Alltag/Matsuri

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Matsuri — Religiöse Volksfeste

Der Begriff

matsuri(jap.)

religiöses (Volks-)Fest

Ritus

Der Begriff „matsuri“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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umschreibt im weiteren Sinne alle gemein·schaft·lichen Feste, auch die zuvor beschriebenen jahreszeitlichen Feste (

nenjū gyōji 年中行事 (jap.)

Jahresfeste

Kalender, Ritus

Der Begriff „nenjū gyōji“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

). Im allgemeinen assoziiert man mit matsuri aber religiöse Feste mit sehr speziellen lokalen Besonder·heiten, also regionale religiöse Volks·feste. Obwohl auch Tempel matsuri veranstalten können, werden diese Feste typischerweise für

kami(jap.)

Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō

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abgehalten, gehen also von Schreinen aus. Bei den meisten matsuri steht eine Prozession im Mittel·punkt und im Mittel·punkt der Prozession steht ein tragbarer Schrein,

mikoshi 神輿 (jap.)

tragbarer Schrein

Gegenstand

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, in dem die Gottheit des lokalen Schreins vorüber·gehend ihren Sitz einnimmt. Üblicher·weise wird also der „Gott·leib“ (

shintai 神体 (jap.)

heiliges Objekt eines Shintō-Schreins; wtl. „Gottkörper“

Schrein, Gegenstand

Der Begriff „shintai“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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) einer kami-Gottheit im mikoshi zu einem bestimmten Ziel getragen, das man

tabisho 旅所 (jap.)

wtl. „Reiseort“; Ziel einer Prozession mit tragbarem Schrein (mikoshi) bei Schreinfesten

Schrein

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, „Reiseort“, nennt. Wie im Haupt·schrein bleibt der shintai auch während dieser „Reise“ verborgen. Hingegen zieht der tragbare Schrein mit seinen reichen Verzierungen alle Blicke auf sich.

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Ōkuninushi heilt den Hasen von Inaba, dem Meeresungeheuer (wani) das Fell abgezogen haben. Hokusai interpretiert Ōkuninushi als Daikoku und die wani als Krokodile.
Werk von Katsushika Hokusai (1760–1849). Edo-Zeit. Museum of Fine Arts, Boston.

Meist wird der mikoshi gleich einer Sänfte von zahlreichen Anhängern des Schreins auf den Schultern getragen. Rund um den mikoshi werden allerhand traditionelle Tänze, Wett·kämpfe oder Schau·künste veranstaltet, deren Varianten·reichtum kaum Grenzen kennt. Oft drängen diese Seiten·aktivitäten die eigentliche Prozession in den Hinter·grund. Aber auch die Formen des tragbaren Schreins und der umher·getragenen Ver·ehrungs·gegen·stände können sehr unter·schiedlich sein. Äußerlich ähneln matsuri einer Fronleichnamsprozession in katholischen Ländern, doch stehen Spek·takel und aus·gelassene Fröh·lich·keit unum·wunden im Mittel·punkt der Veranstaltung.

Beispiel Gion Matsuri

Das

Gion Matsuri 祇園祭 (jap.)

Gion Fest; größtes matsuri Kyōtos; ursprünglich zur Abwehr zürnender Geister, später zur Besänftigung der Seuchengottheit Gozu Tennō abgehalten

Ritus

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in Kyoto, das den ganzen Juli über gefeiert wird, ist wohl das be·rühm·teste und vom touristischen Standpunkt aus spektakulärste matsuri Japans. Es wird vom

Yasaka Jinja 八坂神社 (jap.)

Yasaka Schrein (Kyōto), ehemals als Gion Schrein bezeichnet

Schrein

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Geographische Lage

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Geographische Lage von Yasaka Jinja; s.a. Geo-Glossar

veranstaltet, dem es auch seinen Namen verdankt, denn der Schrein hieß bis zur

Meiji 明治 (jap.)

posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt

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-Zeit selbst Gion. Das Gion Fest ist schon seit der

Heian 平安 (jap.)

auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)

Ort, Epoche

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-Zeit belegt und geht auf eine Zeremonie zur Besänftigung zürnender Geister (

goryō-e 御霊会 (jap.)

Zeremonie zur Geisterbesänftigung

Ritus

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) zurück, die erstmals anlässlich einer Seuchen·plage im Jahr 869 abgehalten worden war. Die Gottheit, die damals für die Seuche ver·ant·wort·lich gemacht wurde, war

Gozu Tennō 牛頭天王 (jap.)

