizinkönig-Kapitels
Aus dieser Geschichte zieht das Lotos Sutra selbst folgenden Schluss: Wenn jemand ein Selbst·opfer begeht, und sei es auch nur ein Finger oder eine Zehe, so bringt dies mehr kar·mi·sche Verdienste als die Spende der größten Schätze und Reich·tü·mer. All diese Verdienste sind jedoch immer noch geringer als jene von einem, „der dieses Sutra vom Lotos des Gesetzes annimmt und bewahrt, und seien es auch nur vier Verse daraus! Dieser erlangt das höchste Heil.“
Die Bot·schaft des Kapitels läuft also darauf hinaus, dass es besser ist, das Lotos Sutra aus·wendig zu lernen, zu rezi·tie·ren und zu kopie·ren, als sich durch Selbst·opfer der Gnade Buddhas würdig erwei·sen zu wollen. Inso·fern wird der Wert eines Selbst·opfers relati·viert. Den·noch ent·hält das Kapitel auch die aus·führ·liche Bio·gra·phie eines Bo·dhi·sattvas, dessen Be·sonder·heit in mehr·fachen Selbst·op·ferun·gen be·steht, die expli·zit von „den Buddhas aller Welten“ als höchste Form des Opfers geprie·sen werden. Das Kapitel, in dem das Thema Ver·bren·nung auch in Form der Krema·tion eines Toten ange·spro·chen wird, kann also nicht nur als Aufruf zum Studium des Lotos Sutras ge·lesen wer·den, sondern ent·hält durchaus Er·muti·gungen zur teil·weisen oder voll·stän·digen Selbst·ver·bren·nung, wie sie gerade in der bud·dhis·tischen Welt ja auch heute noch immer wieder vor·kommt. Daher wird Kapitel 23 des Lotos Sutra auch als locus classicus der bud·dhisti·schen Praxis der Selbst·ver·bren·nung bezeichnet.
Schluss·end·lich offenbart das Sutra, dass das betreffende Kapitel von den frühe·ren Leben des Medizin·königs wie Medizin wirkt: „Wenn jemand krank ist und dieses Sutra ver·nimmt, so wird seine Krank·heit sogleich ver·schwin·den und er wird ohne Alter und ohne Tod sein.“ Offen·bar hängt die beson·dere Be·to·nung der körper·lichen Ver·stüm·me·lung mit den heilen·den Fähig·keiten zu·sam·men, die diesem Bo·dhi·sattva zuge·spro·chen werden. Dies recht·fertigt natür·lich umge·kehrt auch den Namen Me·di·zin·könig.
Dass das Kapitel über den Medizin·könig zum Vor·bild tat·säch·licher Selbst·ver·bren·nungen wurde, ist laut dem Sinologen James Benn ein chinesisches Phänomen. Die berühmte Sammlung von Biographien ehrwürdiger Mönche (Gaoseng zhuan [Gaoseng zhuan (chin.) 高僧伝 Überlieferungen ehrwürdiger Mönche; Sammlung von etwa 500 Biographien (die Hälfte ausführlich, andere kürzer) von Huijiao (519 u.Z.); alle Biographien handeln von chinesischen Mönchen zwischen 57 und 519 u.Z.]) erwähnt als frühesten Fall ein bud·dhis·tisches Selbst·opfer aus dem Jahr 396 und begründet es damit, dass der betreffende Mönch schon “lange danach trachtete, den Spuren des Medizin-Königs zu folgen und seinen Körper zu Ehren des Buddha hinzugeben.”10 Zahl·lose ähnliche Schil·de·rungen erwähnen, wie sogar Details wie das Drinken von Öl zur besseren Brenn·bar·keit aus der Episode vom Medizin-König übernommen wurden. Möglicher·weise wurde diese Praxis aber von vor-bud·dhis·tischen Formen der Selbst·opferung, etwa zum Zweck des Regenmachens, beeinflusst.11
Selbstmorde und Selbstverstümmelungen in Japan
In Japan ist der „Medizin-Buddha“, Yakushi Nyorai [Yakushi Nyorai (jap.) 薬師如来 Buddha der Medizin; skt. Bhaisajyaguru], wesent·lich populärer als der hier er·wähn·te Bo·dhi·sattva Me·di·zin·könig. Von den Taten des Me·di·zin·königs ist daher im heutigen japanischen Bud·dhis·mus glück·licher·weise nicht allzu of die Rede. Doch findet man schon in den ge·setz·lichen Bestim·mun·gen für Mönche und Nonnen aus dem japanischen Altertum das Verbot: „Mönche und Nonnen dürfen sich nicht ver·bren·nen oder Selbst·mord begehen.“12 Dies legt im Um·kehr·schluss nahe, dass es schon in der Früh·zeit des japani·schen Bud·dhis·mus Mönche gab, die aus Sicht der Behörden Ärger stifteten, indem sie sich selbst Gewalt antaten. Dem ein·fluss·reichen Nara [Nara (jap.) 奈良 Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō]-zeit·lichen Prediger Gyōki [Gyōki (jap.) 行基 668–749; Nara-zeitlicher Mönch, Popularisierer des Buddhismus] wurde in der Tat zur Last gelegt, dass er sich (zusammen mit anderen Häretikern) die Haut von den Unter·armen ziehe und sie verbrenne, um auf diese Weise Almosen zu erbetteln.13 Diese Schilderung erinnert erstaunlich stark an Yakuō. Auch spätere Quellen berichten immer wieder von bud·dhis·tischen Selbst·ver·stüm·melungen oder Selbst·morden.14
Buddhistische Lehrerzählungen
Von Mönchen, die die Askese bis zum Selbst·mord trieben, berichtet auch das Nihon ryōiki [Nihon ryōiki (jap.) 日本霊異記 „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)] aus dem neunten Jahr·hun·dert. Eine Episode aus dieser frühen bud·dhis·tischen Legenden·samm·lung erzählt von einem Mönch, der stets das Lotos Sutra rezitierte, bis er sich in den Bergen der Halb·insel Kii (s.u.) schließ·lich frei·willig von einem Felsen stürzte. Als man seine ver·bli·chenen Gebeine Jahre später fand, war die Zunge noch unversehrt und rezitierte nach wie vor das Sutra.15 Der Autor des Ryōiki, der Mönch Kyōkai [Kyōkai (jap.) 景戒 buddhistischer Mönch des Yakushi-ji 薬師寺 (ein Tempel der Hossō-Schule) zur Nara-Zeit], erzählt außerdem — und dies ist eine große Selten·heit in der·artigen Texten — von einem eigenen Traum, in dem er der Ver·bren·nung seines eigenen Körpers beiwohnt.
