O-mairi: Tempel- und Schreingang
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Was tut man in Japan, wenn man sich zu einem religiösen Gebäude begibt? Und zu welchem Zweck sucht man ein religiöses Gebäude auf? In diesem Punkt sieht Religion in Japan anders aus, als man es aus christlicher Tradition gewohnt ist. Große Tempel und Schreine sind gut besucht, besonders an Fest·tagen, doch so etwas wie eine ge·mein·same Messe oder auch nur ein ge·mein·sames Gebet erlebt man — zumindest im öffent·lichen Raum — nur selten. Was man statt·dessen beobachten kann, nennt sich
Der Begriff „o-mairi“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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. O-mairi — ab·ge·lei·tet von mairu, was nichts anderes als „gehen“ (in „Be·schei·den·heits·form“) bedeutet — ist ein Set von einfachen rituellen Ver·haltens·formen, die an jedem religiösen Ort angebracht sind, un·ab·hängig wer oder was dort genau verehrt wird, ob es sich nun um eine bud·dhis·tische oder eine shin·tō·istische Ver·ehr·ungs·stät·te handelt. O-mairi kann daher, analog zum „Kirchgang“, als Tempel- bzw. Schreingang übersetzt werden.
Essentielle Schritte des o-mairi
Beim Eintritt in das Tempel- oder Schrein·gelände gibt es zumeist einen Brunnen (
Schrein- oder Tempelbrunnen zum Reinigen von Mund und Händen
Der Begriff „temizuya“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
), der oft mit einer eindrucksvollen Drachenskulptur geschmückt ist. Aus diesem Brunnen schöpft man mit einer Kell·e Wasser, spült damit die Hände und eventuell auch den Mund (wichtig: die Lippen sollten die Kelle nicht berühren).
In der Nähe des Eingangs gibt es außerdem ein Gebäude, in dem religiöse Ge·gen·stände verkauft werden. Handelt es sich um einen bud·dhis·tischen Tempel, kann man hier z.B. Räucher·stäbchen kaufen. Viele tun das auch und entzünden sie beim nächsten Rauch·becken (
Rauchopferbecken, Gefäß für Rauchopfer
Der Begriff „o-kōro“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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), aus dem an Fest·tagen schon dichter Rauch qualmt. Diesem Rauch wird se·gens·rei·che Wirkung zu·ge·spro·chen. Fast alle Besucher drängen sich um das Becken und fächeln sich Rauch an die·jenigen Körper·stellen, die ihnen die meisten Sorgen bereiten. Männer fächeln den Rauch nicht selten in Richtung ihrer Ge·schlechts·teile. Der Rauch stärkt, heilt und reinigt, ähnlich wie das Wasser. Er dient also sowohl der Ge·sund·heit als auch der Vor·be·rei·tung auf die Begegnung mit der Gottheit.
Dann nähert man sich dem Haupt·gebäude. Man zieht die Schuhe aus, erklimmt ein paar Stufen und wirft Münzen in einen zu diesem Zweck auf·ge·stellten Behälter (
Spendenbox, Kasten für Spendengeld
Der Begriff „saisen bako“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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), der meist auch den Zugang zum Inneren des Gebäudes blockiert. Dann klatscht man in die Hände oder läutet eine Glocke oder beides, um die Auf·merk·sam·keit der Gott·heit zu erregen. Man faltet die Hände, verneigt sich und hält einen Augen·blick in dieser Stellung inne, richtet sich dann wieder auf, geht zu seinen Schuhen zurück, zieht sie an, und hat damit der Gott·heit seine Ehrer·bietung erwiesen. All diese Gesten und ihre genaue Aus·füh·rung unter·liegen je nach Ort und Glau·bens·richtung gewissen Unter·schie·den hinsichtlich Reihen·folge, Häufig·keit des Klatschens oder Läutens, etc. Ältere und religiös gebildete Leute kennen sich da aus, jüngere und Aus·län·der machen am besten nach, was sie bei den anderen sehen. Übrigens findet man zu all dem auch genaue Anleitungen im Internet.
