Shimenawa: Grenzmarkierungen der Götter
Götterseile (shimenawa [shimenawa (jap.) 注連縄 shintōistisches „Götter-Seil“; geschlagene Taue aus Reisstroh.]) findet man häufig an torii [torii (jap.) 鳥居 Torii, Schreintor; wtl. „Vogelsitz“; s. dazu Torii: Markenzeichen der kami] oder an Schreingebäuden, sie werden aber auch verwendet, um eindrucksvolle natürliche Objekte, vornehmlich Bäume oder Felsen, als „heilige“, mit einer spirituellen Aura versehene Orte, zu kennzeichnen. Sie werden zumeist aus Reisstroh hergestellt und üblicherweise jährlich erneuert. Sie sind damit auch ein Sinnbild für den Wechsel von Kontinuität und Erneuerung im landwirtschaftlichen Produktionsprozess. Auf dieser Seite werden Bilder der verschiedenen Funktionen und Typen von Götterseilen vorgestellt.
Shimenawa an Gebäuden
tomosang, flickr, 2021.
Wenn shimenawa an Gebäuden angebracht sind, so meist über dem Eingang. Sie markieren dadurch — ähnlich wie torii — einen Übergang. In einigen Schreinen ist es in jüngerer Zeit zu einer shimenawa-Megalomanie gekommen, die Seile werden immer größer und dicker.
Üblicherweise tut es aber auch ein dünnes Seil. Fast immer sind Schmuckelemente in Form von Strohbündeln und/oder Zickzack-Streifen aus weißem Papier (shide [shide (jap.) 四手 Papierstreifen in Zickzackform, rituelles Emblem des Shintō]) in das Seil eingeflochten. Zu Neujahr werden shimenawa auch als Schmuckelemente privater Hauseingänge benützt.
Shimenawa an heiligen Bäumen
Wenn shimenawa einen Baum umschließen, so ist er damit als „heiliger Baum“ (shinboku [shinboku (jap.) 神木 Heiliger Baum]) gekennzeichnet, d.h. er besitzt eine Art von Göttlichkeit.
czarcats, flickr 2009.
Wikimedia Commons, 663highland, 2005.
Bernhard Scheid, flickr, 2013.
Chinowa, ringförmige Seile
Zu bestimmten jahreszeitlichen Reinigungszeremonien (harae [harae (jap.) 祓 Purifikation, Weihezeremonie, Exorzismus]) — meist am Ende des Sechsten Monats, manchmal aber auch am Ende des Zwölften Monats, also zum Jahreswechsel — errichten viele Schreine improvisierte, ringförmige Gebilde aus einer Art Schilfgras (chigaya [chigaya (jap.) 千萱/チガヤ Imperata cylindrica; eine Art Schilfgras, aus dem u.a. chinowa hergestellt werden, s.a. susuki] oder susuki [susuki (jap.) 芒/ススキ Miscanthus sinensis oder Chinaschilf; Schilfgras, das u.a. zur Herstellung von chinowa verwendet wird, s.a. chigaya]) namens chinowa [chinowa (jap.) 茅の輪 wtl. Ring aus Schilfgras; Schilfgraskranz zur rituellen Reinigung] (Schilfgraskranz). Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um enge Verwandte bzw. Varianten der shimenawa.
Yamahiko (Blog), 2012.
Chinowa sind dazu da rituell durchschritten oder „durchschlüpft“ zu werden. Zu diesem Zweck werden sie in torii eingepasst oder vor der Haupthalle eines Schreins mit Hilfe von Bambusgestellen aufgestellt. Das mehrmalige Durchschlüpfen der Ringe (chinowa kuguri [chinowa kuguri (jap.) 茅の輪くぐり Ritual, bei welchem man mehrmals durch einen Schilfgraskranz steigt, um Körper und Seele von Unreinheit und Krankheit zu befreien; wtl. Durchschreiten des Schilfgraskranzes]) soll rituelle Verschmutzungen entfernen und vor Krankheiten schützen.
Bildquelle: Sakai Misato, (Blog).