Im Frühling des Holz/Büffel-Jahres Enryaku 7[788], in einer Erd/Drache-Nacht am 17. des Dritten Monats, träumte Kyōkai:
Als Kyōkais Körper gestorben war, sammelte man Brenn·holz und zündeten ihn an. Kyōkais irdische Seele (konshin 魂神) stand neben dem bren·nen·den Körper und sah, dass dieser nicht wunsch·gemäß verbrannte. So nahm Kyōkai selbst einen Stock, durch·bohrte damit den eigenen bren·nen·den Körper, wendete ihn, und ver·brannte ihn wieder. Dann erklärte er den Menschen, die [das Feuer] zuvor entzündet hatten: „Verbrennt ihn so gut wie ich!“. Als er dann dem eigenen Körper beim Brennen zusah, entbrannten die Gelenke an Füßen, Knien, Händen und am Kopf und alles brach und fiel ab. Da·rauf·hin stieß Kyōkais Seele (shinshiki 神職) einen Schrei aus. Er presste seinen Mund an das Ohr eines Menschen in seiner Nähe und diktierte ihm seinen letzten Willen. Doch der Klang der Worte war leer und unhörbar und der Mensch antwortete nicht. Da dachte Kyōkai bei sich: „Die Seele (神) eines Ver·stor·benen hat keine Stimme. Daher kann man nicht hören, was ich gerufen habe.“
Noch habe ich keine Antwort auf diesen Traum erhalten. Doch wenn ich es recht bedenke, könnte er ein langes Leben und einen hohen Rang bedeutet haben. Ich werde es wohl nur erfahren, wenn ich weiter auf eine Traum·antwort warte. Doch [immer·hin] erhielt ich, Kyōkai, im Winter des Holz/Eber-Jahres Enryaku 14 [795]/12/30 den Titel eines Lampen·trägers vom Zweiten Rang verliehen.16
Kyōkai deutet also an, dass der (Selbst-)Ver·bren·nungs·traum ein gutes Omen gewesen sein könnte und seine Er·nen·nung zum dentō [dentō (jap.) 伝燈 Mönchstitel, wtl. „Übertragen der Lampe“; Weiterführen der Lehre [eines buddhistischen Meisters]; wurde 860 zu einem Ehrentitel in vier (später fünf) Abstufungen; implizierte eine Auszeichnung für Mönche außerhalb der staatlichen Mönchsverwaltung (sōgō), die sich um die Ausbreitung der buddhistischen Lehre verdient gemacht hatten], wtl. „Lampen·träger“, voraus·gedeutet hätte. Er assoziiert demnach den traditionellen bud·dhis·tischen Ehren·titel „Lampen·träger“, oder genauer „Licht·ver·breiter“, mit dem Akt der Selbst·ver·bren·nung.
In der mit·tel·alter·lichen setsuwa [setsuwa (jap.) 説話 Lehrerzählung, didaktische Anekdote; meist von buddh. Mönchen in Form umfangreicher Sammlungen kompiliert]-Lite·ratur findet man die gleiche Metaphorik — Aus·breitung des Lichts = Selbst·ver·bren·nung — in konkreten Berichten von Fun·damen·talis·ten, die „aus ihrem Kör·per eine Lampe machen“ wollten, wie man das ehe·mals nannte. Viele Bei·spiele finden sich im Hokke genki [Dainihonkoku hokke genki (jap.) 大日本国法華験記 „Berichte von den Wundern des Lotos Sutras im Großen Reich Japan“; buddh. Legendensammlung (setsuwa) von Chingen 鎮源, 11. Jh.; behandelt in erster Linie Hagiographien], einem Werk, das schon im Titel auf die durch das Lotos Sutra in Japan her·vor·ge·rufenen Wunder hinweist. Während Selbst·ver·bren·nungen hier als be·wun·derns·wert herausgestellt werden, berichtet der Satiri·ker Mujū Ichien [Mujū Ichien (jap.) 無住一円 1226–1312; buddh. Mönch und Autor essayistischer und anekdotischer Werke] abfällig von einem vor·ge·täuschten Selbst·verbren·nungs·ritual.
Weitere Beispiele
Häufiger als Selbst·ver·bren·nung war jedoch ein ritueller Selbst·mord namens Fudaraku tokai [Fudaraku tokai (jap.) 補陀落渡海 „Überfahrt nach Fudaraku“ (Paradies des Bodhisattva Kannon); buddhistische Form des rituellen Selbstmords] (Überfahrt nach Fudaraku), bei dem sich der Welt·flüch·tige in ein Boot ein·zimmern ließ. Dieses wurde dann den Wellen über·geben, um schließlich in Fudaraku [Fudaraku (jap.) 補陀落 paradisische Insel des Kannon (Avalokiteshvara), abgeleitet von skt. Potalaka], dem Reinen Land des Bo·dhis·attvas Kannon [Kannon (jap.) 観音 auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt], anzukommen. Da dieses Paradies im Süden jenseits des Meeres liegen soll, etablierte sich die Süd·spitze der Halb·in·sel Kii [Kii Hantō (jap.) 紀伊半島 Halbinsel Kii, Wakayama-ken] als Aus·gangs·punkt solcher selbst·mörder·ischer Expeditionen.17 In diesem Fall steht jedoch das Selbst·opfer nicht im Vorder·grund, denn das Errei·chen des Para·dieses noch wäh·rend der eige·nen Lebens·zeit wurde zu min·dest von den Pio·nieren dieser Praxis für mög·lich erachtet. Aller·dings hoffte man im Falle des eigenen Todes auf „Hinüber·geburt“ in Kannons Para·dies. So oder so ging es also um das Erreichen einer Vor·stufe des Nirvana [Nirvāṇa (skt.) निर्वाण „Erloschen, ausgelöscht“, Ort der Erlösung von allem Leid, absolutes Jenseits (jap. Nehan 涅槃)], sei es als Lebender oder als Toter.
