Ame no Uzume: Die Ahnherrin von Ritus, Tanz und Theater
Ame no Uzume [Ame no Uzume (jap.) 天鈿女/天宇受賣 mythologische Gottheit, Ahnherrin des Theaters] ist die vielleicht bekannteste weibliche Nebenrolle in den mythologischen Epen der Tennō-Dynastie. Sie tritt in zwei entscheidenden Episoden auf: Im Mythos von Amaterasu in der Felsenhöhle, wo sie die Sonnengottheit durch ihren Tanz aus der Höhle hervorlockt, und im Mythos von der Herabkunft des Himmlischen Enkels. In beiden Fällen entblößt sie sich und bewirkt dadurch einen Sinneswandel ihres Gegenübers. Zweifellos ist Uzumes Bekanntheit dieser sexuellen Konnotation geschuldet.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit, 1816. Internet Archive, Birmingham Young University.
Werk von Taki Katei (1832–1901). Bakumatsu Zeit, 1859. Library of Congress.
Uzumes Entblößungen sind allerdings kein schnöder Striptease, sondern tragen rituelle Züge. Gleichzeitig wird ihr Tanz vor der Felsenhöhle auch als Urszene des japanischen Theaters angesehen. Die Gestalt der Uzume macht somit deutlich, dass Tanz, Theater und Ritus in alter Zeit wohl nicht von einander zu trennen waren, und verrät zudem, dass Spaß und Erotik im alten Ritualwesen durchaus ihren Platz hatten.
Die mythologische Gestalt der Uzume
Meiji-Zeit. Tomoe Steineck, Martina Wernsdörfer, Raji Steineck, WegZeichen: Japanische Kult- und Pilgerbilder. Die Sammlung Wilfried Spinner (1854–1918). Zürich: VMZ (Ausstellungskatalog), Abb. 68 (mit freundlicher Genehmigung).
Uzumes Tanz vor der Felsenhöhle Ame-no-iwato [Ame-no-iwato (jap.) 天岩戸 wtl. Felsentor des Himmels; Höhle, in die sich Amaterasu zurückzieht], in die sich die Sonnengottheit Amaterasu [Amaterasu (jap.) 天照 Sonnengottheit; Ahnherrin des Tennō-Geschlechts; Hauptgottheit von Ise] schmollend zurück gezogen hat, wird im Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] in knappen Worten als heiter und ausgelassen geschildert. Im Kojiki [Kojiki (jap.) 古事記 „Aufzeichnung alter Begebenheiten“; älteste jap. Chronik (712)] wird die Szene hingegen folgendermaßen geschildert:
Währenddessen befestigte Amé-nó-uzume-nó-mikótó die Ranken vom himmlischen Schattengewächs (hikage) des [Berges] Amé-no-kagu-yama als Ärmelband, machte die himmlischen masaki-Ranken zum Haarschmuck, nahm die Blätter des Kleinen Bambus vom [Berg] Amé-no-kagu-yama zu einem Strauß gebunden in die Hand, stellte neben der Tür des Himmlischen Felsenhauses einen Kübel auf, trat dröhnend darauf und vollzog eine göttliche Besessenheit. Sie ließ die Brüste heraushängen und zog das Saumband ihres Gewandes hinab bis zur Scheide. Da geriet das Hohe Himmelsgefilde in Aufruhr, und die acht Millionen Gottheiten brachen alle vereint in Lachen aus.1
Man kann sich diese tanzende Uzume also am ehesten als eine wilde, mit Besessenheitskulten in Verbindung stehende Shamanin vorstellen, die sich aus Ranken, Gräsern und Baumzweigen Arm- und Kopfschmuck fertigt. Laut dem Nihon shoki hält sie außerdem einen Speer in der Hand. So angetan steigt sie auf einen umgestürzten Zuber, der als Resonanzboden ihres stampfenden Tanzes dient, und verfällt in einen ekstatischen Trance-Zustand. In beiden Mythenvarianten erregt Uzume auf diese Weise die Neugier der Sonnengottheit, die daraufhin ihre freiwillige Isolation beendet und die Welt wieder in ihrem Licht erstrahlen lässt. Insofern erscheint Uzumes Tanz in beiden Varianten als das richtige Mittel, um einen Stimmungswandel bei beleidigten Gottheiten herbeizuführen.
