Jinnō shōtō-ki (Shintō-Klassiker, Teil 1)
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Das Jinnō shōtō-ki [Jinnō shōtō-ki (jap.) 神皇正統記 „Über die Wahre Abfolge der Göttlichen Herrscher“, Traktat von Kitabatake Chikafusa, 1339] („Über die Wahre Ab·folge der Gött·lichen Herrscher“) ist ein um·strit·tenes Werk. Um·strit·ten vor allem deshalb, weil es im neun·zehnten und frühen zwanzig·sten Jahr·hun·dert als Quell·text der so·ge·nann·ten Götter·land-Ideologie inter·pre·tiert wurde und als Recht·fer·tigung für den ja·pa·nischen Im·peria·lismus und Ultra-National·ismus diente. Auch als Quelle des Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami] wurde und wird das Werk immer wieder heran·gezogen. Es wurde mit anderen Worten als Beleg herangezogen, um Shintō mit Tennō-Loyal·ismus zu ver·knüpfen und diese Ver·bin·dung als essenziellen Be·stand·teil der ja·pa·nischen Kultur zu begründen. Auf dieser Seite werden die wichtigsten Ideologeme des Jinnō shōtō-ki vorgestellt und in ihrem historischen Kontext erklärt.
Autor und Zeitumstände
Der Autor, Kitabatake Chikafusa [Kitabatake Chikafusa (jap.) 北畠親房 1293–1354; Krieger und Gelehrter] (1293–1354), stammte aus der Familie der Minamoto, also einem der führenden Krieger-Klans des ja·pa·nischen Mittel·alters, und wurde in die Spät·zeit des von Minamoto no Yoritomo [Minamoto no Yoritomo (jap.) 源頼朝 1147–1199; Feldherr, Staatsmann, Begründer des Minamoto Shōgunats] begründeten Kamakura Shōgunats geboren. Dieses Regime stand vor allem durch die aufwendigen Ver·teidigungs·maß·nahmen gegen mögliche Angriffe der Mongolen unter zunehmenden Druck. In dieser Situation sah der ungewöhnlich tatkräftige Tennō Go-Daigo [Go-Daigo (jap.) 後醍醐 1288–1339 (r. 1318–1339); Tennō der späten Kamakura-Zeit, der versuchte, die pol. Autorität des Kaiserhofes wieder herzustellen.] eine Chance, das Kamakura Shōgunat zu stürzen und die Re·gierungs·gewalt wieder in die Hände des kaiserl·ichen Hofes zu überführen. Er erhielt dabei die Unter·stützung ver·schie·dener un·zu·frie·dener Krieger-Klans, selbst von Seiten·linien der Minamoto, u.a. von Kitabatake Chikafusa.
Einer von Chikafusas Verwandten, Ashikaga Takauji [Ashikaga Takauji (jap.) 足利尊氏 1305–1358; Feldherr, Staatsmann; regierte als erster Ashikaga Shōgun 1338–1358; älterer Bruder von Ashikaga Tadayoshi], zählte während der so·ge·nann·ten Kenmu-Restauration (1333–1336) zu Go-Daigos wichtigsten Feld·herrn. Takauji gelang es, das Kamakura Shōgunat endgültig zu stürzen, doch wandte er sich nach seinem Sieg gegen Go-Daigo. 1336 begründete er neuerlich ein Shōgunat, diesmal mit Sitz in Kyōto (Muromachi [Muromachi (jap.) 室町 Stadtteil in Kyōto; Sitz des Ashikaga Shōgunats 1336–1573 (= Muromachi-Zeit)]), und setzte einen Gegen·kaiser ein. Go-Daigo vermochte allerdings eine Exil-Regierung ins Leben zu rufen, der auch unser Autor, Chikafusa, angehörte. Von 1336–1392 gab es daher zwei kaiser·liche Dynastien, den Nord·hof in Kyōto, der nach der Pfeife der Ashikaga tanzte, und den Süd·hof in den Bergen von Yoshino (südlich des Nara-Beckens). Go-Daigos Exil·re·gier·ung war zwar politisch weit·gehend machtlos, aber doch stark genug, um nicht vom Ashikaga Shōgunat überrannt zu werden. 1392 kam es zu einer friedlichen Einigung zwischen den beiden Parteien.
