Jinmus Feldzug gegen Osten
Der erste „menschliche“ Vorfahre des japanischen Kaiserhauses, Jinmu Tennō [Jinmu Tennō (jap.) 神武天皇 wtl. „göttlicher Krieger“; gemäß den japanischen Mythen der erste menschliche Herrscher (Tennō) Japans; eigentlicher Name: Kami Yamato Iware-hiko no Sumera Mikoto 神日本磐余彦天皇 (Nihon shoki)], nimmt im Gründungsmythos des Landes einen wichtigen Platz ein, da er einen großen Teil Japans — von Kyūshū bis Yamato [Yamato (jap.) 大和/倭 Kernland der Tennō-Dynastie in Zentraljapan (Präfektur Nara); archaischer Name für Japan], der alten Hauptstadtregion — erstmals unter einer zentralen Macht vereint haben soll. Die Beschreibung dieses Feldzugs (Jinmu tōsei [Jinmu tōsei (jap.) 神武東征 Jinmus Eroberung des Ostens; Bezeichnung des legendären Feldzugs, durch den Jinmu Tennō Japan einigte], wtl. Jinmus Eroberung des Ostens) findet sich am ausführlichsten im Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] sowie in gekürzter, aber weitgehend identischer Fassung auch im Kojiki [Kojiki (jap.) 古事記 „Aufzeichnung alter Begebenheiten“; älteste jap. Chronik (712)]. In beiden Fällen gleicht die Erzählung, trotz vieler scheinbar historiographisch genauer Details, einer mythischen Heldenreise. Auf dieser Seite werden die wichtigsten Ereignisse überblicksartig zusammengefasst und abschließend historisch eingeordnet.
Werk von Adachi Ginkō (1853–1902?). Meiji-Zeit. Wikimedia Commons.
Feldzug
Jinmus Feldzug beginnt im Palast von Takachiho [Takachiho (jap.) 高千穂 Hochland im heutigen Kyūshū, wo der Himmelsenkel Ninigi herabgestiegen sein soll], einem Hochland in Kyūshū, wo bereits Jinmus Urgroßvater Ninigi [Ninigi (jap.) 瓊瓊杵 mytholog. Gottheit, Enkel Amaterasus] vom Himmel herabgestiegen war. Zusammen mit seinem älteren Bruder Itsuse [Itsuse (jap.) 五瀬 mythologischer Herrscher, Bruder des Jinmu Tennō; mit vollem Namen Hiko Itsuse no Mikoto 彦五瀬命] beschließt Jinmu, sein Reich zu erweitern. Insbesondere die Region Yamato, wo ein entfernter Verwandter namens Nigihayahi [Nigihayahi (jap.) 饒速日/邇芸速日 mythologische Gottheit; Urahn des Klans der Mononobe] — ebenfalls ein Abkömmling der himmlischen Götter — residieren soll, erweckt das Begehren der beiden Brüder. Sie machen sich daher per Schiff auf die Reise durch die japanische Inlandsee. Unterwegs verbringen sie in einigen wichtigen Häfen ausgedehnte Zwischenaufenthalte (und gewinnen dabei offenbar die lokalen Machthaber als Verbündete). Laut Nihon shoki dauert diese Fahrt über drei, laut Kojiki gar über 16 Jahre.
Bernhard Scheid, 2023.
Schließlich erreichen Jinmus Streitkräfte den Hafen von Naniwa [Naniwa (jap.) 難波 antike Hafenstadt und kaiserliche Residenz auf dem Gebiet des heutigen Ōsaka (Nanba)] (heute Ōsaka). Von hier aus stoßen sie auf dem Landweg ins nördliche Nara-Becken vor, wo sie bereits von den Kriegern eines lokalen Herrschers, Nagatsune-hiko [Nagatsune-hiko (jap.) 長髄彦 mythologischer Heerführer; Gegner des Jinmu Tennō], erwartet werden. Der erste Versuch, die Region zu erobern schlägt fehl, weil die Brüder von Norden kommend „gegen die Sonne kämpfen“. Als Abkömmlinge der Sonnengottheit erkennen sie darin ein missgünstiges Omen. Sie beschließen also einen vorläufigen Rückzug, um wieder per Schiff nach Süden zu ziehen und von dort aus anzugreifen. Auf dem Weg stirbt Jinmus älterer Bruder an einer Wunde, die ihm ein verirrter Pfeil in der ersten Schlacht beigebracht hat. Auch zwei weitere Brüder, die nur im Nihon shoki erwähnt sind, werfen sich in die Fluten, als Jinmus Schiff in Seenot gerät.1 Durch diese Selbstopfer gelingt es, die Göttinnen des Meeres, zu denen auch die mütterlichen Ahnen Jinmus zählen, günstig zu stimmen.