Frühe Edo-Zeit. Kokugakuin University Library.
Die extremste Form der Selbst·opferung, für die es Bei·spiele aus Japan gibt, ist die Selbst·mu·mifi·zierung. Dabei nehmen Mönche Monate hin·durch nur giftige pflanz·liche Extrakte zu sich, sodass sie letztlich in völlig ausge·zehr·tem Zu·stand ver·hungern, ihre Körper aber an·schließend nicht ver·wesen. Einige Mumien dieser Art sind aus Nord-Japan bekannt, der letze Fall ereignete sich 1903.
Kriegerethos
Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995, S. 9.
Viel bekannter als die verein·zelten Fälle bud·dhis·tisch moti·vier·ter Selbst·morde ist die japa·ni·sche Tradi·tion des seppuku [seppuku (jap.) 切腹 ritueller Selbstmord durch Bauchschnitt; „Harakiri“] (harakiri). Ob·wohl diese Prak·tik in ei·nen auf·wändi·gen Ritu·alis·mus ein·ge·bun·den war, fehlt auf den ersten Blick jeder reli·gi·öse Be·zug. Die Motivation für die·se Art von Selbst·opfe·rung war die Krie·ger·ehre. Typischer·weise ging es ein·fach da·rum, dem Feind nicht lebend in die Hän·de zu fallen oder einen aus·sichts·losen Kampf ehren·voll zu be·enden. Auch folgte man mit·unter zum Beweis der eige·nen Loya·li·tät seinem Lehens·her·ren in den Tod, eine Praxis, die An·fang der Edo-Zeit derart ver·brei·tet ge·wesen zu sein scheint, dass sie sogar unter Strafe ge·stellt wurde (wobei die Strafe die über·leben·den Ver·wand·ten traf). Schließ·lich gibt es in moder·ner Zeit auch das krie·geri·sche Selbst·mord·atten·tat in Gestalt der kamikaze [kamikaze (jap.) 神風 Götterwind; urspr. ein poetischer Beinamen der Provinz Ise, wird der Begriff seit den Mongolenangriffen des 13. Jh.s mit göttlichem Schutz im Krieg assoziiert und daher auch mit den Selbstmord-Piloten des 2. Weltkriegs in Verbindung gebracht]-Pilo·ten des Zweiten Welt·kriegs.
Der·artige ritualisierte Selbst·morde sind seit dem japani·schen Mittel·alter in Krieger·epen wie Heike monogatari [Heike monogatari (jap.) 平家物語 „Geschichte der Heike [= Taira]“; mittelalterliches Kriegerepos] oder Taiheiki [Taiheiki (jap.) 太平記 Historisches Epos aus dem späten 14. Jh., behandelt den Konflikt zwischen Nördlichem und Südlichem Kaiserhof] nach·weis·bar. Dies ist zugleich die Blüte·zeit des japani·schen Bud·dhis·mus. Gibt es zwischen diesen Phäno·menen einen Zusam·men·hang? Wurden blu·tige Opfer durch den Bud·dhis·mus aus dem Feld der Religion ver·bannt und daher in ein welt·liches Gewand ge·kleidet?
Opfer für Wassergottheiten
Wie oben erwähnt richteten sich die meisten historisch verbrieften Blut·opfer in Japan an Wasser·gott·heiten in Form von Schlangen oder Drachen. Die gleichen Gott·heiten sind auch die primären Adressaten von Menschen·opfern in Legenden, deren Histori·zität wiederum nicht zwei·fels·frei erwiesen ist. So ist z.B. der my·tho·lo·gische Gott Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu] dafür bekannt, dass er die Welt von einem Schlangen·monster befreite, das regel·mäßig Jung·frauen verschlang.
Werk von Tsukioka Yoshitoshi (1839–1892). Spätere Edo-Zeit. Bildquelle: unbekannt.
In der semi-my·tho·lo·gischen Erzählung von Yamato Takeru [Yamato Takeru (jap.) 倭建/日本武 Mythologischer Prinz, Sohn des Keikō Tennō; wtl. der Held/der Tapfere von Yamato] stoßen wir auf eine Episode, in der sich eine Gemahlin dieses kaiserlichen Prinzen ins Meer stürzt, als ungünstige Winde die Landung seines Schiffes verunmöglichen. Das Selbst·opfer der jungen Frau beruhigt die missgünstigen Wasser·gott·heiten und stellt sich demnach in der Logik der Erzählung als sinnvoll und notwendig dar.
In der Zeit des tu·gend·haften Nintoku Tennō [Nintoku Tennō (jap.) 仁徳天皇 eig. Ōsazaki; semi-historischer Tennō der Frühzeit, der als Inbegriff des weisen, gerechten Herrschers gilt], gelingt ein Damm·bau erst nach einem Menschen·opfer, das dem Tennō durch Traum·bot·schaften abverlangt wird. Die Geschichte enthält al·ler·dings eine interessante Doppel·deu·tig·keit: Als Opfer sind zwei Männer ausersehen. Doch während sich einer seinem Schicksal fügt, gelingt es dem anderen, den Fluss·gott zu überlisten und mit dem Leben davon zu kommen.18
Gerade diese Verbindung von Damm·bau und Menschen·opfer zieht sich bis weit in historische Zeiten hinein. Laut der mittel·alter·lichen Chronik Genpei jōsuiki [Genpei jōsuiki (jap.) 源平盛衰記 auch Genpei seisuiki; „Aufstieg und Fall der Minamoto und der Taira“; Kriegerepos, erweiterte (späte) Version des Heike monogatari, 13.–14. Jh.] versuchte der Gewalt·herrscher Taira no Kiyomori [Taira no Kiyomori (jap.) 平清盛 1118–1181; Feldherr und Diktator am Ende der Heian-Zeit; unterlag im Genpei-Krieg den Minamoto], den Bau einer künstlichen Insel durch dreißig „menschliche Pfeiler“ (hitobashira [hitobashira (jap.) 人柱 wtl. menschlicher Pfeiler; Menschenopfer bei Damm- oder Brückenbauten]), also menschliche Opfer, für den Drachen·gott des Meeres voranzutreiben. Schließ·lich opferte sich ein Knabe frei·willig, indem er auf einem weißen Pferd in die Fluten ritt. Zusätzlich wurden bud·dhis·tische Sutren rezitiert. Beide Opfer·leistungen wurden angenommen und führten zum erfolgreichen Abschluss des Bauprojekts.19
Zu den wenigen Fällen, in denen Menschen·opfer fordernde Gott·heiten keine Schlangen oder Drachen sind, gehören ein Affen·gott aus dem Konjaku monogatari [Konjaku monogatari (jap.) 今昔物語 „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext] und der halb·mensch·liche Unhold Shuten Dōji [Shuten Dōji (jap.) 酒顛童子 wtl. etwa Sauf-Knabe; berüchtigter Dämon (oni) der Heian-Zeit]. Beide Figuren sind seit der späten Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit bekannt, beide ver·spei·sen holde Jung·frauen und beide werden von mutigen Männern un·schäd·lich gemacht. Ob nun fiktional oder real, Menschen·opfer scheinen sich in der Regel auf sexuell anziehende Gestalten wie junge Mädchen und — viel seltener — junge Knaben beschränkt zu haben.
