Niō-Wächterstatuen
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An den Eingängen großer Tempel begegnet man häufig paarweise aufgestellten Wächterfiguren. Sie werden niō [niō (jap.) 仁王 Wächterfigur, Torwächter] genannt, was wörtlich „barmherzige Könige“ bedeutet. Trotz dieses freundlichen Namens schauen sie stets finster und furchteinflößend drein. Auf dieser Seite werden einige repräsentative Beispiele vorgestellt und abschließend einige Überlegungen zur Geschichte der niō angestellt.
A und HUM (agyō/ungyō)
In der Darstellung der Torwächterpaare gibt es immer einen kleinen, aber signifikanten Unterschied: Einer hat den Mund geöffnet, der andere geschlossen. Der geöffnete Mund repräsentiert die erste Silbe des Sanskrit-Alphabets „A“, der geschlossene die letzte Silbe „HUM“ (jap. un, bzw. n). Zusammen ergeben die beiden Silbden das mantra [mantra (skt.) मन्त्र Gebetsformel (jap. shingon 真言)] a[h]um (vgl. „Alpha und Omega“), Anfang und Ende, die Gesamtheit aller Dinge. Die beiden niō werden daher auch als a-gyō [A-gyō (jap.) 阿形 Bez. für einen Typ von Wächtergottheit (niō) mit geöffnetem Mund; wtl. „A-Form“ (Figur, die ein „A“ ausspricht); Gegenstück von UN-gyō; im Fall von menschlichen Figuren zumeist mit einer aufbrausenden Geste (mudra) verbunden.] (A-Form) und un-gyō [UN-gyō (jap.) 吽形 wtl. „HUM-Form“; Figur, die das Sanskritzeichen „HUM“, jap. un, ausspricht, und daher mit geschlossenem Mund dargestellt wird; Gegenstück von A-gyō (offener Mund); im Fall von menschlichen Figuren zumeist mit einer beruhigenden Geste (mudra) verbunden; s.a. niō] (HUM-Form) bezeichnet. Diese Symbolik wird in Japan — im Gegensatz zu vergleichbaren Figuren in China — sehr konsequent durchgehalten und wurde auch auf andere Wächter mit ähnlicher Funktion, etwa die Löwenhunde (komainu [komainu (jap.) 狛犬 wtl. „Korea-Hund“, auch „Löwenhund“; Wächterfigur vor religiösen Gebäuden]) übertragen. Bei den niōs ist mit diesen beiden Formen auch ein charakterlicher Unterschied verbunden: A hat den Arm erhoben und erhebt einen Arm, bewaffnet mit einem vajra [vajra (skt.) वज्र „Donnerkeil“, Ritualinstrument und Symbol des tantristischen/esoterischen Buddhismus (jap. kongō 金剛)] im Angriff; HUM hält die Waffe (meist) gesenkt und führt eine beruhigende Geste aus. Der aktiv/passiv-Gegensatz lässt einen -Aspekt vermuten.
Hōryū-ji
Vorlage:WmaxX Die beiden niō des Hōryū-ji [Hōryū-ji (jap.) 法隆寺 Tempel in Ikaruga bei Nara, gegr. 607; wtl. „Tempel des prosperierenden [Buddha]-Gesetzes“] sind die ältesten buddhistischen Torwächterskulpturen Japans aus dem Jahr 711. Sie sind in unterschiedlichen Farben gehalten (rot und blau/grün), was sich auch in späteren Beispielen oft findet. Der aktivere a-gyō (rechts) ist üblicherweise rot, der kontrolliertere un-gyō (links) ist blau. Der un-gyō des Hōryū-ji trägt zudem eine Art Band, das seinen Mund verschließt.
Tōdaiji: Unkeis Wächter
Werk von Jōkaku, Tankei u.a. Kamakura-Zeit, 1203. Bildquelle: unbekannt.