So landet Jinmu schließlich an der Südspitze der Halbinsel Kii [Kii Hantō (jap.) 紀伊半島 Halbinsel Kii, Wakayama-ken], in Kumano [Kumano (jap.) 熊野 Region im Süden der Halbinsel Kii (Wakayama-ken), bekannt für ihre alten Pilgerzentren (s. Kumano Sanzan)], von wo aus er sich durch die wilden Berge dieser Region wieder nach Yamato durchschlagen möchte. Kaum betritt er das Land, werden er und seine Krieger von feindlichen „Göttern“ (laut Kojiki in Bärengestalt)2 ihrer Sinne beraubt. Doch nun greifen endlich die Götter des Himmels ein und schicken Jinmu ein mythisches Schwert (es ist das Schwert des himmlischen Haudegens Takemikazuchi [Takemikazuchi (jap.) 建御雷 Mythologischer Schwertgott (wtl. Gewittergott); Ahnengottheit der Fujiwara; u.a. in den Schreinen Kashima und Kasuga verehrt], mit dem einst Ōkuninushi [Ōkuninushi (jap.) 大国主 mythol. Gottheit; wtl. Großer Meister des Landes] in Izumo zur Aufgabe seiner Herrschaft „überredet“ werden konnte). Wie von selbst machen die Götter von Kumano nun den Weg für Jinmu frei. Zusätzlich erhält Jinmu einen Führer durch die zerklüftete Bergwelt: die sagenumwobene Krähe Yatagarasu [Yatagarasu (jap.) 八咫烏 wtl. Achthand-Krähe, wahrscheinlich in der Bedeutung „Riesen-Krähe“; wird zumeist als dreibeinig dargestellt, was einem chinesischen Sonnensymbol entspricht; mythologische Gottheit, die v.a. in Kumano verehrt wird].
Als sich Jinmus und seine Mannen der Region von Uda [Uda (jap.) 宇陀 Region östlich des Nara-Beckens] und Yoshino [Yoshino (jap.) 吉野 Bergregion im Süden des Nara-Beckens mit mehreren Zentren der Bergasketen (yamabushi); wichtige Pilgerstätte der Heian-Zeit] südlich von Yamato nähern, stoßen sie auf neuerliche Gegenwehr. Ein lokaler Häuptling möchte Jinmu in eine Falle locken und lädt ihn zu einem Bankett, doch dessen jüngerer Bruder verrät die List und so wird der Häuptling gezwungen, in seine eigene Falle zu treten, um dann grausam getötet zu werden. Der nächste Stamm, auf den Jinmus Heer trifft, besteht laut Kojiki aus geschwänzten Erdspinnen (tsuchigumo [tsuchigumo (jap.) 土蜘蛛 Erdspinne; in den Mythen gelegentlich im Sinne von „Höhlenmensch“ bzw. „primitiver Ureinwohner“ gebraucht; in späteren Legenden als Spinnenmonster aufgefasst], womit vermutlich Höhlenbewohner gemeint sind).3 Auch das Nihon shoki berichtet hier von geschwänzten Ureinwohnern. Jinmu hat offenbar von seinen Widersachern gelernt und lädt nun seinerseits achtzig „Erdspinnen“ zu einem Bankett ein. Zur Unterhaltung trägt er selbst ein Lied vor, das jedoch einen versteckten Befehl an seine Mannen enthält, die Gäste zu erschlagen, was auch planmäßig gelingt. Mit diesem hinterhältigen Mord an achtzig lokalen Häuptlingen ist das Tor zum Yamato-Becken frei.
Werk von Tsukioka Yoshitoshi (1839–1892). Meiji-Zeit, Feb. 1880. Wikimedia Commons.