Damit sind die essentiellen Gesten von o-mairi im Grunde schon beschrieben. Was darüber hinaus nicht fehlen darf, wenn man aus festlichem Anlass einen Tempel oder Schrein besucht, ist der Erwerb von Glücks·bringern (
Talisman, schutzbringender Gegenstand
Der Begriff „o-mamori“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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oder
Amulett oder Talisman in Gestalt eines symbolischen Zeichens, meist aus Papier; auch shinsatsu; das Zeichen 札 kann auch „Geldschein“ bedeuten, wird dann aber sinojap. satsu ausgesprochen;
Der Begriff „o-fuda“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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), Talismanen oder ähnlichen kleinen Gegen·ständen, denen eine gewisse magische Kraft zuge·schrie·ben wird. Keine religiöse Institution, die auf breiten Zulauf aus ist, kann darauf ver·zichten, solche Gegen·stände anzubieten.
Natürlich haben wirklich religiöse Menschen mehr Möglich·keiten der öffent·lichen religiösen Be·tä·tigung, bei·spiels·weise kollektives Rezitieren von Sutren, ge·mein·same Meditation oder Pilger·reisen im eigenen Land, die zudem oft einen touristischen Anreiz bieten. Auch kann man zu ver·schie·denen Ge·legen·heiten sowohl in Tempeln als auch in Schreinen individuelle Zeremonien abhalten lassen. Selbst jene, die sonst nie mit Shintō-Priestern oder bud·dhis·tischen Mönchen zu tun haben, werden spätestens bei einem familiären Todes·fall um (zumeist buddhistische) Begräbnisfeiern nicht herum kommen. Aber auch für Kinder gibt es allerhand Zeremonien und schließlich gibt es alle er·denk·lichen Rituale, um von den Göttern Glück und Schutz zu erbitten. Diese Zeremonien haben feste Preise. Zusätzlich werden Spenden erwartet. Sie stellen eine wichtige Ein·nahme·quelle religiöser Institutionen dar.
Die große Mehrheit der Japaner nimmt jedoch religiöse Zeremonien, die den direkten Kontakt mit der bud·dhis·tischen oder shin·tō·is·tischen Priester·schaft vor·aus·setzen, nur selten in An·spruch und besucht auch Tempel oder Schreine nur an hohen Feier·tagen, um sich dort mit dem hier be·schrie·benen o-mairi zu begnügen. In der Summe ergibt dies meines Erachtens dennoch weit mehr sichtbare religiöse Aktivität in der Öffent·lich·keit, als man es von westlichen Industrie·gesell·schaften gewohnt ist.
Engelbert Kaempfers Beschreibung von o-mairi, 1692
Grundsätzlich ähnelt das heutige o-mairi dem Besuch von religiösen Stätten, wie ihn der Arzt und Naturforscher Engelbert Kaempfer [Kaempfer, Engelbert (west.) 1651–1716; deutscher Arzt und Naturforscher, Japanreisender (1790–1792); Autor einer detaillierten Japanbeschreibung] (1651–1716), der Japan in den Jahren 1690–92 bereiste, sehr genau und ausführlich beschrieb:1
Edo-Zeit. Digital Archive, Kyūshū University Museum.
Celebration of solemn Festivals and Holidays consists in what they call mairu [...]. They perform their devotions at the Temples in the following manner:
The worshippers having first washed and cleaned themselves, put on the very best cloath they have, covered with a kamishimo, as they call it, or a garment of Ceremony, every one according to his ability.
Thus clad they walk, with a composed and grave countenance, to the Temple court, and in the first place to the basin of water, there to wash their hands, if needful, for which purpose a pail is hung by the side of it.
Then casting down their eyes they move on, with great reverence and submission,
towards theShintō-Schrein, andere Lesung: gū
Der Begriff „miya“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
2 itself, and having got up the few steps, which lead to the walk round the temple, and are placed opposite to the grated-windows of the miya, and the looking-glass within,3 they fall down upon their knees, bow their head quite to the ground, slowly and with great humility, then lift it up again, still kneeling, and turning their eyes towards the looking-glass, make a short prayer, wherein they expose to the Gods their desires and necessities, or say a Takama no hara kami todomari,4 and then throw some Putjes, or small pieces of money, by way of an offering to the Gods and charity to the Priests, either through the grates upon the floor of the miya, or into the Alms-box, which stands close by.