Die beiden Wächter des Tōdaiji [Tōdaiji (jap.) 東大寺 Tempel des Großen Buddha von Nara; wtl. Großer Ost-Tempel], die den daibutsu [daibutsu (jap.) 大仏 wtl. „Großer Buddha“; monumentale Buddha-Statue] von Nara bewachen, sind mit etwa 8,5m Höhe die größten hölzernen niō in Japan. Sie stammen aus der Werkstatt des berühmten Bildhauermeisters Unkei [Unkei (jap.) 運慶 ca.1150–1223; berühmtester Bildhauer-Mönch der sog. Kei-Schule (Kei-ha), bekannt für einen besonders realistischen und zugleich dynamischen Stil] und wurden 1203 in nur 69 Tagen fertig gestellt. Die ganze Tempelanlage war 1181 im Zuge des Genpei [Genpei Gassen (jap.) 源平合戦 Krieg zwischen den Minamoto (Gen) und den Taira (Hei, bzw. Pei), 1180–1185]-Krieges abgebrannt. Die beiden Statuen entstanden also im Zuge von Renovierungsarbeiten an der Halle des Großen Buddha. Beide sind aus extrem vielen Holzteilen zusammengesetzt, da große Holzblöcke zu dieser Zeit rar waren.
Weitere Beispiele
Nihon no bi.
Bildquelle: automatography, flickr 2007 (bildbearbeitet).
Bildquelle: Ichinohe Shinya, 2007 (bildbearbeitet).
Werk von Takamura Kōun und Yonehara Unkai. Taishō-Zeit, 1918. Bildquelle: Yokohamanote.
Wikimedia Commons, 663highland, 2010.
Kaze ni fukarete, Blowing in the Wind.
Kaze ni fukarete, Blowing in the Wind, 2012.
Kaze ni fukarete, Blowing in the Wind.
Geschichtliches
Die Grundform der niō — einmal mit offenem, einmal mit geschlossenem Mund; einmal zum Angriff ansetzend, einmal abwehrend — ist in Japan über viele Jahrhunderte dieselbe geblieben. In China und Korea scheint der Gegensatz hingegen nicht auf. Es liegt also nahe, hier eine japanische Stilvariante anzunehmen. In den Tausend-Budda-Höhlen von Dunhuang [Dunhuang (chin.) 敦煌 Oasenstadt an der Seidenstraße zwischen dem Tarim-Becken und China; zumeist von China, aber zeitweise auch von Tibet beherrschtes Handelszentrum; buddhistisches Zentrum mit ausgedehnten Höhlentempeln], die über Jahrhunderte in Vergessenheit geraten waren und den Stand des chinesischen Buddhismus aus der Tang [Tang (chin.) 唐 chin. Herrschaftsdynastie, 618–907] und Song [Song (chin.) 宋 chin. Herrschaftsdynastie, 960–1279]-Zeit bewahrt haben, sind allerdings doch vergleichbare Beispiele zu finden, bemerkenswerterweise sogar auf Papier:
Diese Skizze ist wahrscheinlich jünger als die beiden oben gezeigten Torwächter des Hōryū-ji, sie beweist aber, dass es auch in Dunhuang, dem chinesischen Tor zur Seidenstraße im äußersten Westen des chinesischen Einflussgebietes, die gleiche niō-Ikonographie gab wie in Japan. Wie oft in der Geschichte der buddhistischen Kunst Ostasiens hat Japan offenbar Stilelemente der Tang-Zeit bewahrt, die in China selbst in Vergessenheit gerieten.
Der muskulöse Körper, der in der niō-Ikonographie so stark zum Ausdruck kommt, steht im Gegensatz zur androgynen Physis von Buddhas und Budhisattvas, die auch in den 32 Merkmalen des Buddha als ideal herausgestichen wird. In der Hierarchie der Buddha-Statuen entsprechen die Muskeln und die relativ aufgeregten Gesten der niō ihrem relativ niedrigen Rang. Die Ikonographie lässt sich wahrscheinlich auf die Figur des Herakles zurückführen, mit der der frühe Buddhismus auf seinem Weg durch Zentralasien zusammentraf (siehe dazu die Spezialseite Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus). Herakles musste aber als Leibwächter des Buddha eine deutliche Abwertung in Kauf nehmen.
Verweise
Verwandte Themen
Internetquellen
- Niō-san (jap.), Ujino Nakimaro
Umfangreiche Bildersammlung japanischer Niōs inklusive der jeweiligen Tore. - Kunisaki no sekizō niō (jap.), Blowin in the wind
Bildersammlung der Stein-Niōs in Nord Kyūshū.
Bilder
- ^ Wächterfigur (niō) des Typs A-gyō am Nandaimon. Photo vor 1988.