Werk von Utagawa Kunisada (Toyokuni 3). Edo-Zeit, 1844. Waseda University Library.
In der zweiten Episode gehört Uzume zum Gefolge des „Himmlischen Enkelsohns“ Ninigi [Ninigi (jap.) 瓊瓊杵 mytholog. Gottheit, Enkel Amaterasus], der die Herrschaft auf der Erde antreten soll. Im Zuge seines Abstiegs zur Erde stellt sich ihm und seinen Begleitern eine unheimliche Gottheit namens Sarutahiko [Sarutahiko (jap.) 猿田彦 Mythologische Gottheit in tengu-ähnlicher Gestalt] (wtl. „Prinz des Affenfelds“) in den Weg. Sarutahiko besitzt eine „sieben-Hand-lange“ Nase, ist zudem von ungewöhnlich hohem Wuchs und emittiert Lichtstrahlen aus Mund und After. Die himmlischen Götter wissen nicht, ob er feindlich oder freundlich gesonnen ist. Ame no Uzume ergreift die Initiative, um die Sache zu klären, und entblößt vor dem seltsamen Gott ein weiteres Mal ihre Brüste, wobei sie in verächtliches Lachen ausbricht. Sarutahiko erklärt daraufhin, dass er gekommen sei, um dem Himmlischen Enkel den Weg zu weisen. Ob dies sein ursprüngliches Vorhaben war, oder ob Uzume ihn durch ihr Verhalten dazu brachte, bleibt offen. Auffallend ist jedoch, dass sich Uzume in beiden Szenen einer Art Striptease bedient, um andere Gottheiten zu manipulieren.
Uzume und Sarutahiko werden schlussendlich ein Paar und Uzume übernimmt von ihm den Namensteil „Affe“ (saru [saru (jap.) 猿 Affe; gehört auch zu den zwölf Tierkreiszeichen (jūni shi) (verwendet in dem Fall das Kanji 申)]). Sie wird nun als Sarume [sarume (jap.) 猿女 Priestertänzerin; wtl. „Affenfrau“] no kimi — wtl. „Herrin der Affenfrauen“ tituliert. Affe ist dabei nicht als Schimpfwort zu verstehen, sondern steht metaphorisch für Schauspieler, wie sich auch in einem alten Namen des Nō [Nō (jap.) 能 traditionelles jap. Theater mit charakterstischem Tanz, Gesang und Masken; entwickelte sich im 14. Jh. aus dem volkstümlichen dengaku (Feld- oder Bauern-Theater) und avancierte zur repräsentativen Theaterform der Kriegerelite (bushi)]-Theaters andeutet: sarugaku [sarugaku (jap.) 猿楽 Alte Bezeichnung für Nō-Theater; wtl. „Affenmusik“], wtl. „Affenmusik“. Die „Affenfrauen“ wiederum waren Priester-Tänzerinnen des frühen Tennō-Hofes, die in Ame no Uzume ihre Ahnherrin erblickten. Uzumes Handlungen, ihr erotischer Tanz vor der Felsenhöhle und ihr provokantes Techtelmechtel mit Sarutahiko, stehen also mit dem Ritualwesen bei Hof in enger Beziehung und dienen als Gründungsmythen für bestimmte, regelmäßig praktizierte Zeremonien. Laut dem Kogo shūi [Kogo shūi (jap.) 古語拾遺 Chronik Japans (807)] (verfasst 807) leitet sich insbesondere der „Ritus zur Besänftigung der Geister“ (chinkonsai [chinkonsai (jap.) 鎮魂祭 Zeremonie zur Beruhigung der Totengeister]) auf den Tanz der Ame no Uzume zurück. Damit wird indirekt klar, dass die von Uzume adressierten Gottheiten, Amaterasu und Sarutahiko, in einem entrückten, übelwollenden Zustand waren, der mitunter auch als aramitama [aramitama (jap.) 荒魂 wtl. rauer (wilder) Geist; gewalttätige Natur (mitama) einer Gottheit (im Ggs. zu nigimitama, milder Geist)], als wilder, bösartiger Seelenzustand bezeichnet wird. Uzumes Aufgabe bestand also darin, die jeweiligen Gottheiten durch theatralische Mittel in einen milden Seelenzustand (nigimitama [nigimitama (jap.) 和魂 wtl. milder Geist; wohltätige Natur (mitama) einer Gottheit (im Ggs. zu aramitama, rauer Geist)]) zu versetzen.