Schließlich trifft Jinmu erneut auf Nagatsune-hiko, jenen Heerführer, der ihn anfänglich besiegte. Wieder bedarf es eines göttlichen Zeichens, damit sich das Blatt zu Jinmus Gunsten wendet. Diesmal in Form eines goldenen Milans (kinshi [kinshi (jap.) 金鵄 goldener Milan; Vogel aus dem mythologischen Feldzug des Jinmu Tennō (Jinmu tōsei), der Jinmu in der letzten Schlacht zum Sieg führte; auch Bez. eines japanischen Ordens]), der sich auf Jinmus Bogen niederlässt und die Feinde mit seinen Strahlen blendet. Im folgenden Waffenstillstand stellt sich heraus, dass der oberste Stammesführer der feindlichen Heere Nigihayahi [Nigihayahi (jap.) 饒速日/邇芸速日 mythologische Gottheit; Urahn des Klans der Mononobe] ist, also jener entfernte Verwandte Jinmus, durch den dieser ursprünglich auf die Yamato Region aufmerksam geworden war.4 Nigihayahi ergibt sich, sobald die Verwandtschaftsverhältnisse geklärt sind. Als Beweis seiner Loyalität tötet er selbst seinen ehemaligen Verbündeten und Schwiegervater Nagatsune-hiko, als sich dieser Jinmu nicht unterwerfen will. Damit ist Jinmu der neue Herrscher auch dieser Region.
Schließlich bezieht Jinmu seine neue Residenz im Palast von Kashihara [Kashihara (jap.) 橿原 Ort im Nara-Becken, wo der legendäre erste japanische Kaiser, Jinmu Tennō, seinen Palast errichtet haben soll] und macht eine lokale Prinzessin von überragender Schönheit zu seiner Gemahlin. Laut Nihon shoki handelt es sich um eine Tochter der Izumo [Izumo (jap.) 出雲 alter Namen der Präfektur Shimane in West-Japan; auch kurz für Izumo Taisha]-Gottheit Kotoshiro-nushi [Kotoshiro-nushi (jap.) 事代主 mythol. Gottheit; Sohn und Thronfolger des Ōkuninushi; in etwa „Meister des Wortwissens“], laut Kojiki um eine Tochter des Gottes von Miwa [Miwa (jap.) 三輪 Ort im südl. Nara-Becken; wtl. „drei Ringe“; Kurzbez. für den Ōmiwa Jinja], Ōmononushi [Ōmononushi (jap.) 大物主 Gottheit des Schreins von [Ō]Miwa], der ebenfalls Bezüge zu Izumo aufweist. Jinmu hat jedoch bereits eine Familie in Kyūshū gegründet und sein ältester Sohn hat ihn während des gesamten Feldzugs begleitet. Bevor Jinmu schließlich im hohen Alter von 127 Jahren stirbt, bestimmt er einen Sohn seiner neuen Frau zum Nachfolger. Da der älteste Sohn aus Kyūshū sich diesem Beschluss nicht beugen will, kommt es bald nach Jinmus Tod zum Konflikt: Der jüngste Sohn Jinmus ist Manns genug, den älteren Halbbruder zu töten und tritt so Jinmus Erbe an. Ein derartiger Bruderzwist hat sich schon unter den Vorfahren Jinmus ereignet und wird auch für viele Generationen in der frühen Geschichte des Tennō-Hauses typisch bleiben. Interessanterweise nimmt die Erzählung dabei stets Partei für den Jüngeren.
Narrative Besonderheiten
Die beiden Originalquellen machen es insofern schwierig, dem Verlauf von Jinmus Feldzug zu folgen, als hier besonders viele Personen- und Ortsnamen genannt und mit Figuren aus der auktorialen Gegenwart in Beziehung gebracht werden. Dies entspricht aber dem Programm der kaiserlichen Chroniken, insbesondere des Nihon shoki: Die Erzählungen dienen als Rechtfertigung für Rang- und Aufgabenzuweisungen am frühen kaiserlichen Hof und sind insofern durchaus mit Gesetzestexten zu vergleichen. Welcher Urahn welchen Geschlechts was getan hat, beeinflusst die Stellung dieses Geschlechts bei Hof und die Chroniken dienen dazu, diese Verhältnisse zu fixieren. Jinmus Eroberungszug nimmt unter diesem Gesichtspunkt eine ähnlich bedeutende Rolle ein wie der „Abstieg des Himmlischen Enkelsohnes“, also seines Urgroßvaters Ninigi [Ninigi (jap.) 瓊瓊杵 mytholog. Gottheit, Enkel Amaterasus] (s. dazu auch Japans klassische Mythentexte).