Die meisten dieser Geschichten spielen jedoch in grauer Vor·zeit und erzählen, wie eine Menschen·opfer·praxis auf kreativen Umwegen umgangen wurde und schließ·lich ihr Ende fand. Sie enthalten daher Kritik an der Sinn·haft·igkeit von Menschen·opfern. Am häufigsten wurde dieses narrative Muster auf eine Figur namens Sayohime, „Abschieds·jungfer“, angewandt.
Sayohime
Matsura Sayohime [Matsura Sayohime (jap.) 松浦佐用姫 legendäre Figur eines jungen Mädchens, das als Menschenopfer für eine Schlangengottheit ausersehen ist, diese aber Kraft ihrer Tugend aus dem Schlangendasein erlöst] (mögliche Übersetzung: die „Abschieds·jungfer von Matsura“) ist eine Gestalt, die sich unter ver·schie·denen Namen bereits in mehreren Quellen aus dem Altertum findet. Sie wird dort mit der Region Matsura [Matsura (jap.) 松浦 alter Regionalbezirk in Nord-Kyūshū, heute Matsuura; auch Familienname dortiger Fürsten] im Nord·westen-Kyūshūs verknüpft. Im Manyōshū [Manyōshū (jap.) 萬葉集/万葉集 759?; die älteste japanische Gedichtesammlung; wtl. Sammlung der zehntausend Blätter;] tritt sie in mehreren Gedichten als sehn·suchts·voll trauernde Ehe·frau auf. Als ihr Mann im Jahr 562 nach Korea entsendet wird, winkt sie ihm mit ihrem Schal so lange nach, bis sie sich in Stein verwandelt. Deshalb soll der Hügel, auf dem sie stand, „Hügel des Schal·winkens“ (Hirefuri no mine) genannt worden sein.
Werk von Utagawa Hiroshige. Edo-Zeit. The British Museum.
Die Lokal·chronik Hizen fudoki [Hizen fudoki (jap.) 肥前風土記 auch Hizen no kuni fudoki, Lokalchronik (fudoki) aus Hizen (N-Kyūshū), wahrsch. 8. Jh.] enthält anstelle der Steinverwandlung eine inter·essantere Variante des traurigen Abschieds: Kurze Zeit nach der Trennung erscheint der Mann wieder, verbringt mehrmals die Nacht mit seiner Frau, verschwindet aber bei Tagesanbruch. Als die Frau zusammen mit einer Dienerin den Mann verfolgt, findet sie ihn am Mee·res·strand in Gestalt einer Schlange. Die Dienerin holte Hilfe, doch man findet schluss·end·lich nur noch ein paar Knochen·reste an dem Ort, wo man das ver·meint·liche Ehepaar zuletzt gesehen hatte.20
Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō.
Während die Figur der winkenden Sayohime bis heute in Kyūshū verwurzelt ist, löste sich die Schlangen·legende von der Region Matsura und verband sich mit verschiedenen lokalen Wasser·heilig·tümern, u.a. mit der Insel Chikubushima [Chikubushima (jap.) 竹生島 kleine Insel im nördlichen Biwa-See in Nagahama, Präf. Shiga] im Biwa-See, aber auch mit zahl·reichen Seen in Nord-Japan. An die Stelle der ehe·lichen Tren·nung trat die Tren·nung von Eltern und Kind. Ende des japanischen Mittel·alters enthielt die Legende der Matsura Sayohime die folgenden Elemente:
- Ein junges Mädchen verkauft sich selbst, um eine Seelen·messe für ihren verstorbenen Vater zu finanzieren.
- Sie soll als Opfer (ikenie [ikenie (jap.) 生贄 wtl. Lebensopfer; wird heute zumeist für Pferde verwendet, die in Schreinen gehalten werden; in zahlreichen Legenden aber auch Terminus für Menschenopfer])21 einer bösen Riesen·schlange dienen.
- Kraft der Tugend des Mädchens und des Lotos Sutras wird die Schlange aus ihrem Dasein erlöst und verschont das Mädchen.22
Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze.
In einer sehr ausführlichen Variante dieser Legende23 gibt es am Ende eine interessante Pointe: Sayohime erlöst die Riesen·schlange, indem sie ihr eine Stelle aus dem Lotos Sutra vorliest, die besagt, dass einst die Tochter des Drachen·königs Bud·dha·schaft erlangte.24 Die Schlange verwandelt sich darauf in ein junges Mädchen und erzählt, dass sie ihren Schlangen·leib erhielt, als die Menschen des Dorfes sie einst als Menschen·opfer (hitobashira) für den Bau einer Brücke im Wasser versenkten. Aus Hass verwandelte sie sich nach ihrem Tod in eine Schlange, um sich an den Dorf·bewohnern zu rächen. Schluss·end·lich nimmt das Schlangen·mädchen noch einmal ihre Tiergestalt an, um Sayohime – die gleich Kannon auf ihrem Kopf reitet – zurück in die Heimat zu bringen und steigt schließ·lich als Drache in den Himmel auf.