Ähnliche Riten sind für spätere Zeiten nur spärlich dokumentiert. Es existiert jedoch eine Darstellung aus dem Kitano tenjin engi [Kitano tenjin engi (jap.) 北野天神縁起 Schreinchronik des Kitano Tenman-gū, in dem der Hofadelige Sugawara no Michizane (845–903) verehrt wird; besonders ab dem 13. Jahrhundert in illustrierten Querbildrollen (emaki) abgefasst] in einer Version aus dem 13. Jahrhundert, in der eine an Uzume gemahnende Szene dargestellt ist. Eine Hofdame im Gewand einer Schreindienerin, aber mit entblößtem Oberkörper, schwenkt in Gegenwart eines betenden Mönchs einen rituellen Gegenstand. Der betreffenden Schreinlegende zufolge hat die Hofdame den Mönch jedoch fälschlich der sexuellen Belästigung beschuldigt und wird mit Hilfe der Gottheit dazu gebracht, diese Verleumdung zurück zu nehmen. Ihr ekstatischer Tanz und ihre Entblößung werden demnach im mittelalterlichen Kontext nicht mehr positiv bewertet, sondern sind eher als Zeichen eines Schuldeingeständnisses zu deuten.
Kamakura-Zeit, 13. Jh. Colbase.
Während das Stampfen in der japanischen Tradition, namentlich im Nō, durchaus erhalten blieb, ist die Entblößung kein Element des klassischen japanischen Theaters. Allerdings könnte man vielleicht im Butoh [Butoh (jap.) 舞踏 wtl. Stampftanz; zeitgenössische Tanzform des 20. Jhs. (auch butō)] (wtl. Stampftanz) des 20. Jahrhunderts, in dem u.a. Nacktheit und Stampfen in Kombination eingesetzt wurden, eine entfernte Erinnerung an den Tanz der Uzume erblicken.
Uzume in kagura und ukiyo-e
Werk von Utagawa Hiroshige (1797–1858). Edo-Zeit, um 1850. British Museum.
Die heute gängige ikonographische Form der Uzume lässt sich bereits in den ukiyo-e [ukiyo-e (jap.) 浮世絵 „Bilder der fließenden Welt“, populäre Farbholzschnitte der Edo-Zeit] der Edo-Zeit gut erkennen, hat jedoch mit der provokanten Shamanin der Mythen auf den ersten Blick nur wenig zu tun. Sie zeigt die Göttin im klassischen Gewand einer Schreindienerin (miko [miko (jap.) 巫女 Miko, kami-Priesterin, Schreindienerin; auch: weibliche Shamanin; andere Schreibungen 神子 (Gott-Kind) oder 御子 (erhabenes Kind)]). Auch die Gegenstände, die sie in den Händen hält, sind meist dem neuzeitlichen Schreinritual entnommen. Diese Charakteristika stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus den sogenannten kagura [kagura (jap.) 神楽 rituelle Tänze und Gesänge]-Tänzen. Dies sind rituelle Tänze, die zumeist in Shintō-Schreinen aufgeführt werden. Während die frühesten bekannten Formen keine dramatische Handlung besaßen, haben sich seit der Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-Zeit kagura in Form von dramatisierten mythologischen Themen mehr und mehr verbreitet. Die Hervorlockung der Sonnengottheit stellt dabei — neben dem Kampf Susanoos mit der achtköpfigen Schlange Yamata no Orochi [Yamata no Orochi (jap.) 八岐大蛇 Mythologische Schlange (Drache) mit acht Köpfen; wtl. „achtfach gegabelte Schlange“; wird von Susanoo besiegt] — eines der populärsten Sujets dar. Seltsamerweise tritt in den kagura neben Uzume stets auch Sarutahiko auf, das Tanztheater verschmilzt also die beiden mythologischen Episoden vom Tanz vor der Felsenhöhle und dem Abstieg des Himmlischen Enkels. Auch auf den entsprechenden ukiyo-e ist zumeist Sarutahiko neben Uzume vor der Felsenhöhle zu erkennen.