Darüber hinaus wird zwischen den Zeilen immer wieder der potenzielle Konflikt zwischen Brüdern thematisiert. Grundsätzlich herrscht das Ideal der Primogenitur, also der Nachfolge des ältesten Sohnes in die Stellung des Vaters, doch Jinmu selbst ist der Jüngste von vier Brüdern. Glücklicherweise bleibt ihm eine direkte Auseinandersetzung um die Herrschaft erspart, da seine älteren Brüder alle im Verlauf des Feldzugs sterben. Doch auf seiten seiner Gegner gibt es überraschend viele Brüderpaare, von den sich der jüngere Jinmu unterwirft, während sich der ältere widersetzt und getötet werden muss. Man könnte dies auch so verstehen, dass der Yamato-Herrscher Adeligen, die durch Primogenitur benachteiligt sind, besondere Verdienste für besondere Loyalitätsbeweise in Aussicht stellt und seine Herrschaft festigt, indem er die Familien seiner Untergebenen spaltet.
In der Tat ist auch die politische Situation, in der die Erzählung von Jinmu vermutlich entstand, von Bruderzwisten geprägt: Die Abfassung der Chroniken begann nach allgemeiner Auffassung Ende des siebenten Jahrhunderts unter Tenmu Tennō [Tenmu Tennō (jap.) 天武天皇 631?–686; 40. japanischer Kaiser; (r. 673–686)], der erst den Sohn seines Bruders in einer Art Putsch beseitigen musste, um an die Herrschaft zu kommen. Viele Kämpfe dieser gewaltsamen Machtübernahme fanden in der Gegend des südlichen Nara-Beckens statt, wo auch Jinmus Kampf seinen Höhepunkt findet. Forscher nehmen heute an, dass die detaillierte Beschreibung dieser Regionen in der Jinmu-Episode diesem Umstand geschuldet ist und dass Jinmu und Tenmu in vielen Punkten sozusagen überblendet wurden.5
Schließlich zeichnet sich die Jinmu-Episode durch eine Reihe von speziellen Kampfliedern aus — die sogenannten kume-Lieder. Es sind spontan formulierte Reime von Jinmu selbst, die zumeist eine Mischung aus Stolz und Spott gegenüber den besiegten Feinden ausdrücken. Sie sind allerdings mit archaischen Wortspielen gespickt, die sich dem heutigen Verständnis nicht mehr zur Gänze erschließen. Doch wurden sie laut Nihon shoki in das frühe Musikprogramm des antiken Hofes integriert und unterstreichen daher ein weiteres Mal die besondere Bedeutung der Jinmu-Figur für den jungen Yamato-Staat.6
Moderne Rezeption
Im Laufe der Jahrhunderte verblasste die Figur des Jinmu wie überhaupt die japanischen Mythen an Bedeutung verloren. Doch mit der Restauration der Tennō-Herrschaft im späten neunzehnten Jahrhundert änderte sich die Lage. Der neue Meiji Tennō [Meiji Tennō (jap.) 明治天皇 1852–1912; 122. japanischer Kaiser (r. 1867–1912); Namensgeber und politische Symbolfigur der Meiji-Zeit; Eigenname: Mutsuhito] wurde häufig mit Jinmu identifiziert und die mythische Reichsgründung als nationale Großtat verherrlicht (s. dazu auch Kapitel Geschichte, Staatsshintō). 1873 führte man einen neuen Feiertag zum Gedenken an dieses Ereignis ein. Schon das Nihon shoki setzt die Fertigstellung von Jinmus Palast in Kashihara an einem Neujahrstag als den kalendarischen Beginn von Jinmus Herrschaft fest. Meiji-zeitliche Gelehrte errechneten, dass dies dem 11. Februar 660 vor der westlichen Zeitrechnung entsprach. Daher feiert man seither den Tag der japanischen Reichsgründung – zunächst Kigensetsu [Kigensetsu (jap.) 紀元節 ab 1873 Nationalfeiertag bzw. Reichsgründungstag Japans am 11. Februar; seit 1966 Kenkoku Kinen no Hi], heute Kenkoku Kinen no Hi [Kenkoku Kinen no Hi (jap.) 建国記念の日 wtl. Tag zum Gedenken an die Gründungen des Landes; japanischer Nationalfeiertag am 11. Februar] — am 11. Februar.