All this being done, they strike thrice the bell, which is hung up over the door of the miya, for the diversion of the Gods, whom they believe to be highly delighted with the sound of Musical Instruments, and so retire, to divert themselves the remaining part of the day, with walking, exercises, eating or drinking, and treating one another, in the very best manner they can.
This plain and simple act of devotion which may be repeated at any time, even when they are not clad in their best cloaths, is on the solemn festivals performed by all the Shintō Worshippers, at the Temples of one, or more Gods, whom they more peculiarly confide into, either for being the patrons of the profession they follow, or because otherwise they have it in their power to assist and to forward them in their private undertakings.
Heute geht es bei den meisten Schreinen zweifellos etwas zwangloser zu. Auch findet man kaum jemanden, der auf Knien zu den kami betet und sich bis zum Boden vor ihnen verneigt. Die anderen Handlungsmuster und vor allem die individualisierte Form der Verehrung sind jedoch bis heute dieselben geblieben.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Kaempfers berühmte Geschichte und Beschreibung von Japan erschien erstmals 1727 auf Englisch, in fünf Bänden. Der vorliegende Auszug ist — mit geringfügigen Adaptionen — einer Online-Fassung des Originals (Buch 3, Kap. 3) von Wolfgang Michel entnommen. Eine (meiner Ansicht nach etwas zu freie) Übertragung in modernes Englisch findet sich auch in Kaempfer's Japan, hg. v. Beatrice Bodart-Bailey, 1999, S. 111.
- ↑
Im Original Mia. Kaempfer bezieht sich also in erster Linie auf den Besuch von Shintō Schreinen, die damals konventionellerweise als miya bezeichnet wurden. Auch temple bezeichnet hier einen Schrein für die kami 神 (jap.)
Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō
Shintō-Gottheit • •Der Begriff „kami“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:
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gongen, hafuri, hashira, honji suijaku, jingi, jinja, jitsu no kami, miko, mitama, Myōjin, shen, shinbutsu bunri, shinbutsu bunri no rei, shinmei, Shintō, shinzō, Tōjō HidekiBilder
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- ↑ Spiegel der im Inneren des Schreins auf einem Altar postiert ist. Auch heute bei manchen, allerdings nicht bei allen Schreinen zu sehen.
- ↑ Im Originaltext Takamano Farokami Jodomari; wtl. „Die Kami befinden sich in den Hohen Gefilden des Himmels“. Hier eine Art Gebetsformel, die heute so nicht mehr gebräuchlich ist.
Bilder
- ^ O-mairi an einem Schrein
Onizuka Kentarō, 2001. - ^ Brunnen des Kiyomizu-dera, mit Drachen als Wasserspender.
Onizuka Kentarō, 2001. - ^ Besucher fächeln sich den Rauch der geopferten Räucherstäbchen zu. Rauchbecken (o-kōro) des Sensō-ji in Asakusa, Tōkyō.
Bildquelle: unbekannt.
- ^ Spendenbox (saisen bako) des Meiji Jingū.
Bildquelle: unbekannt. - ^ Samurai (bushi) in festlicher Kleidung (kamishimo), 19. Jahrhundert, aus der Japanbeschreibung von Philipp Franz von Siebold (1796–1866)
Edo-Zeit. Digital Archive, Kyūshū University Museum.
Glossar
- Kaempfer, Engelbert (west.) ^ 1651–1716; deutscher Arzt und Naturforscher, Japanreisender (1790–1792); Autor einer detaillierten Japanbeschreibung
- saisen bako 賽銭箱 ^ Spendenbox, Kasten für Spendengeld
Achtung: Sie sehen eine veraltete Version von https://religion-in-japan.univie.ac.at/Handbuch/Alltag/Omairi.