In einer weiteren Variante aus der Edo-Zeit, die weniger stark bud·dhis·tisch gefärbt ist, ist es die kindliche Pietät einer gewissen Atsuta no Enneme [Atsuta no Enneme (jap.) 熱田縁采女 auch En’uneme; Heldin einer Edo-zeitlichen Schlangenlegende] und das Erbarmen der Schrein·gott·heit von Atsuta [Atsuta Jingū (jap.) 熱田神宮 wichtigster und ältester Schrein in Nagoya], die dem Tun der Schlange ein Ende bereiten, doch die Struktur der Handlung bleibt die gleiche.25
- Atsuta no En-Uneme
- Als Tochter aus namhaftem Haus verlor sie früh ihre Eltern. In ihrem 15. Jahr hörte sie, dass ein tugendhaftes Mädchen von 15 Jahren gesucht wird, um als Lebendopfer einer Riesenschlange aus Ashihara in der Provinz Suruga vorgeworfen zu werden. Selbst ohne Zukunft, verkaufte sie sich als Lebendopfer. Kraft ihrer Kindesliebe erhielt sie den Schutz der Kami und Buddhas. Diese töteten die Schlange und ließen sie zum Himmel emporsteigen. Fürwahr, dies ist die Kraft kindlicher Pietät.
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Edo-Zeit, 1842/43. Museum of Fine Arts, Boston.
Vorlage:Sidebox3 Eine weitere Parallel·geschichte, die möglicher·weise für die bud·dhis·tische Ausschmückung der Sayohime zum Vorbild genommen wurde, erzählt vom indischen Knaben Hōmyō Dōji [Hōmyō Dōji (jap.) 法妙童子 wtl. Knabe des Wunderbaren Dharma; Held einer in Indien angesiedelten buddhistischen Legende aus dem japanischen Mittelalter], der sich eben·falls zum Wohl eines verstorbenen Eltern·teils (in diesem Fall die Mutter) als Schlangen·opfer verkauft. Schluss·end·lich greift hier Amida [Amida (jap.) 阿弥陀 Buddha Amitabha; Hauptbuddha der Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū bzw. Jōdo Shinshū)] rettend ein (was Rück·schlüsse auf Verbindungen zum Jōdo [Jōdo-shū (jap.) 浄土宗 Schule des Amida-Buddhismus]-Bud·dhis·mus zulässt), alles in allem entspricht die Handlung aber trotz der ver·tauschten Geschlechter·rollen ziemlich genau dem Sayohime-Plot.
Im Vergleich mit der ursprünglichen Version aus dem Hizen fudoki verschiebt sich die Thematik von einer Liebes·geschichte zu einer Geschichte kindlicher Ergeben·heit, in der vor allem zwei Motive auffallen: Selbst·verkauf an Menschen·händler zum Wohle der Eltern und ein religiöses Menschen·opfer für eine Schlange. Diese Verschiebung ist möglicher·weise unter dem Einfluss einer chinesischen Legende, die seit Beginn der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit in Japan bekannt gewesen sein dürfte, erfolgt. Es handelt sich um die Geschichte der Li Ji [Li Ji (chin.) 李寄 schlangentötende Heldin aus der Geschichtensammlung Soushenji 搜神記 („Geistersuche“, 4. Jh.) von Gan Bao 干寶.] aus dem 4. Jahr·hun·dert.,26 in der sowohl der Selbst·verkauf als auch das Schlangen·opfer vorkommen. Al·ler·dings handelt es sich um eine reine Gespenster·geschichte, in der die Heldin die Schlange schluss·endlich mit·hilfe eines Hundes und eines Schwerts zur Strecke bringt.
Das Motiv der Schlange, die nicht getötet wird, sondern ihr tieri·sches Dasein aus eige·nem An·trieb be·endet, findet sich wiederum im Konjaku monogatari [Konjaku monogatari (jap.) 今昔物語 „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext] aus der späten Heian-Zeit. Hier ist nicht von Mensch·opfern die Rede, sondern lediglich von einem Mann, der sich aus nicht genannten Umständen in eine menschen·fressende Schlange verwandelt hat. Als ein Mönch, den der Schlangen·mann als Opfer auserkoren hat, allerdings das Lotos Sutra rezitiert, verwandelt er sich wieder in seine menschliche Gestalt, bereut seine Taten und der Spuk hat ein Ende.27 Hier fehlt also auch der starke Bezug zwischen Schlangen und Frauen, aber das Motiv der reinen Fröm·mig·keit, die dämonische Schlangen ohne jede Anwendung von Gewalt überwindet und so die Über·legen·heit des Bud·dhis·mus demonstriert, ist hier deutlich präsent. Die religiöse Deutung des Schlangen-Motivs hängt wohl auch damit zusammen, dass die Legende von ver·schie·denen reli·giösen Insti·tutionen auf·ge·griffen und durch reli·giöse Prediger wie biwa hōshi [biwa hōshi (jap.) 琵琶法師 Spieler der Biwa-Laute in vormoderner Zeit, in der Regel blinde Mönche] oder goze [goze (jap.) 瞽女 blinde Musikerinnen, die sich zu Gilden zusammen schlossen und einen eigenen Rezitationsstil pflegten; bis ins 20. Jh. verbreitet] ver·breitet wurde.
Dass Eltern aus materieller Not ihre Töchter — zumeist an Freudenviertel — verkauften, ist jedenfalls nicht nur aus China, sondern auch aus dem vor·modernen Japan bekannt. Dass es dabei zur Opferung von Mädchen kam, liegt hingegen nicht auf der Hand. Schließ·lich erzählen die Geschichten von Sayohime oder anderen Heldinnen ja stets vom Ende der die Menschen·opferpraxis. Es liegt daher nahe, die Sayohime-Geschichte als narrative Verarbeitung des Verkaufs eigener Kinder zu interpretieren. Ähnlich wie im Märchen von Hänsel und Gretel wird das Tun der Eltern in keiner Variante des Sayohime-Motivs grund·sätz·lich in Frage gestellt. In der stets betonten kindlichen Pietät Sayohimes lässt sich sogar eine unterschwellige Recht·fertigung des elterlichen Tuns erkennen. Das Opfer·motiv dient hingegen der Heroisierung der Heldin und kulminiert in der bud·dhis·tischen Erlösung der Schlange. Als Ritualisten werden in der aus·führ·lichen Sayohime-Legende im übrigen explizit Schrein·priester (kannushi [kannushi (jap.) 神主 Shintō-Priester; wtl. „Meister der Götter“]) genannt und auch die Illustrationen erinnern an shintōistische Opfer·riten. Die Geschichte enthält somit einen Hinweis, dass aufrichtige bud·dhis·tische Praxis den kon·vent·ionellen Riten für die kami-Gott·heiten überlegen sei.