Die Praxis führt sich auf eine mythologische Erzählung zurück, laut der Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu] einst solche Schilfgraskränze an die Familie des armen Somin Shōrai [Somin Shōrai (jap.) 蘇民将来 Figur aus einer Legende, die auf das Bingo fudoki (Lokalchronik des 8. Jh.) zurückgeht; Glücksbringer] verteilte, da dieser den Gott gastlich aufgenommen hatte. Der reiche Bruder und seine Familie, die Susanoo abgewiesen hatten und keine Schilfkränze trugen, wurden von einer Epidemie hinweggerafft.1
Shimenawa im Sumō
Frühe Shōwa-Zeit, um 1940. Wikimedia Commons.
Shimenawa und shide spielen auch in der Symbolsprache des Sumō [Sumō (jap.) 相撲 japanischer Ringkampf]-Sports eine große Rolle. Der Sumō-Ring wird von einer Art shimenawa umschlossen. Am Beginn und Ende eines Wettkampfs treten die Ringer in besonders prächtigen Schürzen auf. Die ranghöchsten Ringer, Yokozuna, tragen zusätzlich auch shimenawa. Yokozuna [yokozuna (jap.) 注連縄 „Querseil“, zeremonielles Seil im Sumō; höchster Sumō-Rang] kann auch als „Querseil“ übersetzt werden und bezeichnet eben jenes shimenawa, das die Meister dieses Ranges bei zeremoniellen Anlässen tragen dürfen. Das Seil wird als Sitz einer Gottheit angesehen.
Heisei-Zeit, Jänner 2012. Wikimedia Commons, FourTildes, 2012.
Shimenawa in regionalen Riten
Bernhard Scheid, flickr, 2013.
VikingSlav, flickr 2005.
Shimenawa stehen nicht selten mit Fruchtbarkeitsriten in Verbindung. Sie symbolisieren dabei die Bande, die Mann und Frau an einander binden, also die Sexualität, die in der Landwirtschaft mit der Fruchtbarkeit des Bodens in Zusammenhang gebracht wird. Diese Symbolik scheint auch den berühmten „vermählten Felsen“ (meoto-iwa [meoto-iwa (jap.) 夫婦岩 wtl. Mann-Frau Felsen, auch „vermählte Felsen“; Felsformationen im Meer oder in den Bergen, die als Liebespaar interpretiert und um eheliche Harmonie, Kindersegen, aber auch um sichere Seefahrt, etc. angebetet werden; auch fūfu-iwa, meoto-ishi, u.ä.]) des Futami Okitama Schreins [Futami Okitama Jinja (jap.) 二見興玉神社 Schrein in der Bucht von Ise, nahe dem Ise Jingū, v.a. für seine pittoresken „vermählten Felsen“ (meoto-iwa) bekannt] in der Bucht von Ise [Ise (jap.) 伊勢 vormoderne Provinz Ise (heute Präfektur Mie); Stadt Ise; Kurzbezeichnung für die Schreinanlage von Ise Ise Jingū] zugrunde zu liegen.
Zeremonielle Herstellung eines Riesen-Götterseils
Die folgenden Bilder zeigen die Herstellung und Einweihung eines riesigen shimenawa, das hier dazu dient, eine eindrucksvolle Formation von Felsriffen als sakralen Ort zu kennzeichnen. Die Felsen gehören zur Schreininsel Hōjō Kashima [Hōjō Kashima (jap.) 北条鹿島 Schreininsel vor dem Hafen Hōjō in Ehime-ken, Shikoku; westlich der Insel befinden sich pittoreske Felsformationen (Iyo Futami), die jedes Jahr mit einem 45m langen shimenawa geschmückt werden] in der Präfektur Ehime, Shikoku. Ähnliche Zeremonien gibt es auch in anderen Teilen Japans.
Die Zeremonie findet jährlich Ende April oder Anfang Mai statt. Sie führt ihre Tradition auf Kōno Michinobu [Kōno Michinobu (jap.) 河野通信 1156–1223, Kriegsherr der Kamakura-Zeit; Großvater des Religionsgründers Ippen] (1156–1223), einen Feldherrn des Genpei [Genpei Gassen (jap.) 源平合戦 Krieg zwischen den Minamoto (Gen) und den Taira (Hei, bzw. Pei), 1180–1185]-Krieges zurück. Dieser soll durch die Herstellung des Riesenseils einen Drachengott, dessen Wohnort man auf der Schreininsel wähnte, um eine ruhige See gebeten haben. Die Insel befindet sich nahe einer ehemals strategisch wichtigen Meerenge der japanischen Inlandssee zwischen Honshū und Shikoku.