Chikafusa, der die meiste Zeit seines Lebens an kaiser·lichen Höfen verbrachte, steuerte die Ideo·logie für die Loyalisten des Südhofes bei. Diese Ideol·ogie klingt bereits im Titel des Jinnō shōtōki (in etwa „Über die wahre/legitime Abfolge der Göttlichen Herrscher“) an. Es ist eine Kurz·dar·stellung der ja·pa·nischen Geschichte mit besonderer Betonung der Kontinuität — und daraus abgeleitet der einzig legitimen ja·pa·nischen Herr·schafts·form — des Tennō-Hauses. Chikafusa begann das Werk 1339, nach dem Tod Go-Daigos, als Unter·weisung für dessen Sohn und Nachfolger. Er selbst saß zu dieser Zeit in seiner von Ashikaga-Truppen belagerten Festung in Hitachi (Ostjapan) fest, wo er sich vier Jahre halten konnte, bis er schließlich an den Südhof in Yoshino floh und dort bis zu seinem Tod (1354) weitere Werke verfasste.
Kämpfer für den Tennō
Werk von Takamura Kōun (1852–1934). Meiji-Zeit, 1893. Tōykō Views, flickr, 2011.
Ähnlich wie Kitabatake Chikafusa schlugen sich auch andere Krieger sich auf die Seite von Tennō und Hof·adel und kämpften für eine Rückkehr zu den polit·ischen Ver·hält·nissen der Heian-Zeit, als der Krieger·stand dem Hofadel eindeutig untergeordnet war. Der in militärischer Hinsicht bekannteste Repräsentant dieser Loyalisten ist Kusunoki Masashige [Kusunoki Masashige (jap.) 楠木正成 1294?–1336; Feldherr und loyaler Gefolgsmann von Go-Daigo Tennō], der quasi das militärische Gegenstück zu Chikafusa darstellt. Auf politisch-militärischem Gebiet werden diesem Masashige vor allem zwei legendäre Leistungen zugeschrieben: 1331 machte er durch eine taktische Meister·leistung (die Ver·teidigung von Chihaya und Akasaka) den Aufstieg Go-Daigos überhaupt erst möglich. 1336 zog er auf seiten Go-Daigos gegen Ashikaga Takauji in die Schlacht, obwohl er wusste, dass er diesmal unterliegen würde. Er plädierte daher für eine Hinhalte-Taktik, doch da der Tennō nicht auf seinen Rat hören wollte, fügte er sich in sein Schicksal und starb in einem aus·sichts·losen Angriff. Die meisten anderen Generäle dieser Zeit wären in einer solchen Situation zur Gegen·seite übergelaufen. Aus diesem Grund gilt Masashige, insbesondere seit der Meiji [Meiji (jap.) 明治 posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt]-Zeit, als der Inbegriff des loyalen Untertanen in Japan.
Inhalt des Jinnō shōtō-ki
Groß-Japan ist ein Götter·land. Die himmlischen Ahnen begründeten es und die Sonnen·gottheit übergab seine Herr·schaft für ewig [an ihre Nachkommen]. Dies gibt es nur in unserem Land. Andere Dynastien haben nichts dergleichen. Deshalb nennt man dieses Land ein Götterland.1
Mit diesem berühmten Beginn des Jinnō shōtō-ki weist Chikafusa auf die göttliche Ab·stammung des Tennō (und davon abgeleitet auch der anderen Bewohner Japans) hin, wie dies in den alten Chroniken Kojiki [Kojiki (jap.) 古事記 „Aufzeichnung alter Begebenheiten“; älteste jap. Chronik (712)] und Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] beschrieben ist. Der Begriff Götterland (shinkoku [shinkoku (jap.) 神国 wtl. „Götterland“]) ist zwar keine Erfindung Chikafusas, wurde aber durch seine Schrift popularisiert.