Werk von Katsushika Hokusai. Internet Archive, Smithonian Libraries and Archives.
Werk von Utagawa Toyokuni (1769–1825). Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō.
Otafuku, Okame, Oto Goze: Uzume als Glücksgöttin
Die erotische Rolle, die Uzume in den Mythen inne hat, kommt in späteren Illustrationen zwar allenthalben zum Ausdruck, doch ist Uzume alles andere als ein Vamp oder eine femme fatale. Stattdessen wurde ihre Gestalt ironisiert und erhielt das Aussehen einer komischen, bisweilen auch dezidiert hässlichen, aber in jedem Fall rundlichen jungen Frau. In dieser wenig attraktiven, aber komischen Gestalt wurde Uzume schließlich sogar zu einer Glücksgöttin, wobei gerade ihr hässliches Aussehen dem Vertreiben von Unglück förderlich sein soll.
TokyoViews, flickr, 2012 (mit freundlicher Genehmigung).
Werk von Kawanabe Kyōsai. 1889. Wikimedia Commons.
Als volkstümlich komödiantische Glücksbringerin ist Uzume auch unter Namen wie Otafuku [Otafuku (jap.) お多福 komödiantische weibliche Glücksgottheit, wtl. „Großes Glück“; auch Oto-goze, Okame; andere Schreibungen 阿多福] oder Okame [Okame (jap.) おかめ/お亀 Volkstümliche Glücksgöttin, auch Otafuku; wird mit der mythologischen Göttin Ame no Uzume gleichgesetzt] bekannt. Jedes Kind in Japan kennt Otafuku als dicke, kleine Frau mit birnenförmigem Gesicht, einer hohen Stirn und kleinen lachenden Augen. Diese äußerlichen Merkmale lassen sich auf eine Figur des komödiantischen kyōgen [kyōgen (jap.) 狂言 komödiantischer Zwischenakt im Nō-Theater]-Theaters namens Oto-goze [Oto-goze (jap.) 乙御前 Nonne Oto; komödiantische weibliche Maske des kyōgenTheaters; Glücksgottheit] zurückführen.
Ob die Figur der Oto-goze von Anfang an mit Uzume identifiziert wurde, oder ob dies erst eine sekundäre Entwicklung darstellt, ist unklar. Jedenfalls ist die entsprechende Maske seit der Muromachi [Muromachi (jap.) 室町 Stadtteil in Kyōto; Sitz des Ashikaga Shōgunats 1336–1573 (= Muromachi-Zeit)]-Zeit bekannt und prägt nicht nur die populäre Otafuku, sondern auch die Darstellungen der mythologischen Uzume. In dieser Form trat Ame no Uzume einst sogar als einzige Frau im Ensemble der Sieben Glücksgötter (Shichi Fukujin [Shichi Fukujin (jap.) 七福神 Sieben Glücksgötter; populäres Ensemble von Glücksgöttern verschiedener Herkunft]) auf, wurde Anfang der Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-Zeit allerdings von Benzaiten [Benzaiten (jap.) 弁才天/弁財天 Glücksgöttin im Ensemble der Sieben Glücksgötter (Shichi Fukujin); Gottheit des Wassers, der Musik und der Beredsamkeit; skt. Sarasvati; auch: Benten] verdrängt.2
Uzumes Hässlichkeit
Die Maske der Oto-goze zählt im Kyōgen zur Kategorie der „hässlichen Frauen“ (shikome [shikome (jap.) 醜女 „hässliche Frau“; Figur des Nō-Theaters; Variante der Ama no Uzume; auch: Dämonin der Unterwelt (in der Izanami-Episode)]). Diese stellen einen bewussten dramaturgischen Kontrapunkt zur ätherischen Schönheit der weiblichen Nō-Masken dar. Die Komödien, in denen die Oto-Maske zum Einsatz kommt, sind meist derbe Schwänke von jungen Frauen, die verheiratet werden sollen, aber zu hässlich sind, um einen Bräutigam zu finden.3 Ihr Gegenstück im Nō ist die sogenannte ko-omote [ko-omote (jap.) 小面 wtl. „kleines Gesicht“; Maske eines jungen Mädchens im Nō-Theater]-Maske, die zur Darstellung heiterer junger Frauen dient und ein Heian-zeitliches Frauenideal verkörpert.