„Ochsenköpfiger Himmelskönig“, Seuchengott; wird manchmal mit Susanoo identifiziert

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(der „Ochsenköpfige Himmelskönig“), ein indischer Gott, der mit dem Buddhismus nach Japan gekommen war. Er wurde allerdings auch mit

Susanoo 須佐之男/素戔男 (jap.)

mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu

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, dem abtrünnigen Bruder der Sonnen·gott·heit gleich·gesetzt. Es entspricht der japanischen Religiosität, dass man sich gerade für eine eher unheimliche, furcht·ein·flößende Gott·heit bemühte, ein besonders buntes, fröhliches Fest auf die Beine zu stellen.

Prozessionswagen

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Höhepunkt des Gion Matsuri ist die Parade der sogenannten

dashi 山車 (jap.)

Prozessionswagen bei Schreinfesten

Gegenstand

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am 16. und 17. Juli.  Dashi-Pro·zessions·wagen unterteilen sich in zwei Gruppen: (1) yama (wtl. Berge), von denen es ingesamt zwei·und·zwanzig gibt. Sie ähneln den üblichen mikoshi-Schreinen und werden auf den Schultern getragen. (2) hoko (wtl. Lanzen, insgesamt sieben), das sind riesige bunt geschmückten Wagen, auf denen Helle·barden in über·dimen·sionaler Form nach·gebildet sind. Diese Helle·barden sollen schon in der ursprünglichen Zeremonie zur Abwehr der Seuche eingesetzt worden sein. Yama und hoko dienen beide zugleich als Bühne für diverse Schau·künste und -gegen·stände. Die Ausstattung wird von den Bezirks·gemeinden rund um den Yasaka-Schrein übernommen. Eigentlich handelt es sich nur um das Vorspiel zur Prozession des mikoshi, doch dank der besonderen Ausgestaltung der Pro·zessions·wagen zieht dieser „Side-Event“ die meiste Aufmerk·samkeit der Besucher auf sich. Übrigens gibt es in ganz Japan Zweig·schreine des Yasaka Schreins, die ähnliche Prozessionen veranstalten.

Weitere Beispiele

Nackt-Feste

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Zu den typischen Veranstaltungen im Zusammenhang mit matsuri zählen sportliche Ereignisse, die große Gruppen von Menschen umfassen. Etwa groß angelegtes Tau·ziehen. Auch Pferde- oder Boots·rennen in großen Gruppen gehören dazu. Eine besondere Heraus·forderung, sowohl in körperlicher als auch in sozialer Hinsicht, stellen die soge·nannten Nackt·feste (

hadaka matsuri 裸祭 (jap.)

wtl. Nackt-Fest; religiöses Fest

Ritus

Der Begriff „hadaka matsuri“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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) dar, bei denen Gruppen junger Männer, nur mit einem Lenden·schurz (fundoshi) bekleidet bei eisiger Kälte ins Wasser springen. Das Bad im Fluss wird als rituelle Reinigung (

misogi(jap.)

Purifikation, Reinigungsritus, rituelle Waschung

Ritus

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) verstanden.

Feuer Feste

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Ebenso wie das Wasser kann auch das Feuer rituelle Reinigung herbei·führen und spielt daher in vielen religiösen Feiern ein Rolle. Es gibt auch groß angelegte matsuri, die das Feuer in den Mittel·punkt stellen. In den meisten Fällen besteht der Höhe·punkt eines solchen Feuer matsuri im Gang durch die glühenden Kohlen (

hiwatari 火渡り (jap.)

Feuer-Gang, Gang durch glühende Kohlen

Ritus

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), der von Priestern und Laien gemeinsam durch·geführt wird. Solche Feuer·gänge sind aus vielen Kulturen bekannt. In Japan werden sie fast immer von bud·dhis·tischen Tempeln, be·ziehungs·weise vom synkretistischen Orden der Bergasketen (

yamabushi 山伏 (jap.)

Bergasket, wtl. der in den Bergen schläft; Praktikant des Shugendō

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) durchgeführt.

Ernte- und Fruchtbarkeitsfeste

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In der ehemals agrarischen, traditionellen Gesellschaft spielten Ernte·bitt- und Ernte·dank·feste stets eine große Rolle. Wie in anderen Kulturen bediente man sich bei rituellen Bitten um reiche Ernte (

hōnen matsuri 豊年祭 (jap.)