Trotz dieser anscheinend „national·istischen“ Grund·haltung macht Chikafusa auch von chi·ne·sischen Quellen Gebrauch und beweist große Ge·lehr·sam·keit, wenn er ja·pa·nische und chi·ne·sische Geschichte mit·ein·ander in Beziehung bringt. Als Kind seiner Zeit glaubt er außerdem an die bud·dhis·tische Zeiten·lehre, nach der man sich in der End·zeit des bud·dhis·tischen Gesetzes (mappō [mappō (jap.) 末法 Endzeit des Dharma] oder masse) befände, und greift immer wieder auf die Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. gō 業)]-Theorie zurück, um seine Zeit·genossen vor un·moral·ischem Verhalten zu warnen.
In seiner geschicht·lichen Dar·stel·lung folgt Chikafusa aber der traditionellen japanischen Historio·graphie und strukturiert seine Erzählung entlang der „Regierungen“ der einzelnen Tennō, bis hin zu ihren gött·lichen Ahnen. Vor allem durch diese Struktur erhält der Text seine rote Linie, nach der der kaiser·liche Souverän den Brenn- und Angel·punkt aller geschicht·lichen Ereignisse des Landes dar·stellt. Dazwischen streut der Autor immer wieder persönliche Inter·preta·tionen ein, die Kontinuität als Spezifikum der ja·pa·nischen Geschichte heraus·streichen und daraus umgekehrt die Fort·dauer des imperialen Herrschafts·anspruchs legitimieren.
Kosmologie
Besonders am Anfang seiner Schrift versucht Chikafusa sein initiales Statement, dass Japan ein Götter·land sei, durch eine Er·ört·erung der Kosmo·logien und Kosmo·gonien der Drei Länder (Indien, China und Japan) zu untermauern. Dabei fällt eine besonders negative Sicht Chinas auf, die sich wohl aus den Zeit·umständen (die Angriffe der Yuan-Dynastie liegen kaum ein Menschen·alter zurück) erklären. Die bud·dhis·tische Lehre vom Weltenberg Sumeru [Sumeru (skt.) सुमेरु Weltenberg des indisch-buddhistischen Universums, üblicherweise sanduhrförmig dargestellt; auch: Meru (jap. Shumisen 須弥山)] wird dagegen durch·aus ernst genommen. Aus ihr schließt Chikafusa, dass Indien das Zentrum der von Menschen bewohnten Welt darstelle, während China und Japan lediglich periphere Reiche am Rand dieser Welt seien. Auch die bud·dhis·tische Lehre vom sukzessiven Welten·verfall (vgl. mappō [mappō (jap.) 末法 Endzeit des Dharma]) wird in anschaulichen Bildern wiedergegeben. Chikafusa scheint auch nicht zu bezweifeln, dass die Menschen gemäß der bud·dhis·tischen Lehre früher nahezu ewig lebten und um ein vielfaches größer waren als heute. Doch trifft dies scheinbar nur auf Indien zu, während für Japan die Welt·ent·stehungs·mythen der indigenen Chroniken gelten. Chikafusa lässt also die wider·sprüch·lichen Kosmogonien unter·schied·licher Denk·traditionen neben·ein·ander bestehen, um letzt·lich auf den für ihn wichtigsten Punkt zu kommen: Nur in Japan gibt es eine Herrschafts·dynastie, die sich bis auf den Anfang aller Zeiten zurück führen lässt. Die dynast·ische Ordnung Japans hat damit einen quasi natur·gesetz·lichen Charakter. In Indien und China hingegen sei es öfter vorgekommen, dass sich sogar Leute gemeinen Standes zum Herrscher aufschwangen.
