Die Zehn Richterkönige und das buddhistische Totenreich
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Wenn ein Mensch stirbt, folgt laut gängigen buddhistischen Vorstellungen eine bestimmte Zeit, in der Lohn und Strafe seiner irdischen Existenz nach den Gesetzen des
„Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. gō 業)
Der Begriff „Karma“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
festgestellt werden. Diese Übergangsperiode, die u.a. als das „mittlere Dunkel“ (
wtl. mittlere Dunkelheit; Totenwelt; Übergangsperiode zwischen zwei Phasen der Wiedergeburt; im engeren Sinne: sieben mal sieben Tage nach dem Tod
Der Begriff „chūin“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
) bezeichnet wird, entscheidet über Ort und Form der zukünftigen Wiedergeburt. Sie bildet also das eigentliche Totenreich und wird in den meisten buddhistischen Richtungen mit besonderer ritueller Aufmerksamkeit bedacht. Im chinesischen Buddhismus entstand zudem die Vorstellung von einer Art Karma-Gerichtshof, der dieses Reich beherrschte und mit sämtlichen Schrecken ausgestattet war, den eine autoritäre vormoderne Gerichtspraxis nur aufbringen konnte.
Tang Zeit, 10. Jh. The British Museum.
Die Vorstellung von den Zehn Königen wurde vor allem durch einen in vielen Ver·sionen über·lieferten Text ver·breitet, der land·läufig als Sutra der Zehn Könige (jap.
) bekannt ist. Die Urform des Textes entstand in der chine·sischen Tang Zeit, wahr·schein·lich im 8. oder 9. Jahrhundert. Die ältesten Kopien des Textes und der begleitenden Abbildungen finden sich in
Oasenstadt an der Seidenstraße zwischen dem Tarim-Becken und China; zumeist von China, aber zeitweise auch von Tibet beherrschtes Handelszentrum; buddhistisches Zentrum mit ausgedehnten Höhlentempeln
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Geographische Lage
, also im Nordwesten Chinas, wo über die Seidenstraße auch der Buddhismus in China Eingang fand.1
In Japan wurde die Toten·welt schließlich in Werken wie dem
Der Begriff „Ōjō yōshū“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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(985) oder dem Jizō jūō-kyō (um 1200?) weiter aus·differen·ziert.
Furcht und Terror
Die Zehn Könige herrschen jeweils über einen eigenen Gerichtshof und werden bereits auf den frühesten Darstellungen in chinesischen Amtsroben dargestellt. Ihnen zur Seite stehen Kerkergehilfen, die als Mischwesen von Mensch und Tier erscheinen und jederzeit zu sadistischen Foltern aufgelegt sind. Die Seelen der Verstorbenen, um nicht zu sagen „die armen Sünder“, scheinen vor diesem Gericht beinahe chancenlos. Ihre Behandlung unterscheidet sich nur geringfügig von den Qualen der Hölle, wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit landen werden. Auf der Ebene der Zehn Könige und ihrer Gerichtshöfe ist von Nirvana, Barmherzigkeit und Errettung aller Lebewesen kaum mehr die Rede. Hier geht es lediglich darum, dem schlimmsten Terror zu entkommen, den ein Leben, das nicht komplett den karmischen Grundsätzen entspricht, zwangsläufig nach sich zieht.
Der Übergang vom Totenreich zur Hölle ist – zumindest ikonographisch – ein fließender. Die Jenseitsvorstellungen des traditionellen sino-japanischen Buddhismus scheinen daher ebenso angstbesetzt zu sein wie die christlichen. Barmherzigkeit ist lediglich von Bodhisattva
wtl. Schatzhaus/Mutterleib der Erde; skr. Kṣitigarbha; populäre Bodhisattva Figur
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zu erwarten, der manchmal als eine Art Vorgesetzter, manchmal als ein Gegenspieler der Zehn Könige in Erscheinung tritt. Die Popularität Jizōs in China und Japan ist also eng mit der Furcht vor den Zehn Königen verbunden.
Topographie des Totenreichs
Die Vorstellungen der Zehn Könige geben nicht nur über die in der Totenwelt verbrachte Zeit Auskunft, sondern enthalten auch bestimmte räumliche Vorstellungen über das Jenseits. Zweifellos ist es ein Ort unter der Erde, ähnlich wie die Hölle (
wtl. „[unter]irdischer Kerker“, buddhistische Hölle
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), die ja wörtlich ein „Erdkerker“ ist. Auch der Name Jizō bedeutet wörtlich „Erdbunker“ – ein Hinweis auf die lange Verbindung dieses Budhisattvas mit dem unterirdischen Reich der Toten.