Erntebitt-Fest, Fruchtbarkeitsfest

Ritus

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) auch in Japan häufig einer sexuellen Symbolik. Spuren von ent·sprech·enden Phallus·kulten sind in ganz Japan zu finden, allerdings sind die ent·sprech·enden Kult·gegen·stände zumeist in diskrete Seiten·schreine ausgelagert worden. In ein paar wenigen Schreinen haben sich phallische matsuri-Prozessionen allerdings als besondere Touristen·attrak·tionen erwiesen und werden mit großer Aus·ge·lassen·heit gefeiert. Ur·sprüng·lich mit der Bitte um fruchtbare Ernte oder Kinder·segen verbunden, haben manche dieser matsuri heute die Züge von love parades angenommen.

Matsuri — Allgemeine Merkmale

Matsuri sind heutzutage besonders für den inner·japanischen Tourismus attraktiv und werden daher zu·nehmend bunter und viel·ge·staltiger. Nicht selten erweisen sich angeblich Jahr·hunderte alte Traditionen als kürzlich ent·standene invented traditions. Berühmte Schrein·feste wie das Gion Matsuri in Kyoto können aber anderer·seits sehr wohl auf eine lange Geschichte zurück·blicken. Ästhetisch gesehen sind die meisten matsuri von den Stil·elementen des Kabuki-Theaters geprägt. Man kann daher davon ausgehen, dass das heute typische matsuri seine Aus·gestaltung der

Edo 江戸 (jap.)

Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);

Ort, Epoche

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Geographische Lage

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-zeitlichen Stadtkultur verdankt.

Soziologisch betrachtet fällt der gruppenbetonte Charakter japanischer matsuri ganz besonders ins Auge. Dieser erstreckt sich nicht nur auf die Teil·nahme am Fest, sondern auch auf die Vor·be·rei·tung. Ob Tänze, Wett·kämpfe oder Prozessionen, stets ist eine ver·hältnis·mäßig große Anzahl von Helfern nötig, die sich zumeist unentgeltlich und auf der Basis lokaler Ver·bunden·heit für die Ver·an·stal·tung engagieren. Während des matsuri sind sie durch einheitliche Gewänder als zusammen·gehörige Gruppe gekenn·zeichnet. Matsuri haben somit eine wichtige Funktion in der Errichtung und Auf·recht·erhaltung eines lokalen Ge·mein·schafts·bewusst·seins, da ohne eine funktionierende mit dem Schrein (oder Tempel) in Verbindung stehende Gemeinde kein matsuri zustande kommen könnte.

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Ōkuninushi heilt den Hasen von Inaba, dem Meeresungeheuer (wani) das Fell abgezogen haben. Hokusai interpretiert Ōkuninushi als Daikoku und die wani als Krokodile.
Werk von Katsushika Hokusai (1760–1849). Edo-Zeit. Museum of Fine Arts, Boston.

Trotz des üblicherweise spektakulären Charakters von matsuri sollte ihr sakraler Aspekt nicht übersehen werden. Die Aus·gelassen·heit der Teilnehmer steht nur scheinbar im Wider·spruch zu religiöser Ernst·haftig·keit, oder genauer, sie schließt religiöse Ernst·haftig·keit keines·wegs aus. Vor allem die Vor·be·rei·tungen verlangen sowohl ge·wissen·hafte Arbeits·teilung als auch die Befolgung zeremonieller Tabu·regeln. Dies betrifft insbesondere die beteiligten Priester. Sie bereiten sich tradi·tio·neller·weise durch asketische Übungen und die Ein·haltung von Tabu·regeln (Vermeidung jeden Kontakts mit „Unreinem“) mehrere Tage oder Wochen auf das Fest vor, das ja im Grunde eine besondere Begegnung mit der gefeierten Gottheit darstellt.

Matsuri sind Zeiten, in denen die Regeln des Alltags aufgehoben sind. Das kann heiligen Ernst bedeuten oder exzessive Aus·ge·lassen·heit, in vielen Fällen beides. Diese scheinbare Wider·sprüch·lich·keit ist typisch, nicht nur für Japan sondern vielleicht für die Mehr·zahl aller kulturellen Aus·drucks·formen von Religion (vgl. Faschings- oder Fronleichnamsprozessionen). Die Ver·drängung des Exzesses, wie sie uns von christlicher Pietät und aufgeklärter Rationalität geprägten, modernen Europäern als selbst·verständlich erscheint, ist wohl eher die Aus·nahme als die Regel in der Kultur religiöser Feiern.

Religion in JapanAlltag
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Matsuri: Religiöse Volksfeste.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001