Nach dem Klan des [ersten chinesischen Herrschers] Fuxi [Fuxi (chin.) 伏羲 Erster von drei mythologischen Herrschern in China, Begründer der chinesischen Kultur; jap. Fukugi] änderte sich der Klan-Name des Him·mels·sohnes sechs·und·dreißig Mal. Das Ausmaß dieser Un·ord·nung ist nicht zu beschreiben! Nur in unserem Land wurde von der Zeit, als Himmel und Erde sich teilten, bis zum heutigen Tag nie von der Sonnen·erbfolge (hitsugi) abgewichen. [...] Dieser Herr·schafts·auftrag der Leuchtenden Gottheit (Amaterasu) ist etwas, das [uns] von anderen Ländern unterscheidet.2
Im Folgenden geht Chikafusa detailliert auf die ja·pa·nischen Schöpfungs·mythen ein, identifiziert Kuni no Tokotachi als die erste Gott·heit und inter·pre·tiert alle weiteren im Sinne von Yin und Yang sowie den Fünf Wandlungen (gogyō [gogyō (jap.) 五行 Fünf Wandlungsphasen; Prinzip der chin. Naturphilosophie]). Chikafusas Nach·erzählung der Mythen des Götter·zeit·alters folgt weitgehend den antiken Schriften Nihongi, Kuji hongi und Kogo shūi (die damals als orthodoxe historische Quellentexte galten), doch schleichen sich gelegent·lich Varianten aus dem Ise Shintō ein, die in den klassischen Mythen fehlen. Man nimmt daher an, dass die Watarai Priester des Äußeren Ise Schreins zu Chikafusas Informanten in mythologischen Fragen zählten.
Anlässlich der ersten Erwähnung von Amaterasu [Amaterasu (jap.) 天照 Sonnengottheit; Ahnherrin des Tennō-Geschlechts; Hauptgottheit von Ise] betont Chikafusa, dass es sich um eine weibliche Gott·heit handelt (was auf dies·bezügliche Unsicher·heiten in der damaligen Rezeption schließen lässt). In der weiteren Nach·er·zählung der Mythen des Götter·zeit·alters beweist Chikafusa große Quellen·kompetenz und versteht es meisterhaft, die verschiedenen Erzähl·varianten der Mythen anzudeuten, ohne die Geschichte allzu verwirrend zu gestalten. Als Einführung in die japanische Mythologie ist der erste Abschnitt des Werks in der Tat didaktisch gut gestaltet.
Herrschaftsauftrag
Die mythologische Szene, in der Amaterasu ihrem Enkel Ninigi [Ninigi (jap.) 瓊瓊杵 mytholog. Gottheit, Enkel Amaterasus] zusammen mit den Drei Thron·in·signien den sogenannten Herr·schafts·auftrag mit auf den Weg gibt, stellt einen der Höhe·punkte in Chikafusas Ab·hand·lung der Mythologie dar. Auch in späteren Ab·schnit·ten greift er immer wieder auf diese Passage zurück. Sie wird zunächst wort·getreu nach dem Nihon shoki (Nebenvariante 1) wiedergegeben:
Sodann übergab Amaterasu die drei gött·lichen Schätze. Zuvor sprach sie zu ihrem Enkel: „Dieses Land der Schilf·gefilde von eintausendfünfhundert Herbsten von Reisähren soll von meinen Nach·kommen beherrscht werden. Geh du, mein erlauchter Enkel, hin und regiere es! Möge deine himmlische Dynastie blühen und gedeihen, unendlich wie Himmel und Erde!“ Dann nahm die Große Gott·heit den Schatz·spiegel in ihre Hände und übergab ihn dem erlauchten Enkel mit den Worten: „Mein Kind, wenn du in diesen Spiegel blickst, so sei es, als ob du mich anblicktest. An deinem Nacht·lager und in deinem Palast verehre ihn als heiligen Spiegel.“3
Im Anschluss finden sich mittelalterliche Aus·schmü·ckungen, die in den Quellen des Altertums fehlen:
Zusammen mit den Yakasaka Krummjuwelen und dem Schwert Ama no Murokumo sind dies die Drei Insignien. Weiters sprach Amaterasu: „Erfülle das Reich mit Licht, gleich diesem Spiegel, beherrsche das Reich mit Wundern, wie sich diese Juwelen vermehren, und vernichte die Unfolgsamen mit diesem Schwert.“4
Daran schließt der Autor folgende persönliche Interpretation an:
Man erkennt daraus, dass [die Drei Insignien] als göttliche Geister dieses Landes wahrhaftig die eine kaiserliche Linie darstellen. Die Weitergabe der Drei Insignien gleicht Sonne, Mond und Sternen am Himmel. Der Spiegel ist der Körper der Sonne. Die Juwelen sind der Geist des Mondes. Und das Schwert ist die Essenz der Sterne.4
Zu den Insignien und ihrer magischen sowie symbolischen Bedeutung finden sich noch weitere, dem esoterischen Diskurs der Zeit entsprechende Ausführungen.