Ähnlich wie im alten Griechenland ist das Jenseits vom Diesseits durch einen Fluss getrennt, der in Japan der Fluss der drei Furten genannt wird. Die ersten Gerichthöfe liegen wohl noch in der Nähe des Flusses, denn der Name des zweiten Königs lautet „Erste Bucht“. Unter den weiteren Königen ist neben Enma-ō, dem König des fünften Hofes – der auch als Einzelfigur verehrt wird und daher auf einer anderen Seite ausführlich beschrieben ist – vor allem Taizan-ō, der König des Taishan (siebenter Hof) hervorzuheben. Der Berg Taishan existiert tatsächlich in China und gilt als wichtigster der fünf heiligen Berge des Daoismus. Er ist u.a. Sitz einer Gottheit, die die Totenwelt beherrscht. Die beiden Figuren Enma und Taizan-ō sind ein weiterer Hinweis auf die Überblendung von chinesischen und indischen Jenseitsvorstellungen in der Ausgestaltung des karmischen Gerichts.
In Japan kam schließlich noch die „Alte, die [den Toten] die Kleider auszieht“ (
wtl. die Alte, die die Kleider wegnimmt; Dämonin des Totenreichs
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) hinzu. Sie bestimmt die Schuld der Toten, indem sie ihre Kleider abwiegt und vermittelt ihnen dabei bereits einen Vorgeschmack auf die kommenden Torturen.
Totengericht und Totenriten
Das buddhistische Totenreich ist wie gesagt eine Art Fegefeuer, in dem der endgültige Ort der Wiedergeburt noch nicht fixiert ist. Während die Totenseele das Totenreich durchwandert, haben die Hinterbliebenen die Möglichkeit und in gewisser Weise sogar die religiöse Pflicht, die Entscheidung des karmischen Gerichts durch Riten und Opfergaben zu beeinflussen.
Es ist also kein Zufall, dass die Vorstellung der Zehn Könige eng an das Ritualwesen für die Toten gekoppelt ist. Die Rituale im Diesseits finden nämlich immer dann statt, wenn die Verstorbenen im Jenseits vor einen neuen Richter treten. Dies geschieht zunächst alle sieben Tage nach dem Ableben, bis sieben mal sieben Tage herum sind.2
Dann verlangsamt sich der Rhythmus und man tritt nur noch einmal nach hundert Tagen und dann nach einem Jahr vor einen neuen Richter. Im dritten Jahr nach dem Tod absolviert man das letzte Gericht und wird danach in ein neues Leben (in einem der Sechs Wege der Wiedergeburt,
wtl. die Sechs Wege = Bereiche der Wiedergeburt
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) entlassen.3 Es herrscht demnach die Auffassung, dass man das Urteil der Richter vom Diesseits aus mindestens zwei Jahre lang beeinflussen kann. Ja, man kann sogar für das eigene Seelenheil Vorsorge treffen, indem man bereits zu Lebzeiten rituelle Opfer an die Zehn Könige richtet. Implizit bedeutet das: Je mehr rituellen Aufwand man betreibt, umso besser sieht es im nächsten Leben aus. Die Richterkönige paktieren insoferne mit dem diesseitigen Klerus und lassen sich durch Wohltaten, die man diesem erweist, bestechen.
Fairerweise muss einschränkend dazu gesagt werden, dass die Vorstellung der Zehn Könige in keiner buddhistischen Schule kanonischen Status erlangte. Das heißt, dass die diversen Sutren der Zehn Könige nie in eine
„Drei Körbe“, kanonische Schriften des Buddhismus (jap. Sanzō 三蔵)
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-Sammlung aufgenommen wurden, also nicht unbedingt als authentische Worte Buddhas galten. Zweifellos waren sich zumindest gebildete Buddhisten bewusst, dass das chinesische Gepräge der jenseitigen Gerichtshöfe der indischen Herkunft von Buddhas Lehren widersprach.
Das hinderte die meisten buddhistischen Schulen jedoch nicht, den Kult der Zehn Könige bzw. des Richterkönigs Enma tatkräftig zu verbreiten. Lediglich die
Shin-Buddhismus, bzw. Jōdo Shin-Buddhismus; wtl. „Wahre Schule des Reinen Landes“
Der Begriff „Jōdo Shinshū“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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war stets der Meinung, dass man das Nachleben seiner Ahnen nicht beeinflussen könne und lehnte schon aus diesem Grund den Glauben an die Zehn Könige kategorisch ab.
Dreizehn Buddhas
Muromachi-Zeit, 1553. Itoshiki monotachi, (Blog) 2006.
In der japanischen
Stadtteil in Kyōto; Sitz des Ashikaga Shōgunats 1336–1573 (= Muromachi-Zeit)
Der Begriff „Muromachi“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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-Zeit fügte man den chine·si·schen Grund·mustern schließ·lich noch wei·tere Toten·ge·denk·feiern hinzu, näm·lich den sieben·ten Gedenk·tag (sechs Jahre nach dem Tod), den drei·zehnten Gedenk·tag und den drei·und·dreißigs·ten Gedenk·tag. Dies ergab die Not·wendig·keit, drei weitere Gerichts·höfe im Toten·reich zu kon·struie·ren, sodass sich ein Set von Drei·zehn Königen ergab. Diese Könige erhiel·ten über·dies jeweils eine ent·spre·chende Urform, also einen
Der Begriff „honji“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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-Buddha, woraus sich wiederum ein Set von Dreizehn Buddhas ergab, das eben·falls rituell ver·ehrt werden konnte. Dar·stel·lungen dieser Dreizehn Buddhas sind noch heute ver·einzelt auf Fried·höfen zu finden.