Die Felsen, die hier im Mittelpunkt der zeremoniellen Aufmerksamkeit stehen, erinnern nicht von ungefähr an die oben erwähnten „vermählten“ Felsen des Okitama Futami Schreins in der Bucht von Ise (s.0.). Daher ist diese Formation auch als Iyo Futami [Iyo Futami (jap.) 伊予二見 Felsformation vor der Schreininsel Hōjō Kashima in der Präfektur Ehime, Shikoku (einstmals Iyo); Futami ist eine Anspielung auf die „vermählten Felsen“ des Futami Okitama Jinja in der Bucht von Ise], das Futami von Iyo (= Präfektur Ehime), bekannt. Dies lässt vermuten, dass auch in diesem Fall der Verbindung der beiden Felsen eine sexuelle — bzw. auf glücksbringende Fruchtbarkeit hin ausgerichtete — Symbolik innewohnt.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Die Erzählung findet sich erstmals im Shaku Nihongi, einem Werk aus dem dreizehnten Jahrhundert, und wird dort der Provinzchronik von Bingo (Bingo fudoki) zugeschrieben.
Internetquellen
- setouchi-matsuyama.com, Dokumentation des Hōjō Kashima Matsuri, 2013/5/9
- Herstellung eines shimenawa, Wada Yoshio (jap.)
Photodokumentation eines Einweihungsfestes des Futamiwakamiya Schreins in der Präfektur Yamaguchi von Chiba Akio
Bilder
- ^ Shimenawa von diesen Ausmaßen findet man vor allem in Shimane-ken, in der Gegend des Izumo Schreins, doch auch der Miyajidake Schrein in Kyūshū teilt diese Tradition. Das Seil aus Reisstroh wird alle drei Jahre erneuert. Es ist 13,5 Meter lang, hat einen Durchmesser von 2,5 Metern und wiegt 5 Tonnen (Miyajidake Jinja). Ähnliche Dimensionen hat auch das shimenawa des Großschreins von Izumo (beide Schreine behaupten, im Besitz des größten zu sein).
tomosang, flickr, 2021. - ^ Shimenawa als Neujahrsschmuck
NanKuruNaiSa, flickr 2009. - ^ Eher dünnes Seil (shimenawa) mit prächtigem Zickzackpapier (shide) an einem Schreingebäude.
Bildquelle: unbekannt. - ^ Götterseil (shimenawa) eines Schreins im winterlichen Hokkaidō.
Tomo Yun, 2005. - ^ Vor diesem Baum wurde der unglückliche Shōgun Minamoto no Sanetomo (1192–1219) Opfer eines Mordanschlags. Der Mörder, sein eigener Neffe Kugyō (1200–1219), soll dem Shōgun im Schutz dieses Baumes aufgelauert haben. Ob der Baum damals allerdings schon groß genug dafür war, ist zweifelhaft. Im März 2010 fiel der Baum, welcher ein shimenawa trug und eines der Wahrzeichen von Kamakura darstellte, einem Taifun zum Opfer.
czarcats, flickr 2009. - ^ „Vermählte“ Kampferbäume, durch shimenawa als heilige Bäume (shinboku) markiert.
Wikimedia Commons, 663highland, 2005. - ^ Heiliger Kampferbaum (shinboku) mit shimenawa.
Tomo Yun, 2005. - ^ Heilige Zeder (shinboku) mit shimenawa. Yuki Jinja in der Anlage des Kurama-dera, ein buddhistischer Tempel im Norden Kyōtos.
Bernhard Scheid, flickr, 2013.