Werk von Tatsuemon (zugeschrieben). Muromachi-Zeit. The New York Times Style Magazine, Japan.
Muromachi-Zeit, 15./16. Jh. Museum Folkwang, Essen – ARTOTHEK, 2024 (mit freundlicher Genehmigung).
Als Glücksgöttin nimmt Uzume zwar das Aussehen der Oto-goze an, wird aber nicht das Opfer von Spott, sondern verkörpert eine Komödiantin, die sich scheinbar selbst über ihr Aussehen lustig macht und damit andere zu Lachen anregt. Dieser Logik gehorchen im übrigen auch die meisten anderen Glücksgötter. Somit vollzieht sich ein Wandel von der mythologischen Gottheit, die zweifellos auch als sexuell attraktiv empfunden wurde, zur Persiflage dieser Attraktivität, bis sich die Persiflage in der Glückgöttin quasi versteinert und als das natürliche Aussehen der Gottheit empfunden wird. Uzumes Verlust von Status und Schönheit wird so durch ihre Popularität in der einfachen Bevölkerung kompensiert.
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Späte Edo-Zeit, 1856. The British Museum.
Interessanterweise hatte die „Hässlichkeit“ der Uzume auch Rückwirkungen auf ihre Interpretation durch die Wissenschaft. Der erste Übersetzer des Kojiki, Basil Hall Chamberlain [Chamberlain, Basil Hall (west.) 1850–1935, brit. Pionier der Japanforschung], interpretierte ihren Namen 1883 als “Heavenly-Alarming-Female”4, obwohl das Schriftzeichen 鈿, das geläufig für uzu in Uzume verwendet wird, eigentlich „Haarschmuck“ bedeutet. Dies sei aber, so Chamberlain unter Berufung auf die „besten japanischen Autoritäten“, eine völlig willkürliche Verschriftung. William George Aston [Aston, William George (west.) 1841–1911; brit. Diplomat und Pionier der Japanologie; Übersetzer des Nihon shoki], der Übersetzer des Nihon shoki, und Karl Florenz [Florenz, Karl (west.) 1865–1939; Pionier der deutschen Japanforschung] folgten Chamberlain in dieser Interpretation.5 Sie stützten sich dabei vielleicht auch auf japanische Illustratoren, die ihrerseits tatsächlich von Mytheninterpretationen der zeitgenössischen Exegesen durch die japanischen kokugaku [kokugaku (jap.) 国学 „Lehre des Landes“, Nationale Schule, Nativismus; in der Edo-Zeit entstandene Gelehrtentradition, die ihren Fokus auf das nationale Erbe Japans richtete] beeinflusst waren.
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Waseda University Library, (bildbearbeitet).
Werk von Matsunaga Hanzan (1818–1882). Späte Edo-Zeit. Bildquelle: Ritsumeikan ARC.
Selbst der berühmte Utagawa Kuniyoshi [Utagawa Kuniyoshi (jap.) 歌川国芳 1798–1861; Maler und Zeichner. Bekannter Verteter des ukiyo-e-Farbholzschnitts] zeigte in einer Buchillustration von Uzumes Entblößung vor Sarutahiko eine bemerkenswerte Unsicherheit, als ob er sich zwingen müsste, jeglichen erotischen Aspekt aus seiner Darstellung zu tilgen. Die angebliche Hässlichkeit der Uzume wurde also gerade in der Illustration der Mythen besonders wörtlich genommen, obwohl sie sich durch die alten Texte selbst im Grunde nicht bestätigen lässt. Sicherlich geschah das, um die erotische Komponente der mythologischen Erzählung, die auch unter japanischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts befremdlich wirkte, abzuschwächen. Insofern hat der Wandel Uzumes zur „hässlichen“ Glücksgöttin das alte mythologisches Bild fast vollkommen überdeckt und wurde sogar in die mythologischen Erzählungen rückimportiert.
Sonstige Darstellungen
Im Allgemeinen hat sich im Laufe der Edo-Zeit ein humoristischer, in gewissem Sinne hausbackener Erscheinungstyp der Uzume durchgesetzt, der beispielhaft in Hokusais Darstellung am Anfang dieser Seite wiedergegeben ist (s.o.). Einzelne Künstler erinnern sich allerdings auch der Erotik bzw. der Attraktivität der mythologischen Figur und mischen diese mit den komödiantischen Elementen, sodass es eine große Bandbreite an Uzume-Darstellungen gibt.