In einer späteren Passage geht Chikafusa noch einmal auf die Reichs·insignien ein. Diese sind ja, wie auch andere Quellen berichten, teilweise in der See·schlacht von Dan no Ura (1185) zusammen mit dem Kind·kaiser Antoku im Meer versunken, wie auch Chikafusa berichtet. Doch seien es im Grunde nur Kopien gewesen. Die Originale von Spiegel und Schwert befänden sich in den Schreinen Ise und Atsuta, von deren Gottheiten die kaiserliche Dynastie weiter beschützt werden würde.
Mandat des Himmels
Als direkter Verwandter Chikafusas wird Minamoto no Yoritomo [Minamoto no Yoritomo (jap.) 源頼朝 1147–1199; Feldherr, Staatsmann, Begründer des Minamoto Shōgunats] naturgemäß sehr positiv dargestellt. Seine Shōgunats·regierung stimmte laut Chikafusa mit dem Willen Go-Shirakawas [Go-Shirakawa Tennō (jap.) 後白河天皇 1127–1192; 77. Kaiser von Japan (r. 1155–1158); stellte vor allem als Exkaiser im Mönchsstand ein wichtiges politisches Gegengewicht zu den Diktatoren Taira no Kiyomori und Minamoto no Yoritomo dar] (die dominante Figur innerhalb des kaiserlichen Haushalts im späteren 12. Jh.) überein und war daher legitim. Das Minamoto-Shōgunat wird im übrigen durch die chaotischen politischen Zustände gerechtfertigt, die wiederum den Taira zur Last gelegt werden.
In der Dar·stel·lung der fol·gen·den verworrenen Zeit·umstände taucht über·rasch·ender Weise das Konzept des him·mli·schen Mandats (tenmei [tenmei (jap.) 天命 „Mandat des Himmels“; konfuzianisches Konzept einer himmlischen Macht, die Herrscher oder Dynastien auf der Grundlage ihrer „Tugend“ einsetzt oder abberuft] oder ten'i) mehrmals auf. Klassische chi·ne·sische Kon·fuzianer fassten das Mandat des Himmels als eine Art Grund·kapital auf, mit Hilfe dessen eine neue Dynastie an die Macht gelangen konnte, das sie aber durch untugendhaftes Verhalten auch verspielen konnte. Der Kon·fuzia·nismus erklärte und recht·fertigte auf diese Weise den Umsturz historischer Dynastien. Ganz ähnlich argumentiert Chikafusa im Hinblick auf die Krieger·dynastien der Taira, Minamoto und Hōjō. Mit Ein·schrän·kungen gilt das Prinzip sogar für einzelne Mit·glieder der kaiser·lichen Dynastie. Doch kann kein Fehler eines Tennō so gravierend sein, dass die Dynastie selbst — nach dem Willen der kami — komplett ausgelöscht oder entmachtet wird.5
Am Ende des Werks kritisiert Chikafusa die Inflation an Rang·erhö·hungen, die seit der späten Heian-Zeit an Mitglieder des Krieger·standes vergeben wurden, und macht diese Praxis dafür verantwortlich, dass Krieger mehr Macht anstrebten, als ihrem an·gestamm·ten Status entsprach. Alle Unter·tanen, Krieger ein·geschlos·sen, müssten bereit sein, gege·benen·falls ihr Leben für den Tennō zu geben, ohne an Be·loh·nungen für ihre Ver·dienste zu denken. Die wich·tigsten Fak·toren, die für die Schwä·chung eines Regimes ver·ant·wort·lich gemacht werden können, sind über·zogene Ambi·tionen und Nicht·achtung des ange·stamm·ten gesell·schaft·lichen Status seitens der Unter·tanen. Diese Grundaussage ist zwar nicht besonders neu oder originell, doch sticht Chikafusas Werk dadurch hervor, dass er sie an so vielen Beispielen der japanischen Geschichte immer wieder demonstriert. Damit gelang ihm eine der ersten umfassenden Abhand·lungen der Geschichte Japans aus einer — letztlich sehr konser·vativen — geschichts·philoso·phischen Perspektive.
