Gaki zōshi: Bildrollen der Hungergeister

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Gaki zōshi Bildrollen der Hungergeister

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Der Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. 業)]-Theorie zufolge ist das Dasein als Hunger·geist (skt. preta [preta (skt.) प्रेत „Hungergeist“ (jap. gaki 餓鬼)], jap. gaki [gaki (jap.) 餓鬼 Hungergeist; skt. preta]) die Folge über·mäßiger Gier in einer früheren Existenz. Unter den Sechs Bereichen der Wieder·geburt (rokudō [rokudō (jap.) 六道 wtl. die Sechs Wege = Bereiche der Wiedergeburt]) erfreuen sich die Hunger·geister ver·hält·nis·mäßig großer Auf·merk·sam·keit in Japan. Besonders gegen Ende der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit (11.–12. Jh.) scheint das Interesse am Jenseits und an den Hunger·geistern — zu·mindest in der höfischen Gesell·schaft — groß ge·wesen zu sein. Davon zeugen illustrierte Bildrollen (Gaki zōshi [Gaki zōshi (jap.) 餓鬼草紙 Illustrierte Querbildrollen der Hungergeister]), die von Tennō Go-Shirakawa [Go-Shirakawa Tennō (jap.) 後白河天皇 1127–1192; 77. Kaiser von Japan (r. 1155–1158); stellte vor allem als Exkaiser im Mönchsstand ein wichtiges politisches Gegengewicht zu den Diktatoren Taira no Kiyomori und Minamoto no Yoritomo dar] per·sön·lich in Auftrag gegeben worden sein sollen. Sie offen·baren nicht nur eine fast liebe·volle Detailtreue bei der Darstellung der Hunger·geister, sondern gewähren auch einen un·ge·wöhn·lich lebendigen Einblick in das damalige Leben. Darüber hinaus sind die Geister mit physio·logischen Merk·malen — einem aufgeblähten Bauch — ausgestattet, die tatsächlich bei Hungernden auftreten. Die Darstel·lungen, und die Bedeutung der Hunger·geister insgesamt, scheinen somit auch eine Reaktion auf die Ende der Heian-Zeit besonders häufigen Hungers·nöte gewesen zu sein.

Trank- und Speiseopfer

Gakizoshi ausspeisung.jpg
1 Gaki zōshi
Ausspeisung der Hungergeister (gaki) durch buddhistische Mönche.
Kamakura-Zeit, 12. Jh. e-kokuhō.

Aus·speisung der Hunger·geister durch buddhis·tische Mönche. Die Mönche folgen dabei dem Beispiel des Buddha [Buddha (skt.) बुद्ध „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)]-Schülers Ananda [Ānanda (skt.) आनन्द „Freude“, Schüler des Buddha (jap. Anan 阿難)], der die Hunger·geister auf diese Weise von ihrer leid·vollen Existenz·form erlöste. Durch die Erlösung eines Hunger·geists, kann man auch für sich selbst gutes Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. 業)] erwirken.

Gakizoshi urabon.jpg
2 Gaki zōshi
Das Bild zeigt einen Stupa (sotoba), der von verschiedenen Leuten, wohl während des O-bon-Festes, mit Opfergaben bedacht wird, sowie geschäftiges Treiben vor den Toren eines Tempels. Ein begleitender Text erklärt, dass sich gewisse Hungergeister von dem Opferwasser ernähren, das Hinterbliebene ihren verstorbenen Angehörigen darbringen. Dieser Text ist ein Zitat aus einem chinesischen Sutra. Das Bild zeigt, dass sich davon ausgehend bereits ein Kult etabliert hat, um Hungergeister (möglicherweise die verstorbenen Eltern in ihrer folgenden Existenzform) mit Wasser zu laben. Der Ort dafür ist eine Art kollektiver Grab-Stupa, dessen Existenz auch in anderen Quellen der späten Heian-Zeit belegt ist (Wakabayashi 2020, S. 215).
Heian-Zeit, 12. Jh. e-kokuhō.

Das urabon [urabon (jap.) 盂蘭盆 Ursprünglicher (buddhistischer) Name des Bon-Fests, abgeleitet von ullambana]-Fest in der späten Heian-Zeit: Einige Menschen beten am Friedhof (zu sehen ist links ein Grab-Stupa) und opfern den gaki Wasser, das diese gierig auflecken. Während·dessen halten andere eine fröhliche Feier ab.

Die obigen Abbildun·gen entstammen einer Gaki zōshi-Bildrolle, die heute dem National·museum Kyōto gehört. Sie befand sich möglicher·weise ur·sprüng·lich im Besitz von Kaiser Go-Shirakawa (1127–92; r.1155–58). Andere Bilder dieser Bildrolle illustrieren bud·dhis·tische Legenden wie etwa die Geschichte Mokurens [Mokuren (jap.) 目連 Schüler des Buddha; skt. Maudgalyayana; errettet seine Mutter aus der Hölle], die sich auf die Hunger·geister be·ziehen. Es handelt sich also um Material, das die Relevanz des Urabon-Festes in leicht fasslicher Form illustrieren sollte.