Zusammenfassung
Es gibt keine eindeutigen Hinweise, dass irgend eine bekannte religiöse Institution in historisch gut dokumentierter Zeit je ein Menschen·opfer vorgeschrieben hätte. Auf der Ebene regelmäßiger, von höchster Stelle autorisierter Rituale scheinen Menschen·opfer, so es sie überhaupt je gab, irgend·wann zwischen dem 4. und 7. Jahr·hun·dert abge·schafft worden zu sein. Ähnliche Entwicklungen beobachtet man auch in China, wo bereits im ersten Jahr·tausend vor unserer Zeit·rechnung eine Ächtung von Menschen·opfern einsetzte. Der Bud·dhis·mus bewirkte außerdem eine Abkehr von der rituellen Opferung von Tieren.
Doch wird die Erinnerung an grausame (Selbst)-Opfer selbst im Bud·dhis·mus lebendig erhalten, und sei es nur durch Er·zäh·lungen wie die erwähnte Episode des Medizin-Königs, die Selbst·opferungen zwar hinter andere Praktiken reihen, den Protagonisten solcher Opfer in ihrer aus·führ·lichen Schilderung aber doch auch Bewunderung zollen. Dies führte in China und Japan immer wieder zu „Nach·ahmungs·tätern“, die ihre Selbst·morde bis·weilen öffentlich inszenierten. Ein wichtiger Unterschied zu Selbst·opfern im christlichen und islamischen Kontext scheint jedoch darin zu liegen, dass bud·dhis·tischen Bei·spielen nur selten ein mär·ty·rer·hafter Bei·ge·schmack anhaftet. Eher ging es darum, ähnlich wie die Krieger, durch die Art des gewählten Freitods Respekt zu generieren oder einfach schneller die Gnade der „Hinübergeburt“ in ein bud·dhis·tisches Paradies zu erfahren.
Die Not·wen·dig·keit blutiger Opferungen als Kom·pen·sations·leis·tung an die Götter scheint unter bud·dhis·tischer Deu·tungs·hoheit nicht ganz aus der Welt geschafft worden zu sein. Vor allem von Schlangen·gott·heiten, die eine tief·sitzende Ver·bindung zum Wasser haben und u.a. das für die Land·wirt·schaft elemen·tare Element des Regens steuerten, erwartete man sich die positive Auf·nahme von blutigen Opfern jeglicher Art. Hier mag das generelle Tabu von Blut·opfern möglicher·weise den Effekt gehabt haben, dass Tiere zwar weit·gehend ver·schont blieben, vereinzelt jedoch Menschen – in der Regel junge Frauen — rituell getötet wurden. Besonders in der japa·ni·schen Volks·kunde sind die Meinungen bis heute geteilt, ob die vielen Legenden zu diesem Thema nur der Abschreckung dienten oder doch von der realen Existenz ritueller Menschen·opfer im historischen Japan zeugen.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit. British Museum.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Heestermann 1984, S. 119.
- ↑ Heestermann (1984) sieht darin die Reste einer ur·sprüng·lichen Krieger·kultur, aus der sich das Brahmanentum entwickelte.
- ↑ Seyock 2004: 58
- ↑ Nihon shoki, Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 178–181.
- ↑ Nihon shoki, Buch 24; Aston 1972, Teil 2, S. 174–175.
- ↑ Naumann 1959, S. 190. Auch die bereits zitierten Gesetze für Mönche und Nonnen legen fest, dass bei buddhistischen Zeremonien keine Sklaven, Sklavinnen, Rinder, Pferde oder Waffen als Opfergaben (fuse 布施) dargebracht werden dürfen (Sōniryō 7/26, Dettmer 2010, S. 27).
- ↑ Zu·sammen·gefasst nach Deeg 2009, S. 290–98
- ↑ Nichi·gatsu Jōmyō Toku Nyorai 日月浄明徳如来, wtl. „Buddha, dessen Tugend rein ist wie das Licht von Sonne und Mond“
- ↑ Issai·shujō Kiken Bo·satsu 一切衆生憙見菩薩, „Bodhisattva, dessen An·blick alle Lebe·wesen erfreut“
- ↑ Benn 2012, S. 203–204.
- ↑ Benn 2012, S. 207.
- ↑ Sōni-ryō 7/27 (nach Dettmer 2010, S. 27); die Schlüssel·begriffe lauten funshin 焚身 (Ver·bren·nen des Körpers) shashin 捨身 (Fort·werfen des Körpers).
- ↑ Shoku Nihongi, 717/4/23; Augustine 2005, S. 47.
- ↑ Kleine 2003.
- ↑ Nihon ryōiki, Bd. 3, Erzählung 1. Siehe Nihon Ryo-Wiki.
- ↑ Nihon ryōiki, Bd. 3, Erzählung 38. Siehe Nihon Ryo-Wiki. Ü.: B. Scheid, Ph. Hofwimmer
- ↑ Siehe dazu Moerman 2005, Kap. 3, „Mortuary Practices“.
- ↑ Nihon shoki, Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 281.
- ↑ Laut anderen Versionen des Heike monogatari wurden Menschen·opfer bei dieser Ge·legen·heit erwogen, aber schließ·lich durch Sutren-Rezitate ersetzt (Triplett 2004, S. 35–36; Bialock 2001, S. 282).
- ↑ S. dazu Triplett 2004, S. 191–202; Aoki 1997, S. 260–261; s.a. Kamigraphie, „Hizen fudoki“ und „Schlangen“.
- ↑ Dieser Terminus scheint im Mittel·alter stark mit Menschen·opfer·legenden verbunden gewesen zu sein, obwohl er auch für Tiere verwendet werden kann und nicht not·wendiger·weise eine Tötung impliziert. Es gibt jedenfalls auch ein Nō-Stück dieses Titels, das von einem letzt·lich nicht voll·zogenen Opfer eines jungen Mädchens für die Berg·gott·heit des Fuji erzählt.