Werk von Unkei, Kaikei, u.a. Kamakura-Zeit, 1203. Bildquelle: unbekannt. - ^ Wächterfigur (niō) des Typs UN-gyō am Nandaimon. Photo vor 1988. Aus der Perspektive dieser Photographie wirkt der Kopf etwas zu groß. Dies wurde jedoch mit Absicht so ausgeführt, da die über acht Meter große Statue auf diese Weise von unten — also vom üblichen Blickpunkt aus — natürlicher wirkt. Man nennt diese Technik Anamorphose. Sie wurde in Japan bei vielen überdimensionalen Statuen angewendet, die für die Betrachtung aus einem nahen, tiefer gelegenen Winkel bestimmt waren. (S. z.B. den Kamakura Daibutsu.)
Werk von Jōkaku, Tankei u.a. Kamakura-Zeit, 1203. Bildquelle: unbekannt. - ^ Effektvoll beleuchteter niō auf dem Kōya-san.
Reggie Thomson, 2002. - ^ Beide niō sind ganz in rot.
Ron Reznick, 2008, bildbearbeitet (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Niō Wächterfiguren in rot.
Bildquelle: TOKYO VIEWS, (Matsui Fumio) flickr 2010. - ^ Niō des Typs UN-gyō in der Schreinanlage von Nikkō, rot bemalt (obwohl dieser Typus oft eine grünlich-bläuliche Hautfarbe hat).
Nihon no bi. - ^ Niō-Wächterstatuen. An diesen vergleichsweise jungen Beispielen, kann man die unterschiedliche Bemalung (Agyō — rot, Ungyō — blau) gut erkennen.
Bildquelle: automatography, flickr 2007 (bildbearbeitet). - ^ Niō-Wächterstatuen.
Foundation J.-E. Berger. - ^ Wie hier gut zu erkennen ist, sind die meisten Torwächter (niō) durch dünne Gitternetze geschützt, was leider oft ihre Sichtbarkeit reduziert.
Bildquelle: Ichinohe Shinya, 2007 (bildbearbeitet).
- ^ Niō-Paar des Zenkō-ji, des wichtigsten Tempels der Stadt Nagano. Trotz Beibehaltung der traditionellen Ikonographie sind hier die Einflüsse einer westlich-naturalistischen Körperdarstellung gut zu erkennen.
Werk von Takamura Kōun und Yonehara Unkai. Taishō-Zeit, 1918. Bildquelle: Yokohamanote. - ^ Hier ist die Körpersprache der beiden Wächterfiguren (niō) — UN-gyō (geschlossener Mund) beruhigend, A-gyō (offener Mund) aufbrausend — besonders gut zu erkennen.
Wikimedia Commons, 663highland, 2010. - ^ Niō mit besonders kräftigen Oberarmen.
Muromachi-Zeit, 1467. Shinbutsu imasu Ōmi. - ^ Rezente Plastiken von Tempelwächtern (niō) aus dem Gebiet von Kunisaki, Kyūshū, ein Gebiet, das für seine zahlreichen buddhistischen Steinskulpturen bekannt ist.
Kaze ni fukarete, Blowing in the Wind. - ^ Nio ninnaji.jpg
- ^ Diese beiden Torwächter (niō) scheinen per Handy miteinander zu kommunizieren.
Kaze ni fukarete, Blowing in the Wind, 2012. - ^ Wächterstatuen (niō) aus dem Gebiet von Kunisaki in Kyūshū. Diese beiden bewachen ausnahmesweise einen Shintō-Schrein, keinen buddhistischen Tempel. Trotz ihres eher schlichten Stils kann man erkennen, dass sich die essenziellen ikonographischen Details (Mund, Handgeste, Frisur, Schal) seit der Nara-Zeit bis auf den heutigen Tag gehalten haben. Nur die Waffe der niō, der einspießige vajra, scheint in diesem Fall der Korrosion zum Opfer gefallen zu sein.
Kaze ni fukarete, Blowing in the Wind. - ^ Nio dunhuang.jpg
Glossar
- Bodhisattva (skt.) बोधिसत्त्व ^ „Erleuchtetes Wesen“, Vorstufe zur vollkommenen Buddhaschaft (jap. bosatsu 菩薩)
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„Niō-Wächterstatuen.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001