Rezeption durch die Nachwelt
Das Jinnō shōtō-ki erfuhr bereits in der Edo-Zeit große Beachtung und soll sogar die Große Geschichte Japans (Dai Nihon-shi [Dai Nihon-shi (jap.) 大日本史 Gesamtdarstellung der japanischen Geschichte bis 1392 in 397 Bänden, verfasst zw. 1657 und 1906]) der Mito-Schule inspiriert haben. In der Tat entstand dieses über zwei Jahr·hun·derte fortgeführte Mammut-Projekt aus einer ähnlichen Grund·haltung wie die Chikafusas. Angefangen von Tokugawa Mitsukuni [Tokugawa Mitsukuni (jap.) 徳川光圀 1628–1701; Daimyō von Mito, konfuzianischer Gelehrter und Historiker], Daimyo von Mito, waren die Mentoren dieses Projekts zwar ver·wandt·schaftlich mit dem Tokugawa Shōgunat verbunden, teilten aber dennoch die Auf·fassung, dass letztlich der Tennō der oberste Souverän des Landes sei und versuchten dies historisch zu belegen. Auch in Mito wollte man den Krieger·stand ein·schließ·lich des Shōgun im Dienste der gesamt·gesel·lschaft·lichen Ordnung klar unter die Herr·schaft des Tennō stellen.
Besonders ein·fluss·reich wurde das Jinnō shōtō-ki allerdings erst in der Meiji-Zeit. Im ersten quasi-universitären „Institut für Kaiserliche Studien“, das bereits 1868 gegründet wurde und stark von der kokugaku [kokugaku (jap.) 国学 „Lehre des Landes“, Nationale Schule, Nativismus; in der Edo-Zeit entstandene Gelehrtentradition, die ihren Fokus auf das nationale Erbe Japans richtete] geprägt war, stellte das Werk die erste geschicht·liche Quelle dar, mit der sich die Studenten aus·ein·ander·setzen sollten. Auch später blieb es ein wichtiger Be·stand·teil im Schul·unterricht.
Hermann Bohner
1932. Bildquelle: Adi Meyerhofer, über Internet Archive.
Während die Pioniere der west·lichen Japanologie das Jinnō shōtō-ki eher links liegen ließen, erlangte es in der Zwischen·kriegs·zeit zumindest in der deutsch·spra·chigen For·schung große Auf·merk·sam·keit. Verant·wort·lich dafür ist in erster Linie Hermann Bohner [Bohner, Hermann (west.) 1884–1963; deutscher Japanologe; ab dem Ersten Weltkrieg in Japan tätig] (1884–1963), der die meiste Zeit seines Lebens ab 1914 in Japan ver·brachte und zweifel·los der beste deutsch·spra·chige Japan·kenner seiner Generation war. Er über·setzte das Jinnō shōtō-ki 1935 ins Deutsche und verfasste eine Ein·leitung dazu, die mit knapp 190 Seiten um·fang·reicher als die Über·setzung selbst geriet. Darin schrieb er dem Werk eine ähn·liche Bedeu·tung für das aufkei·mende National·gefühl Japans zu wie dem Buch Das Dritte Reich (1923) von Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) für den deut·schen National·sozialis·mus. Der Vergleich des Jinnō shotō-ki mit einem wichtigen Propa·ganda·werk des National·sozialsmus war als Lob gemeint, nicht als Kritik. Dies lässt natürlich unzweifelhaft auf Bohners eigene national·sozialis·tische Grund·haltung schließen. Bohner repräsentierte damit die vorherrschende Geistes·haltung der damaligen deutsch·sprachigen Japano·logie. Selbst der Jesuit Johan·nes Kraus, der Begründer der renom·mierten Fachzeit·schrift Monumenta Nipponica, hob Bohners Über·setzung und Inter·preta·tion des Jinnō shōtō-ki in einer Rezension als ein „Bibel·buch der völkisch-nationalen Weltan·schauung Japans“ lobend hervor.6