- ^ Das ringförmige Seil (chinowa) dient zur Purifikation (harae) und zur Abwehr von Krankheiten. Die kleinen Figuren am Scheitelpunkt des Seils sind sogenannte katashiro. Sie dienen als eine Art Sündenbock, um die Verunreinigungen der Teilnehmer an einem Purifikationsritus in sich aufzunehmen. Solche Figuren werden am Ende einer Reinigungszeremonie im Wasser ausgesetzt.
Yamahiko (Blog), 2012. - ^ Priester des Suwa Schreins beim Durchschreiten des Schilfgraskranzes (chinowa kuguri), dem zentralen Element der sommerlichen Reinigungszeremonie nagoshi no ōharae.
Bildquelle: Sakai Misato, (Blog). - ^ Portrait des Sumō-Ringers Futabayama Sadaji (1912–1968), 35. Großmeister (Yokozuna) des modernen Sumō, mit zeremoniellem shimenawa (yokozuna).
Frühe Shōwa-Zeit, um 1940. Wikimedia Commons. - ^ Sumō-Ringer Hakuhō mit zeremoniellem shimenawa (yokozuna) bei der Eröffnung (dōhyō-iri) eines Wettkampfs.
Heisei-Zeit, Jänner 2012. Wikimedia Commons, FourTildes, 2012. - ^ Ein „männlicher“ und ein „weiblicher“ Felsen (meoto-iwa) sind hier durch ein Götterseil (shimenawa) ehelich verbunden. Die Felsen gehören zum Futami Okitama Jinja, der sich in der Gegend der Schreinanlage von Ise befindet. Abgesehen von diesem lohnenden Fotomotiv hat der Schrein nicht allzu viel zu bieten, auch sind die Felsen bei direkter Besichtigung überraschend klein. Dennoch handelt es sich um eine seit der Edo-Zeit berühmte Sehenswürdigkeit in Ise.
Bernhard Scheid, flickr, 2013. - ^ Ungewöhnliche Darstellung einer Feldgottheit mit shimenawa.
Bildquelle: unbekannt. - ^ In diesem Fruchtbarkeitsritus (hōnen matsuri) werden die menschlichen Geschlechtsorgane durch shimenawa dargestellt. In der Szene auf dem Bild ist es gerade zur Vereinigung von Mann und Frau gekommen.
VikingSlav, flickr 2005.
Glossar
- chinowa kuguri 茅の輪くぐり ^ Ritual, bei welchem man mehrmals durch einen Schilfgraskranz steigt, um Körper und Seele von Unreinheit und Krankheit zu befreien; wtl. Durchschreiten des Schilfgraskranzes
- Futami Okitama Jinja 二見興玉神社 ^ Schrein in der Bucht von Ise, nahe dem Ise Jingū, v.a. für seine pittoresken „vermählten Felsen“ (meoto-iwa) bekannt
- Hōjō Kashima 北条鹿島 ^ Schreininsel vor dem Hafen Hōjō in Ehime-ken, Shikoku; westlich der Insel befinden sich pittoreske Felsformationen (Iyo Futami), die jedes Jahr mit einem 45m langen shimenawa geschmückt werden
- Iyo Futami 伊予二見 ^ Felsformation vor der Schreininsel Hōjō Kashima in der Präfektur Ehime, Shikoku (einstmals Iyo); Futami ist eine Anspielung auf die „vermählten Felsen“ des Futami Okitama Jinja in der Bucht von Ise
- Kōno Michinobu 河野通信 ^ 1156–1223, Kriegsherr der Kamakura-Zeit; Großvater des Religionsgründers Ippen
- Somin Shōrai 蘇民将来 ^ Figur aus einer Legende, die auf das Bingo fudoki (Lokalchronik des 8. Jh.) zurückgeht; Glücksbringer
Religion in Japan, Inhalt
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Dämonen
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Terauke-System
- Neo-Konfuzianismus
- Kokugaku
- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
- Anhang
- Metalog
- Konzept
- Autor
- Impressum
- Glossare
- Fachbegriffe-Glossar
- Bilder-Glossar
- Künstler-Glossar
- Geo-Glossar
- Ressourcen
- Literatur
- Links
- Bildquellen
- Suche
- Suche
- Feedback
- Anmelden
„Shimenawa: Grenzmarkierungen der Götter.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001