Der dreiunddreißigste Todestag wird zwar meist nicht mehr mit dem gleichen Aufwand ge·feiert, wie die frü·he·ren Todes·gedenk·tage, in vielen japani·schen Haus·halten wird er jedoch zum Anlass genom·men, die Toten·täfel·chen (
Ahnentäfelchen
Der Begriff „ihai“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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) der ent·sprechen·den Ahnen aus dem Haus·altar zu ent·fernen (da die Verstor·benen ja spä·testens jetzt eine neue Exis·tenz·form gefun·den haben).
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Teiser, The Scripture on the Ten Kings, S. 9. Chinesische Vorläufer lassen sich bis in das Jahr 664 zurück verfolgen (idid., S. 48).
- ↑ Diese sieben mal sieben Tage finden sich schon in Indien. Eine indische Erklärung besagt, dass sich den Wesen im Totenreich nur alle sieben Tage die Chance bietet, in eine neue irdische Existenz zu schlüpfen. Man kann also theoretisch auch schon nach den ersten sieben Tagen wiedergeboren werden (Teiser 2003, S. 24). Auch in heutigen buddhistischen Totenriten wird diese Folge von Totengedenken noch berücksichtigt. Insbesondere die Periode von sieben mal sieben Tagen gilt als die eigentliche buddhistische Trauerzeit.
- ↑ Die letzten drei Feiern — zum hundertsten Tag, zum ersten und zum zweiten Jahrestag des Ablebens — scheinen auf vorbuddhistische chinesische Bräuche zurück zu gehen. Auch sonst sind vorbuddhistisch-chinesische und indische Bräuche im Kult der Zehn Könige perfekt überblendet. (Vgl. Teiser, S. 25–26.)
Literatur
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- ^ Jizō und die Zehn Könige (Jūō). Deckblatt einer illustrierten Ausgabe des Sutras der Zehn Könige. Aus Höhle 17 der sogenannten „Tausend Buddha Höhlen“.
Tang Zeit, 10. Jh. The British Museum. - ^ Jizō inmitten der Gruppe der Zehn Richter/Könige (Jūō) der Unterwelt.
Heian-Zeit. Bildquelle: Prismo, 2010 (bildbearbeitet).
- ^ Die dreizehn Buddhas gelten als Urformen von dreizehn Königen, die über die Totenseelen richten. Grabmonumente wie dieses finden sich auf Friedhöfen häufig neben Darstellungen der Sechs Jizō, die ebenfalls einen besonderen Bezug zum Jenseits haben.
Muromachi-Zeit, 1553. Itoshiki monotachi, (Blog) 2006.
Glossar
- Bodhisattva (skt.) बोधिसत्त्व ^ „Erleuchtetes Wesen“, Vorstufe zur vollkommenen Buddhaschaft (jap. bosatsu 菩薩)
- Godō Tenrin-ō 五道転輪王 ^ „König, der das Rad der Fünf Wege dreht“; letzter der Zehn Könige der Totenwelt (Jūō)
- Jizō jūō-kyō 地蔵十王経 ^ „Das Sutra von Jizō und den Zehn Königen“, um 1200?
- Jōdo Shinshū 浄土真宗 ^ Shin-Buddhismus, bzw. Jōdo Shin-Buddhismus; wtl. „Wahre Schule des Reinen Landes“
- Kawanabe Kyōsai 河鍋暁斎 ^ 1831–1889; Künstler und Karikaturist Ende Edo-, Anfang Meiji-Zeit
- Kṣitigarbha (skt.) क्षितिगर्भ ^ „Schatzhaus/Mutterleib der Erde“, populärer Bodhisattva (jap. Jizō 地蔵)
- Nihon ryōiki 日本霊異記 ^ „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)
- Śākyamuni (skt.) शाक्यमुनि ^ „Der Weise des Shakya-Klans“, buddhistischer Name des historischen Buddha (Gautama Siddhartha) (jap. Shaka 釈迦 oder Shakamuni 釈迦牟尼)
- Tsongkhapa (tibet.) ཙོང་ཁ་པ་བློ་བཟང་གྲགས་པ་ ^ 1357–1419; tibetischer Mönchsgelehrter, Begründer der Gelug-Schule, der heute dominanten Richtung des tibetischen Buddhismus
- xiezhi guan (chin.) 獬豸冠 ^ Amtskappe des obersten Gerichtsbeamten im alten China; wtl. „Einhorn-Kappe“, abgeleitet vom Symboltier der chinesischen Justiz, dem Einhorn xiezhi
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„König Enma und sein Totengericht.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001