Schon kurz vor der Meiji-Restauration von 1868 unternahm das Tokugawa [Tokugawa (jap.) 徳川 Kriegerdynastie, die während der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603–1867) das Amt des Militärmachthabers (Shōgun) inne hatte.]-Shoguat die Rekonstruktion von Jinmus Grab ebenfalls in Kashihara. Auch ein Schrein zu Jinmus Ehren wurde errichtet. Beide Gedenkstätten bestehen bis heute und werden insbesondere durch das Kaiserhaus in Ehren gehalten.
Die Begeisterung für Jinmu erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1940, als Japan das Jahr 2600 seiner Reichsgründung feierte. Diese galt damals immern noch als unumstößliche Tatsache, zumindest aus offizieller Sicht. In diesem Jahr wurde der bekannte Historiker Tsuda Sōkichi [Tsuda Sōkichi (jap.) 津田左右吉 1873–1961; jap. Historiker und Religionswissenschaftler, in der Kriegszeit wegen kritischer Geschichtsauffassung unter Berufsverbot, später rehabilitiert], der die Historizität der kiki in mehreren Studien widerlegt hatte, der Majestätsbeleidigung angeklagt und musste seine Professur an der Waseda Universität räumen. Schließlich wurde er sogar zu einem mehrmonatigen Arrest verurteilt, nach dem Krieg aber als Held der Wissenschaft gefeiert.
Historizität
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es einen weitgehenden Konsens unter Fachleuten, dass die Figur Jinmus und seines Feldzuges Produkte der frühen Yamato-Propaganda sind, die sich eklektisch verschiedener mythologischer Elemente bediente. Es ist wahrscheinlich, dass sich unter diesen Elementen auch eine kulturelle Erinnerung an die Yayoi [Yayoi (jap.) 弥生 Yayoi-Zeit (ca. 300 v.u.Z. – 300 u.Z.); Zeit der Entwicklung des Reisanbaus]-zeitliche Besiedlung Japans durch Reisbauern befand, welche die Jäger- und Sammlerkulturen der Jōmon [Jōmon (jap.) 縄文 Jōmon-Zeit (bis ca. 300 v.u.Z.), jap. Urgeschichte; wtl. „Schnurmuster“, was sich auf die charakteristischen keramischen Ornamente dieser Zeit bezieht]-Zeit überlagerten. Möglicherweise gab es sogar am Beginn der kofun [kofun (jap.) 古墳 Hügelgrab der japanischen Frühzeit (ca. 300–700), wtl. „altes Grab“]-Zeit tatsächlich eine Dynastie aus Kyūshū, die in Zentraljapan ans Ruder kam.7 Doch dass es aus dieser Zeit eine direkte dynastische Linie bis zur eigentlichen japanischen Reichsbildung im sechsten und siebenten Jahrhundert gegeben haben soll, gilt unter heutigen Historikern einhellig als Konstruktion der kiki-Mythen.
Umso mehr werden die kiki als Dokumente der Zeit ihrer Entstehung, dem siebenten und achten Jahrhundert, geschätzt. Ein interessanter Punkt, der Rückschlüsse auf die geopolitische Situation des frühen Yamato-Reichs gestattet, ist die z.B. die Tatsache, dass Jinmu den größten Teil seiner Reise per Schiff absolviert, um letztendlich in einer vom Meer getrennten Binnenlandschaft sesshaft zu werden. Wenn man Jinmus Erzählung als den Endpunkt der Kyūshū-basierten Mythen begreift, deren Höhepunkt in der Vermählung von Himmlischen Göttern mit Töchtern des Meeresgottes besteht (s. Mythen/Goetter der Erde [[[glossar:mythen/goetter der erde|]] () ]), so könnte man in der gesamten Episode eine Schilderung des Übergangs von einer Wasser-und Fischerei-basierten Herrschaftsform — einer sogenannten Thalassokratie — zu einer agrarisch geprägten, landbasierten Herrschaft erblicken. Manches spricht dafür, dass es so eine Entwicklung tatsächlich am Beginn der japanischen Staatswerdung gab.