- ↑ Nach Triplett 2004, S. 50.
- ↑ Sayohime in Form eines illuminierten hand·ge·schrie·benen Buchs (Nara ehon) aus dem Museum Angewandter Kunst Frankfurt, Ü.: Triplett 2004, S. 65–125.
- ↑ Es handelt sich um das Devadatta-Kapitel, das 12. Kapitel des Lotos Sutras. (Vgl. Deeg, S. 196–202.)
- ↑ Die Legende steht wahr·schein·liche auch mit einem Nō-Stück namens Uneme in Verbindung, in dem sich die Protagonistin gleichen Namens aus enttäuschter Liebe in einem Teich ertränkt.
- ↑ Triplett 2004, S. 206. Für eine Übersetzung der Geschichte s. Robin Wang (Hg.), Images of Women in Chinese Thought and Culture: Writings from the Pre-Qin Period Through the Song Dynasty. Hackett Publishing, 2003, S. 205–206.
- ↑ Konjaku monogatari 13/17, zitiert nach Kōriyama et al. 2015:49–50.
Literatur
Bilder
- ^ Matsura Sayohime, die sich selbst einem Menschenhändler verkauft hat, wird einer Schlangengottheit als Opfer dargebracht. Durch Rezitation des Lotos Sutras wird die Schlange bekehrt und das Mädchen gerettet. Die Legende wurde in der vorliegenden Version wahrscheinlich in der Muromachi-Zeit verschriftlicht, ist aber in der Heian-Zeit, also in grauer Vorzeit, angesiedelt.
Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze. - ^ Die vier haniwa-Figuren stammen aus einem Hügelgrab in Kyūshū, dem Mukadezuke, das in der späten Kofun-Zeit errichtet wurde. Die beiden Figuren im Vordergrund tragen wahrscheinlich buddhistische Stolen (kesa), die Figur mit dem Hut dürfte ein Mann sein. Die Figuren wurden an der Außenseite der Hügelgräber in Reihen nebeneinander aufgestellt.
Kofun-Zeit, 6. Jh. Japanese Archaeological Association, 2006. - ^ Der selten dargestellte Yakuō Bosatsu tritt im Kōfuku-ji zusammen mit seinem „Bruder“, Yakujō Bosatsu, auf.
Kamakura-Zeit, 1202. Bildquelle: Kurokawa Takao. - ^ Unter einem großen torii vollziehen buddhistische Mönche einen Ritus. Davor sieht man ein Schiff, das ebenfalls mit torii bestückt ist, doch auf dem Segel steht „Ehre dem Buddha Amida“ namu amida butsu. Die Szene ist ein Ausschnitt eines Schrein-Mandalas, auf dem die Umgebung des Nachi Schreins in Kumano dargestellt ist. Der Ort war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auch dafür berühmt, dass sich Amida-Gläubige in Boote aussetzen ließen, um von hier Fudaraku, das Reine Land von Amidas Begleiter Kannon Bosatsu, zu erreichen, das man südlich der Halbinsel von Kumano wähnte. Das Boot mit den torii ist für diese Fahrt ins Ungewisse gedacht. Die Praktikanten ließen sich in einer Art Hütte an Bord einsperren und hofften, dass ihnen die Wiedergeburt in Kannons Paradies sicher wäre, wenn sie auf diese Weise den Tod finden würden. (S.a. Religiöse Selbstmorde.)
Frühe Edo-Zeit. Kokugakuin University Library. - ^ Der Erdbeben-Wels (namazu), der das Erdbeben von 1855 hervorgerufen hat, ist von einem Pfeil des Gottes Kashima Daimyōjin getroffen worden und begeht Selbstmord durch seppuku (harakiri). Im Hintergrund, unterhalb des Gottes, sind links die verstorbenen Opfer des Bebens, rechts die Geschädigten (Großhändler, Daimyōs, etc.) zu sehen. Aus dem Bauch des Welses strömt Geld (das offenbar den Armen zugute kommt).
Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995, S. 9. - ^ Susanoo rettet Prinzessin Kushinada vor der Schlange Yamata no Orochi, die hier ausnahmsweise als Schlange mit einem Kopf dargestellt ist. Kushinada-hime scheint sich mit Hilfe shintoistischer Rituale selbst schützen zu wollen.
Werk von Tsukioka Yoshitoshi (1839–1892). Spätere Edo-Zeit. Bildquelle: unbekannt.
- ^ Das Bild zeigt die u.a. im Manyōshū besungene Legende der Sayohime aus Kyūshū, die ihrem Mann, der 562 nach Korea in den Krieg zog, beim Abschied so lange nachwinkte, bis sie sich in Stein verwandelte.
Werk von Utagawa Hiroshige. Edo-Zeit. The British Museum. - ^ Matsura Sayohime rezitiert auf dem Opferplatz das Lotos-Sutra für die Schlangengottheit. In dieser Version wird die Schlange von einem Helden getötet.
Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō. - ^ Matsura Sayohime, wird von einer Schlangengottheit, die sie zum Buddhismus bekehrt hat, auf wundersame Weise durch ganz Japan transportiert. Die Legende wurde in der vorliegenden Version wahrscheinlich in der Muromachi-Zeit verschriftlicht, ist aber in der Heian-Zeit, also in grauer Vorzeit, angesiedelt.
Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze. - ^ Die tugendhafte En-Uneme bereitet sich mit einem shintōistischen Papieropferstab (gohei) auf die Begegnung mit einer bösen Schlangengottheit vor. Das Bild entstammt einer Legende, die Anfang der Edo-Zeit unter dem Titel „Enneme aus Atsuta“ von Asai Ryōi Asai Ryōi (1612–1691) verschriftlicht wurde. Die Legende berichtet von einem Waisenkind aus der Gegend des Atsuta Schreins (heute Nagoya), das in ärmlichen Verhältnissen bei einer Tante aufwächst und sich grämt, kein Grab für die Eltern errichten zu können. Sie verkauft sich einem Menschenhändler, um in einer Nachbarprovinz einer Schlangengottheit als Lebendopfer (ikenie) vorgeworfen zu werden, und gibt das Geld der Tante, um damit ein Grab für die Eltern zu finanzieren. Die Gottheit von Atsuta interveniert im letzten Moment und tötet die Schlange. Der eingeschriebene Text erzählt dies in folgenden Worten:
- Atsuta no En-Uneme
- Als Tochter aus namhaftem Haus verlor sie früh ihre Eltern. In ihrem 15. Jahr hörte sie, dass ein tugendhaftes Mädchen von 15 Jahren gesucht wird, um als Lebendopfer einer Riesenschlange aus Ashihara in der Provinz Suruga vorgeworfen zu werden. Selbst ohne Zukunft, verkaufte sie sich als Lebendopfer. Kraft ihrer Kindesliebe erhielt sie den Schutz der Kami und Buddhas. Diese töteten die Schlange und ließen sie zum Himmel emporsteigen. Fürwahr, dies ist die Kraft kindlicher Pietät.