Werk von Irie Chōhachi (1815–1889). Meiji Zeit, 19. Jh. Master plasterer Izu-no-Chohachi.
Werk von Kawanabe Kyōsai. National Museum of Asian Art Collection.
Werk von Kawanabe Kyōsai. Meiji-Zeit, 1875. National Museum of Asian Art Collection.
Werk von Ekin (1812–76). Edo-Zeit. Bildquelle: Muian, über Internet Archive.
Werk von Totoya Hokkei (1780–1850). Edo-Zeit. Museum of Fine Arts, Boston.
Werk von Kosugi Hōan (1881–1964). Shōwa-Zeit, 1951. Chiyoda Days.
Verweise
Fußnoten
- ↑ Kojiki 1, Antoni 2012, S. 39–40. Für die Nihon shoki Variante s. Aston 1972 I, S. 44–45; Florenz 1919, S. 155–56.
- ↑ Kita Sadakichi, „Shichifukujin no seiritsu“ (Die Entstehung der Sieben Glücksgötter) 1935, nach Miyata 1998, S. 304–305
- ↑ Marvin 2021, S. 177.
- ↑ Chamberlain 1981, S. 68.
- ↑ Aston (1896) übersetzt Uzume mit „terrible female“, Florenz (1919) mit „abschreckendes Weib“. Beide Übersetzer beziehen sich dabei auf eine Erklärung des Namens Uzume im Kogo shūi (807), das einen Zusammenhang mit ozoshi, „furchtbar“, herstellt. S. z.B. Florenz 1919, S. 421–22.
Internetquellen
- Ame-no-Uzume no Mikoto, Joseph Ziehr and Edward Beach (en.)
Artikel der Website Shimbutsudo (inaktiv, Zugang über Internet Archive [22.9.2016]).
Literatur
Bilder
- ^ Darstellung der Ame no Uzume.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit, 1816. Internet Archive, Birmingham Young University. - ^ Ame no Uzume in der Kleidung einer Schreindienerin (miko), mit Schellen und Zickzack-Papier (gohei). Sie trägt die Züge der dicklichen und vergnügten Glücksgöttin Otafuku.
Werk von Taki Katei (1832–1901). Bakumatsu Zeit, 1859. Library of Congress. - ^ Die auf einem Zuber tanzende Ame no Uzume (hier: Miyabi no Kami) in einer an den klassischen Mythen orientierten Darstellung.
Meiji-Zeit. Tomoe Steineck, Martina Wernsdörfer, Raji Steineck, WegZeichen: Japanische Kult- und Pilgerbilder. Die Sammlung Wilfried Spinner (1854–1918). Zürich: VMZ (Ausstellungskatalog), Abb. 68 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Tanz der Ame no Uzume vor der Himmlischen Felsenhöhle, in der sich Amaterasu verborgen hat. Durch das Lachen der Götter wird sie aus der Höhle gelockt. Die Szene gilt als Ursprung des sakralen Theaters (kagura). Man beachte die Gegenwart des Gottes Sarutahiko (links), der im urspr. Mythos nicht vorkommt. Andererseits wird die Entblößung Uzumes ausgeblendet. Die Darstellung orientiert sich in diesen Details an zeitgenössischen kagura-Aufführungen
Werk von Utagawa Kunisada (Toyokuni 3). Edo-Zeit, 1844. Waseda University Library. - ^ Ame no Uzume und Sarutahiko.
Werk von Kobayashi Eitaku (1843–1890). Meiji-Zeit. Harvard Library. - ^ Tanz einer Hofdame mit entblößtem Oberkörper und einem Stab vor einem sitzenden, betenden Mönch. Die Darstellung entstammt dem Kitano tenjin engi, einer der berühmtesten illustrierten Querbildrollen, welche die Entstehung des Kitano Tenman-gū Schreins in Kyoto schildert. Die Szene stellt folgende Episode der Schreinlegende dar: Eine Hofdame beschuldigt den Mönch Ninshun, ein „Herz für Frauen“ zu haben. Nachdem dieser am Kitano Schrein um Hilfe betet, wird sie von der Gottheit besessen und teilt im Zuge ihres ekstatischen Tanzes mit, dass sie den betreffenden Mönch zu Unrecht verleumdet hat.