Auch die Schilderung fremder Ethnien in der Jinmu-Episode wird heute nicht auf die mythologische Zeit, sondern auf die lebendige Erinnerung der kiki-Autoren bezogen (wobei schon Aston anmerkt, dass geschwänzte Ureinwohner auch ein Stereotyp in chinesischen Quelle darstellen). Obwohl Jinmu sich selbst stets als von den Göttern auserwählten Kultur-Heroen darstellt, beweist seine Geschichte, dass seine Herrschaftsansprüche keinesfalls allgemein anerkannt sind und oftmals an der Realität seiner Zeit zu scheitern drohen. Dies könnte in der Tat auch noch zur Zeit der Abfassung der kiki für die Machtansprüche des Yamato-Staates gegolten haben.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Aston 1972, I, S. 115.
- ↑ Antoni 2012, S. 96.
- ↑ Antoni 2012, S. 101.
- ↑ Aston 1972, I, S. 128. Das Nihon shoki erzählt bereits am Anfang des Jinmu-Kapitels davon, dass Nigihayahi unabhänging von Ninigi vom Himmel herabgestiegen und in Yamato sesshaft geworden sei (ibid., S. 111).
- ↑ S. z.B. Duthie 2016 oder allgemeiner Scheid 2021b; für ältere Auslegungen der Jinmu-Episode s.u.a. die Anmerkungen von Klaus Antoni in Antoni 2012, S. 614–637.
- ↑ S. dazu Naumann 1981.
- ↑ Diesbezüglich gab es in der Nachkriegszeit die Aufsehen erregende Theorie von kontinentalen Reitervölkern (kiba minzoku), die nach Japan übersetzten und das Land unter ihre Herrschaft brachten. Dass es in der Tat mehrere Einwanderungswellen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit gab, gilt heute als erwiesen, dass jedoch eine konkrete, punktuelle Eroberung am Beginn der japanischen Geschichte stand, wird von der heutigen Archäologie und Frühgeschichte nicht bestätigt.
Literatur
Bilder
- ^ Jinmu Tennō und seine Getreuen auf dem Feldzug in den Osten (Jinmu tōsei) in den Bergen von Kumano. Ein Vasall (Michi no Omi) entdeckt die Krähe Yatagarasu, die den Helden als Bergführer von den Göttern gesandt wurde.
Werk von Adachi Ginkō (1853–1902?). Meiji-Zeit. Wikimedia Commons. - ^ Karte der wichtigsten Stationen des mehrjährigen Eroberungsfeldzugs von Jinmu Tennō von Takachiho in Kyūshū nach Kashihara, seiner Residenz in Yamato, auf der Grundlage von Kojiki und Nihon shoki. Die Ortsnamen korrespondieren teilweise mit heute noch existenten wichtigen Städten bzw Schreinen: Takachiho ist ein Gebirge in Miyazaki-ken; Usa ist wohl ein Vorläufer des Usa Hachiman-gū in Ōita-ken; Okada Jinja liegt nahe der Stadt Fukuoka; Takeri ist wohl der Take Jinja in Hiroshima-ken; Takashima muss in der heutigen Stadt Okayama gelegen haben; Naniwa ist der alte Name des heutigen Ōsaka; Kumano befindet sich in Wakayama-ken; Yoshino ist eine bekannte Region im südlichen Nara-Becken; lediglich Kashihara war lange Zeit in Vergessenheit geraten, wurde aber im 19. Jh. als Grabstätte Jinmus rekonstruiert.
Bernhard Scheid, 2023.
- ^ Die hier dargestellte Szene ist dem Nihon shoki entnommen. Dort heißt es, dass eine Schlacht gegen Ende von Jinmus Eroberungsfeldzug zugunsten dieses ersten Kaisers entschieden wurde, als sich ein goldener Raubvogel (kinshi, eine Art Milan oder Weihe, jap. tobi) auf Jinmus Bogen niederließ und die Feinde derart blendete, dass sie unfähig waren, Widerstand zu leisten. Diese Episode wurde in der Meiji-Zeit zum Anlass genommen, den höchsten militärischen Orden nach diesem goldenen Milan zu benennen. 1873 wurde außerdem im Gedenken an Jinmu ein Reichsgründungstag (Kigensetsu) als neuer nationaler Feiertag (11. Februar) festgesetzt.
Tsukioka Yoshitoshis Jinmu zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit dem damaligen Kaiser Meiji. Zweifellos versuchte der Künstler im Einklang mit dem Geist seiner Zeit, eine Beziehung zwischen dieser heldenhaften Vorzeit und dem neuen Regime unter Meiji Tennō herzustellen.