(Moderne Version der Legende: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2201370)
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Edo-Zeit, 1842/43. Museum of Fine Arts, Boston. - ^ Inmitten einer Anzahl von Skizzen, assoziiert mit dem Buchstaben „i“ findet sich bei Hokusai auch das Wort ikenie (Lebendopfer), das Hokusai als blutiges Opfer einer jungen Frau durch einen Shintō-Priester imaginiert.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit. British Museum.
Glossar
- Atsuta Jingū 熱田神宮 ^ wichtigster und ältester Schrein in Nagoya
- Atsuta no Enneme 熱田縁采女 ^ auch En’uneme; Heldin einer Edo-zeitlichen Schlangenlegende
- Benn, James (west.) ^ Sinologe und Religionshistoriker des Buddhism an der McMaster University, Kanada
- biwa hōshi 琵琶法師 ^ Spieler der Biwa-Laute in vormoderner Zeit, in der Regel blinde Mönche
- Dainihonkoku hokke genki 大日本国法華験記 ^ „Berichte von den Wundern des Lotos Sutras im Großen Reich Japan“; buddh. Legendensammlung (setsuwa) von Chingen 鎮源, 11. Jh.; behandelt in erster Linie Hagiographien
- dentō 伝燈 ^ Mönchstitel, wtl. „Übertragen der Lampe“; Weiterführen der Lehre [eines buddhistischen Meisters]; wurde 860 zu einem Ehrentitel in vier (später fünf) Abstufungen; implizierte eine Auszeichnung für Mönche außerhalb der staatlichen Mönchsverwaltung (sōgō), die sich um die Ausbreitung der buddhistischen Lehre verdient gemacht hatten
- Fudaraku tokai 補陀落渡海 ^ „Überfahrt nach Fudaraku“ (Paradies des Bodhisattva Kannon); buddhistische Form des rituellen Selbstmords
- Gaoseng zhuan (chin.) 高僧伝 ^ Überlieferungen ehrwürdiger Mönche; Sammlung von etwa 500 Biographien (die Hälfte ausführlich, andere kürzer) von Huijiao (519 u.Z.); alle Biographien handeln von chinesischen Mönchen zwischen 57 und 519 u.Z.
- Genpei jōsuiki 源平盛衰記 ^ auch Genpei seisuiki; „Aufstieg und Fall der Minamoto und der Taira“; Kriegerepos, erweiterte (späte) Version des Heike monogatari, 13.–14. Jh.
- Hirefuri no mine 褶振峯 ^ „Hügel des Schalwinkens“; Ort wo Matsura Sayohime sich von ihrem nach Korea segelnden Mann verabschiedet haben soll, bis sie sich in Stein verwandelte
- hitobashira 人柱 ^ wtl. menschlicher Pfeiler; Menschenopfer bei Damm- oder Brückenbauten
- Hizen fudoki 肥前風土記 ^ auch Hizen no kuni fudoki, Lokalchronik (fudoki) aus Hizen (N-Kyūshū), wahrsch. 8. Jh.
- Hōmyō Dōji 法妙童子 ^ wtl. Knabe des Wunderbaren Dharma; Held einer in Indien angesiedelten buddhistischen Legende aus dem japanischen Mittelalter
- Kannon 観音 ^ auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt
- Konjaku monogatari 今昔物語 ^ „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext
- Kumano 熊野 ^ Region im Süden der Halbinsel Kii (Wakayama-ken), bekannt für ihre alten Pilgerzentren (s. Kumano Sanzan)
- Matsura Sayohime 松浦佐用姫 ^ legendäre Figur eines jungen Mädchens, das als Menschenopfer für eine Schlangengottheit ausersehen ist, diese aber Kraft ihrer Tugend aus dem Schlangendasein erlöst
- Mujū Ichien 無住一円 ^ 1226–1312; buddh. Mönch und Autor essayistischer und anekdotischer Werke
- Nihon ryōiki 日本霊異記 ^ „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)
- Nihon shoki 日本書紀 ^ Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)
- Nintoku Tennō 仁徳天皇 ^ eig. Ōsazaki; semi-historischer Tennō der Frühzeit, der als Inbegriff des weisen, gerechten Herrschers gilt
- Saddharma puṇḍarīka sūtra (skt.) सद्धर्मपुण्डरीकसूत्र ^ „Sutra vom weißen Lotos des wunderbaren Dharma“, Lotos Sutra (jap. Myōhō renge kyō 妙法蓮華経 oder Hoke-kyō 法華経)
- Suinin Tennō 垂仁天皇 ^ 11. kaiserl. Herrscher Japans, leg. Regiergungszeit 29 v.–70 n.u.Z.
- Taira no Kiyomori 平清盛 ^ 1118–1181; Feldherr und Diktator am Ende der Heian-Zeit; unterlag im Genpei-Krieg den Minamoto
- Yakuō Bosatsu 薬王菩薩 ^ Bodhisattva Medizinkönig; Bodhisattva im Lotos Sutra
- Yakushi Nyorai 薬師如来 ^ Buddha der Medizin; skt. Bhaisajyaguru
- Yamato Takeru 倭建/日本武 ^ Mythologischer Prinz, Sohn des Keikō Tennō; wtl. der Held/der Tapfere von Yamato
Religion in Japan, Inhalt
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Dämonen
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Terauke-System
- Neo-Konfuzianismus
- Kokugaku
- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
- Anhang
- Metalog
- Konzept
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- Bilder-Glossar
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„Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001