Rituelle Verwünschungen
Legenden des japanischen Mittelalters belegen, dass die magische Macht des Buddhismus in der damaligen Vorstellungswelt ein wertfreies Mittel war, das auch für Zwecke eingesetzt werden konnte, die aus heutiger Sicht der reinen Lehre des Buddhismus widersprechen. Ein eindrucksvolles Beispiel findet sich in der Legende des Heian-zeitlichen Tendai-Mönchs Raigō.
Raigōs Rache

Raigō war ein Mönch aus den höchsten Adelskreisen, der dem Kaiser (Shirakawa Tennō) mit magischen Zeremonien und Gebeten zu Diensten war, als es darum ging, einen Thronfolger in die Welt zu setzen. Im Gegenzug sollte sein eigener Tempel (der Mii-dera), der stets unter dem Diktat des mächtigen Enryaku-ji auf Berg Hiei zu leiden hatte, eine eigene Ordinationsplattform (gleichbedeutend mit religionspolitischer Unabhängigkeit) erhalten.
Die Magie zeitigte den gewünschten Erfolg und dem Kaiser wurde tatsächlich ein Sohn geboren. Rivalisierenden Mönche des Enryaku-ji wussten allerdings zu verhindern, dass Raigō seine versprochene Belohnung erhielt. Aus Rache hungerte sich dieser zu Tode und vollzog dabei ein weiteres Mal magische Riten, um sich nach seinem Tod in einen Rachegeist (goryō) zu verwandeln. Als solcher nahm er die Form eine riesigen Ratte an und führte ein Heer von Artgenossen auf Berg Hiei, wo sie die Statuen und heiligen Schriften des Enryaku-ji auffraßen. Auch der Thronfolger starb noch im kindlichen Alter — für die Zeitgenossen ohne Zweifel das Resultat von Raigōs Fluch.


The Kuniyoshi Project.


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Die Geschichte des Raigō wird in den mittelalterlichen Kriegerepen Heike monogatari und Taiheiki erzählt, sie stellte aber auch den Stoff für Dramen des Nō- und Kabuki-Theaters dar und wurde schließlich ein beliebtes Motiv der ukiyo-e-Künstler.
Rituale im Krieg
Auch weniger literarische Texte belegen, dass buddhistische Magie keineswegs auf fromme Zwecke beschränkt war. Ein mittelalterlicher Ritualtext der Shingon-Schule erklärt, wie die Form eines Altars mit dem Anlass des Ritus in Verbindung steht, und verrät dabei, dass unter anderem auch Verwünschungen (von Feinden, gegen die man Krieg führte oder gegen die man einen Krieg plante) den Zweck von Ritualen darstellten:
Ein ringförmiger Altar wird gebraucht um Katastrophen zu verhindern; ein längliches Rechteck um Wohlstand und Langes Leben zu erhöhen; ein lotos-förmiger Altar dient für Liebe und Respekt; ein dreieckiger Altar dient für Verwünschungen [...]
Wenn Verwünschungen durchgeführt werden, muss der dreieckige Altar auf jeder Seite mit dem Bild einer Rüstung bemalt werden.
Nach Conlan 2003: 170.
Verweise
Literatur
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:
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Vor einem esoterischen Goma-Altar, eine vajra-Glocke in der Hand, bereitet Raigō seine Rache vor. Werk von Adachi Ginko. 1896
Bildquelle: ukiyo-e, (Artelino). - ^
Der Mönch Raigō vernichtet aus Enttäuschung über ein gebrochenes Versprechen wertvolle Sutrenrollen und widersetzt sich allen Versuchen der Beschwichtigung durch den Gelehrten Ōe no Masafusa. Werk von Utagawa Kuniyoshi (1798–1861). 19.Jh
The Kuniyoshi Project.
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Der Mönch Raigō verwandelt sich aus Rache nach seinem Tod eine riesige Ratte. Werk von Tsukioka Yoshitoshi. Meji-Zeit, 1891
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Glossar
Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite:
- Shingon-shū 真言宗 ^ Shingon-Schule, wtl. Schule des Wahren Wortes; wichtigste Vertreterin des esoterischen Buddhismus (mikkyō) in Japan
- Shirakawa Tennō 白河天皇 ^ 1053–1129; 72. Kaiser von Japan; (r. 1073–1087); übte ab 1087 als Ex-Kaiser im geistlichen Stand (daijō hōō) reale Macht aus und begründete damit die Regierung der Klosterkaiser (insei)
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Diese Seite:
„Rituelle Verwünschungen.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001