Werk von Tsukioka Yoshitoshi (1839–1892). Meiji-Zeit, Feb. 1880. Wikimedia Commons.
Glossar
- Itsuse 五瀬 ^ mythologischer Herrscher, Bruder des Jinmu Tennō; mit vollem Namen Hiko Itsuse no Mikoto 彦五瀬命
- Jinmu Tennō 神武天皇 ^ wtl. „göttlicher Krieger“; gemäß den japanischen Mythen der erste menschliche Herrscher (Tennō) Japans; eigentlicher Name: Kami Yamato Iware-hiko no Sumera Mikoto 神日本磐余彦天皇 (Nihon shoki)
- Jinmu tōsei 神武東征 ^ Jinmus Eroberung des Ostens; Bezeichnung des legendären Feldzugs, durch den Jinmu Tennō Japan einigte
- Kashihara 橿原 ^ Ort im Nara-Becken, wo der legendäre erste japanische Kaiser, Jinmu Tennō, seinen Palast errichtet haben soll
- Kenkoku Kinen no Hi 建国記念の日 ^ wtl. Tag zum Gedenken an die Gründungen des Landes; japanischer Nationalfeiertag am 11. Februar
- Kigensetsu 紀元節 ^ ab 1873 Nationalfeiertag bzw. Reichsgründungstag Japans am 11. Februar; seit 1966 Kenkoku Kinen no Hi
- kinshi 金鵄 ^ goldener Milan; Vogel aus dem mythologischen Feldzug des Jinmu Tennō (Jinmu tōsei), der Jinmu in der letzten Schlacht zum Sieg führte; auch Bez. eines japanischen Ordens
- Kotoshiro-nushi 事代主 ^ mythol. Gottheit; Sohn und Thronfolger des Ōkuninushi; in etwa „Meister des Wortwissens“
- Kumano 熊野 ^ Region im Süden der Halbinsel Kii (Wakayama-ken), bekannt für ihre alten Pilgerzentren (s. Kumano Sanzan)
- Meiji Tennō 明治天皇 ^ 1852–1912; 122. japanischer Kaiser (r. 1867–1912); Namensgeber und politische Symbolfigur der Meiji-Zeit; Eigenname: Mutsuhito
- Nihon shoki 日本書紀 ^ Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)
- Ōkuninushi 大国主 ^ mythol. Gottheit; wtl. Großer Meister des Landes
- Takemikazuchi 建御雷 ^ Mythologischer Schwertgott (wtl. Gewittergott); Ahnengottheit der Fujiwara; u.a. in den Schreinen Kashima und Kasuga verehrt
- Tenmu Tennō 天武天皇 ^ 631?–686; 40. japanischer Kaiser; (r. 673–686)
- tsuchigumo 土蜘蛛 ^ Erdspinne; in den Mythen gelegentlich im Sinne von „Höhlenmensch“ bzw. „primitiver Ureinwohner“ gebraucht; in späteren Legenden als Spinnenmonster aufgefasst
- Tsuda Sōkichi 津田左右吉 ^ 1873–1961; jap. Historiker und Religionswissenschaftler, in der Kriegszeit wegen kritischer Geschichtsauffassung unter Berufsverbot, später rehabilitiert
- Waseda Daigaku 早稲田大学 ^ zweitälteste Privatuniversität Japans, Gründung 1882 in Tōkyō
- Yamato Takeru 倭建/日本武 ^ Mythologischer Prinz, Sohn des Keikō Tennō; wtl. der Held/der Tapfere von Yamato
- Yatagarasu 八咫烏 ^ wtl. Achthand-Krähe, wahrscheinlich in der Bedeutung „Riesen-Krähe“; wird zumeist als dreibeinig dargestellt, was einem chinesischen Sonnensymbol entspricht; mythologische Gottheit, die v.a. in Kumano verehrt wird
Religion in Japan, Inhalt
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Dämonen
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Terauke-System
- Neo-Konfuzianismus
- Kokugaku
- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
- Anhang
- Metalog
- Konzept
- Autor
- Impressum
- Glossare
- Fachbegriffe-Glossar
- Bilder-Glossar
- Künstler-Glossar
- Geo-Glossar
- Ressourcen
- Literatur
- Links
- Bildquellen
- Suche
- Suche
- Feedback
- Anmelden
„Jinmus Feldzug gegen Osten.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001