Verbindung mit dem Unreinen

Eine andere Bildrolle, die heute im Tōkyō National Museum auf·be·wahrt wird, hebt mehr die un·heim·lichen und un·appetit·lichen Aspekte der Hunger·geister hervor. Zu·gleich spricht aus der Art der Dar·stel·lung auch so etwas wie Sympathie für die Geister. In der Tat könnte es sich ja ohne wei·teres um ver·storbene Anver·wandte der dama·ligen Zeit·genos·sen handeln, wenn diese sich im irdischen Leben durch besondere Gier aus·ge·zeichnet hatten.

Gakizoshi notdurft.jpg
3 Gaki zōshi
Die Hungergeister (gaki) warten geduldig, bis die Menschen ihre Notdurft verrichtet haben, um sich selbst daran zu laben. Das Bild ist auch für die Alltagsgeschichte der Heian-Zeit interessant, da es einerseits den Abort als öffentliche Fläche (wahrscheinlich in einer Hintergasse) darstellt und zugleich die Verwendung von sogenannten shit sticks (jap. chūgi 籌木) dokumentiert, also kleine Hölzchen, die ähnlich wie das heutige Klopapier verwendet wurden. Auch Stoff oder Papier ist im übrigen zu sehen.
Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. Tōkyō National Museum.
Hungergeister warten geduldig, bis die Menschen ihre Notdurft ver·richtet haben, um sich selbst daran zu laben
Gakizoshi geburt.jpg
4 Gaki zōshi
Ein Hungergeist (gaki) beobachtet eine Geburt — zweifellos in der Hoffnung auf Nahrung.
Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. Tōkyō National Museum.
Ein Hungergeist beobachtet eine Geburt — zweifellos in der Hoffnung auf Nahrung
Gakizoshi friedhof.jpg
5 Gaki zōshi
Hungergeister (gaki) streunen um die Gräber und teilen sich das Aas mit den Hunden.
Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. e-Museum, National Treasures & Important Cultural Propertiesof National Institutes for Cultural Heritage, Japan.
Gaki streunen um die Gräber und teilen sich das Aas mit den Hunden

Das im ersten Bild erkennbare „Gemein·schafts·klo“, das die Menschen ohne große Hemmungen kollektiv nutzen, wirft einen interes·santen Aspekt auf die Geschichte der Scham·haftig·keit in Japan. Die bildliche Dar·stel·lung einer Geburt ist, nicht nur in Japan, ähnlich selten und un·ge·wöhn·lich. Gebären an sich galt damals als etwas Unreines (und lockt daher den Hungergeist an). Schließ·lich offen·bart die Friedhof·szene die damalige Praxis, Leichen einfach den Tieren zum Fraß zu über·lassen. In den Gräbern befanden sich wahr·schein·lich nur höher gestellte Per·sön·lich·keiten und buddhistische Mönche.

Die Bildrolle, aus der diese Beispiele stammen, zählte einst zum Besitz von Kaiser Go-Shirakawa und wurde zu·sam·men mit ähnlichen illustrierten Werken im Kannon [Kannon Bosatsu (jap.) 観音菩薩 Bodhisattva Avalokiteshvara, wtl. „der den Klang der Welt erhört“; „Bodhisattva des Mitleids“; s.a. Kannon, Guanyin;] Tempel Rengeō-in (besser bekannt als Sanjūsangen-dō [Sanjūsangen-dō (jap.) 三十三間堂 33 Klafter Halle; Kannon-Tempelhalle in Kyōto; offizieller buddhistischer Tempelname: Rengeō-in]) auf·be·wahrt. Der Glaube an die Hunger·geister war also keines·wegs ein obskurer Aber·glaube, sondern wurde in der späten Heian-Zeit von der Elite der Hofkultur hoch·gehalten.

Die Gaki zōshi werden in Japan zu den offiziellen „Nationalen Kultur·schätzen“ ge·zählt und sind daher auch aus·führlich auf der sehr empfehlens·werten Website e-kokuhō dokumentiert.

Verweise

Verwandte Themen

Literatur

Siehe auch Literaturliste

Haruko Wakabayashi, „Visualizing Hungry Ghosts in Heian Japan: Gakizōshi Scrolls as ‘Translation’“. Monumenta Nipponica 75/2 (2020), 205–239.