Für viele Japaner dieser Zeit galt das Jinnō shōtō-ki als Inbegriff des „nationalen Wesens“ (kokutai [kokutai (jap.) 国体 Nationalwesen, wtl. „Landeskörper“]). In Über·ein·stim·mung mit solchen Inter·pre·tationen setzte auch Bohner Chikafusas Götter·land sowohl mit kokutai als auch mit Shintō gleich.7
Götterland und kokutai
Das Götter·land Konzept sagt im Grunde nicht viel mehr aus, als dass Japan seit Uranfängen von einer Dynastie göttlichen Ursprungs regiert werden würde. Diese Be·haupt·ung wurde im 19. und 20. Jahr·hun·dert auch als kokutai, als Essenz des japanischen Staates, definiert und/oder als Kern eines national·istischen Shintō-Begriffs angesehen. Das Wort Shintō taucht im Jinnō shōtō-ki zwar auf, wird aber — wie etwa Michael Wachutka gezeigt hat — nicht in der Bedeutung einer nationalen Religion verwendet. Der Begriff kokutai war Chikafusa überhaupt unbekannt. Moderne Nationa·listen aber bedienten sich dieser Begriffe, um die an sich recht simple Götterland-These des Jinnō shōtō-ki zu überhöhen und aus ihr einen universalen Herr·schafts·anspruch Japans abzuleiten. Sie verschwiegen dabei zumeist, dass Chikafusa bei seinen Zwischen·betrach·tungen der japanischen Geschichte auch Anleihen beim Bud·dhis·mus, dem Konfuzia·nismus und der chi·ne·sischen Natur·philosophie nahm.
Das wichtigste Argument sowohl bei Chikafusa als auch im modernen national·ist·ischen Diskurs ist die Kontinuität: Weil es die Herrschaft des Tennō immer gegeben hat, muss sie auch immer weiter bestehen. Chikafusa verschweigt dabei keines·wegs, dass es fähige und unfähige Herrscher gegeben habe. Er sieht vielmehr in der Tatsache, dass sich die Dynastie trotz aller Krisen behaupten konnte, einen Beweis dafür, dass sie unter göttlichem Schutz steht.8 Auch das moderne kokutai Konzept lässt sich, wenn man versucht, es von allen Mysti·zismen zu entkleiden, auf diesen simplen Tradi·tionalis·mus herunter·brechen.
Ein wesent·licher Unter·schied zwischen Chikafusas Position und dem modernen National·ismus besteht in der intendierten Leser·schaft und im intendierten Zweck: Chikafusa richtete seine Schriften an den Adel seiner Zeit und versuchte erfolglos, die traditionellen Hierarchien zwischen Hof und Schwert·adel wieder zu errichten, um die Kon·kurrenz zwischen den Kriegern einzudämmen. Die modernen National·isten hingegen richteten sich an die gesamte Be·völ·kerung und leiteten aus der unge·broche·nen Herr·schafts·linie eine Art Auftrag ab, die ganze Welt (oder zumindest ganz Asien) zu beherrschen.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Jinnō shōtō-ki 1, ü. B. Scheid nach Jinnō shōtōki, online (JS), S. 41/1.
- ↑ JS 1, S. 48/3–4.
- ↑ JS 1, S. 59/3.
- ↑ ab JS 1, S. 60/1.
- ↑ JS 3, S. 163/2.
- ↑ Monumenta Nipponica 1:1 (1938), S. 285.
- ↑ Bohner 1935; s.a. Wachutka 2013, S. 211–212.
- ↑ Das Jinnō shōtō-ki ist beispielsweise eine der ersten Quellen, die die Bedeutung der „göttlichen Winde“ (kamikaze) für die Abwehr der mongolischen Angriffe Ende des 13. Jh.s hervorhebt.