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite

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    Gakizoshi ausspeisung.jpg
    Ausspeisung der Hungergeister (gaki) durch buddhistische Mönche.
    Kamakura-Zeit, 12. Jh. e-kokuhō.
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    Gakizoshi urabon.jpg
    Das Bild zeigt einen Stupa (sotoba), der von verschiedenen Leuten, wohl während des O-bon-Festes, mit Opfergaben bedacht wird, sowie geschäftiges Treiben vor den Toren eines Tempels. Ein begleitender Text erklärt, dass sich gewisse Hungergeister von dem Opferwasser ernähren, das Hinterbliebene ihren verstorbenen Angehörigen darbringen. Dieser Text ist ein Zitat aus einem chinesischen Sutra. Das Bild zeigt, dass sich davon ausgehend bereits ein Kult etabliert hat, um Hungergeister (möglicherweise die verstorbenen Eltern in ihrer folgenden Existenzform) mit Wasser zu laben. Der Ort dafür ist eine Art kollektiver Grab-Stupa, dessen Existenz auch in anderen Quellen der späten Heian-Zeit belegt ist (Wakabayashi 2020, S. 215).
    Heian-Zeit, 12. Jh. e-kokuhō.
  3. ^ 
    Gakizoshi notdurft.jpg
    Die Hungergeister (gaki) warten geduldig, bis die Menschen ihre Notdurft verrichtet haben, um sich selbst daran zu laben. Das Bild ist auch für die Alltagsgeschichte der Heian-Zeit interessant, da es einerseits den Abort als öffentliche Fläche (wahrscheinlich in einer Hintergasse) darstellt und zugleich die Verwendung von sogenannten shit sticks (jap. chūgi 籌木) dokumentiert, also kleine Hölzchen, die ähnlich wie das heutige Klopapier verwendet wurden. Auch Stoff oder Papier ist im übrigen zu sehen.
    Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. Tōkyō National Museum.
  1. ^ 
    Gakizoshi geburt.jpg
    Ein Hungergeist (gaki) beobachtet eine Geburt — zweifellos in der Hoffnung auf Nahrung.
    Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. Tōkyō National Museum.
  2. ^ 
    Gakizoshi friedhof.jpg
    Hungergeister (gaki) streunen um die Gräber und teilen sich das Aas mit den Hunden.
    Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. e-Museum, National Treasures & Important Cultural Propertiesof National Institutes for Cultural Heritage, Japan.

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • Ānanda (skt.) आनन्द ^ „Freude“, Schüler des Buddha (jap. Anan 阿難)
  • Buddha (skt.) बुद्ध ^ „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)
  • Dharma (skt.) धर्म ^ Gesetz (des Universums), Lehre (des Buddha) (jap. 法)
  • Enma 閻魔 ^ skt. Yama; König oder Richter der Unterwelt; auch Enra; meist als Enma-ten oder Enma-ō angesprochen
  • gaki 餓鬼 ^ Hungergeist; skt. preta
  • Gaki zōshi 餓鬼草紙 ^ Illustrierte Querbildrollen der Hungergeister
  • Go-Shirakawa Tennō 後白河天皇 ^ 1127–1192; 77. Kaiser von Japan (r. 1155–1158); stellte vor allem als Exkaiser im Mönchsstand ein wichtiges politisches Gegengewicht zu den Diktatoren Taira no Kiyomori und Minamoto no Yoritomo dar
  • Heian 平安 ^ auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)
  • Kannon Bosatsu 観音菩薩 ^ Bodhisattva Avalokiteshvara, wtl. „der den Klang der Welt erhört“; „Bodhisattva des Mitleids“; s.a. Kannon, Guanyin;
  • Karma (skt.) कर्म ^ „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. 業)
  • kegare 穢れ ^ rituelle Verunreinigung, Befleckung, Schande
  • LaFleur, William (west.) ^ 1936–2010; amerikanischer Japanologe und Buddhismusforscher; lehrte u.a. in Princeton
  • Maudgalyāyana (skt.) मौद्गल्यायन ^ Schüler des Buddha; mit übersinnlichen Fähigkeiten begabt, war es ihm möglich, die Unterwelt zu besuchen; in ostasiatischen Versionen seiner Legende errettet er dort seine Mutter (jap. Mokuren 目連)
  • Mokuren 目連 ^ Schüler des Buddha; skt. Maudgalyayana; errettet seine Mutter aus der Hölle
  • O-bon お盆 ^ Fest der Ahnen; Bon-Fest
  • Ōjō yōshū 往生要集 ^ „Essentielle [Lehren] der Wiederbgeburt“, 985 von Genshin verfasst
  • preta (skt.) प्रेत ^ „Hungergeist“ (jap. gaki 餓鬼)
  • rasetsu 羅刹 ^ von skt. rakshasa; menschenfressende Dämonenrasse des indischen Pantheons
  • Sanjūsangen-dō 三十三間堂 ^ 33 Klafter Halle; Kannon-Tempelhalle in Kyōto; offizieller buddhistischer Tempelname: Rengeō-in
  • Shōbō nensho kyō 正法念處経 ^ kanonischer Text in 70 Kapiteln, der die Wiedergeburtslehre zum Thema hat; skt. Saddharma-smṛty-upasthāna sūtra, chin. Zhengfa nianchu jing; 538–541 von Gautama Prajñāruci ins Chinesische übertragen
  • sūtra (skt.) सूत्र ^ „Faden“, Lehrrede des Buddha, kanonische Schrift (jap. kyō 経 oder kyōten 経典)
  • urabon 盂蘭盆 ^ Ursprünglicher (buddhistischer) Name des Bon-Fests, abgeleitet von ullambana
  • Wakabayashi, Haruko (west.) ^ Japanisch-amerikanische Japanologin mit Schwerpunkt auf dem japanischen Mittelalter
Religion in JapanMythen
Diese Seite:

„Hungergeister.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001