Internetquellen
- Jinnō shōtō-ki online, in JHTI-Ausgabe (user: jhti201099, pw: n99honsh99)
Literatur
Bilder
- ^ Standbild des Kusunoki Masashige, der besonders in der Meiji-Zeit als Inbegriff des Tennō-treuen Samurai verehrt wurde. Erstes und berühmtestes Reiterstandbild nach westlichem Muster. Entstand in Kooperation mehrer Bildhauer unter Führung Takamuras und japanischer Historiker.
Werk von Takamura Kōun (1852–1934). Meiji-Zeit, 1893. Tōykō Views, flickr, 2011.
- ^ Hermann Bohner war ein führender deutscher Japanologe, der ab 1914 den Großteil seines Lebens in Japan verbrachte.
1932. Bildquelle: Adi Meyerhofer, über Internet Archive.
Glossar
- Ama no murokumo no tsurugi 天叢雲剣 ^ legendäres jap. Schwert und Teil der drei Insignien der Tennō-Dynastie; auch Kusanagi no Tsurugi
- Antoku Tennō 安徳天皇 ^ 1178–1185; Kindkaiser und Enkel des Taira no Kiyomori, starb in der Seeschlacht von Dan-no-ura, die die Niederlage der Taira besiegelte
- Ashikaga Takauji 足利尊氏 ^ 1305–1358; Feldherr, Staatsmann; regierte als erster Ashikaga Shōgun 1338–1358; älterer Bruder von Ashikaga Tadayoshi
- Bohner, Hermann (west.) ^ 1884–1963; deutscher Japanologe; ab dem Ersten Weltkrieg in Japan tätig
- Dai Nihon-shi 大日本史 ^ Gesamtdarstellung der japanischen Geschichte bis 1392 in 397 Bänden, verfasst zw. 1657 und 1906
- Dan-no-ura 壇ノ浦 ^ Ort in der Meerenge von Shimonoseki (West-Japan), der vor allem für eine Seeschlacht im Jahr 1185 bekannt ist, welche die Niederlage der Taira im Genpei-Krieg besiegelte
- Go-Shirakawa Tennō 後白河天皇 ^ 1127–1192; 77. Kaiser von Japan (r. 1155–1158); stellte vor allem als Exkaiser im Mönchsstand ein wichtiges politisches Gegengewicht zu den Diktatoren Taira no Kiyomori und Minamoto no Yoritomo dar
- Jinnō shōtō-ki 神皇正統記 ^ „Über die Wahre Abfolge der Göttlichen Herrscher“, Traktat von Kitabatake Chikafusa, 1339
- Kenmu no shinsei 建武の新政 ^ Kenmu-Restauration; dreijähriges Interregnum zwischen Kamakura- und Muromachi-Shōgunat, 1333–1336; Versuch von Tennō Go-Daigo das Shōgunat zu stürzen und die Macht des Kaiserhauses wieder herzustellen
- Kitabatake Chikafusa 北畠親房 ^ 1293–1354; Krieger und Gelehrter
- Kuni no Tokotachi 国常立 ^ mythologische Urgottheit des Shintō
- Minamoto no Yoritomo 源頼朝 ^ 1147–1199; Feldherr, Staatsmann, Begründer des Minamoto Shōgunats
- Moeller van den Bruck, Arthur (west.) ^ 1876–1925; nationalistischer deutscher Kulturhistoriker und Autor
- Monumenta Nipponica (west.) ^ japanologisches wissenschaftliches Journal der Sophia Universität, Tōkyō; gegründet 1938 von Johannes Kraus
- Nihon shoki 日本書紀 ^ Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)
- sanshu no jingi 三種の神器 ^ die mythol. Drei Throninsignien des Tennō: das Schwert Kusanagi no Tsurugi, der Spiegel Yata no Kagami und die Krumm-Juwelen, Yasakani no Magatama
- Wachutka, Michael (west.) ^ (geb. 1974), deutscher Japanologe
- Yasakani no Magatama 八尺瓊曲玉 ^ Halskette aus Krummjuwelen (magatama); Teil der mythol. Throninsignien (sanshu no jingi) Japans
- Yata no Kagami 八咫鏡 ^ Spiegel; Teil der drei Throninsignien Japans
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„Jinnō shōtō-ki (Shintō-Klassiker, Teil 1).“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001