Kamakura-Zeit, 13. Jh. Colbase. - ^ Im Vordergrund Tajikara, der die Aufgabe hat, einen Felsen vom Eingang der Höhle zu entfernen, damit die Sonnengottheit — hier durch Strahlen angedeutet — wieder herauskommen kann. Dahinter einige Musiker und Ame no Uzume bei ihrem Tanz, begleitet von Sarutahiko.
Werk von Utagawa Hiroshige (1797–1858). Edo-Zeit, um 1850. British Museum. - ^ Aufführung eines kagura-Tanzes mit der Figur der Ame no Uzume, hier verkörpert durch einen männlichen Tänzer mit Maske.
Werk von Katsushika Hokusai. Internet Archive, Smithonian Libraries and Archives. - ^ Ame no Uzume (rechts) mit anderen Göttern, die Amaterasu aus der Höhle locken wollen. Die Figuren tragen die Züge von Kabuki-Schauspielern, sind also relativ nahe an einer tatsächlichen Aufführung der Szene. Teil eines Triptychons.
Werk von Utagawa Toyokuni (1769–1825). Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō. - ^ Ame no Uzume, dargestellt von einem kagura-Tänzer.
Bildquelle: unbekannt. - ^ Die Glücksgöttin Okame, alias Ame no Uzume, als Maske, deren Berührung Glück bringt. Gemäß dem beigefügten Schild soll die Berührung des Mundes vor Katastrophen aller Art schützen. Streicheln der Stirne führt zu Intelligenz; Streicheln der rechten Wange führt zu Liebesglück, ...
TokyoViews, flickr, 2012 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Im Vordergrund Daikoku auf einem Ochsen, geführt von Otafuku (Ame no Uzume). Im Hintergrund Jurōjin, der sich mit seinem Reittier abmüht. Das Bild wurde laut Inschrift am zweiten Neujahrstag angefertigt. Die Glücksgötter waren und sind ein beliebtes Neujahrsmotiv. Auch die Kombination mit einem Ochsen als Reittier ist nicht ungewöhnlich. Interessant ist vor allem, dass als weibliche Begleiterin Daikokus nicht Benzaiten in Erscheinung tritt, sondern die komödiantische Otafuku.
Werk von Kawanabe Kyōsai. 1889. Wikimedia Commons.
- ^ Nō-Maske einer jungen Frau (koomote). Die geschwärzten Zähne sowie die hoch auf der Stirn aufgemalten Brauen entsprechen traditionellen Schönheitsidealen am kaiserlichen Hof. Die vorliegende Maske mit dem Eigennamen Yuki no Ko-omote soll sich einst im Besitz von Toyotomi Hideyoshi befunden haben.
Werk von Tatsuemon (zugeschrieben). Muromachi-Zeit. The New York Times Style Magazine, Japan. - ^ Oto-goze, auch Okame oder Otafuku, eine komödiantische Figur des kyōgen-Theaters. Sie wird auch als Erscheinung der Ame no Uzume, der Ahnherrin des japanischen Theaters, angesehen.
Muromachi-Zeit, 15./16. Jh. Museum Folkwang, Essen – ARTOTHEK, 2024 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Begegnung von Ame no Uzume und Sarutahiko. Im Hintergrund das Urgötterpaar Izanagi und Izanami. Die für Kuniyoshi untypisch naive, fast plumpe Darstellung könnte dem Umstand geschuldet sein, dass hier für eine Ausstellung lebensechter Puppen geworben wird, die 1855–56 in Edo stattfand. Kuniyoshi scheint sich an das Erscheinungsbild der Götter in der Ausstellung gehalten zu haben.
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Späte Edo-Zeit, 1856. The British Museum. - ^ Das Zusammentreffen von Sarutahiko und Ame no Uzume im Zuge des Abstiegs des Himmelsenkels Ninigi auf den Berg Takachiho in Kyūshū.
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Waseda University Library, (bildbearbeitet). - ^ Darstellung von Ame no Uzume und Sarutahiko.
Werk von Matsunaga Hanzan (1818–1882). Späte Edo-Zeit. Bildquelle: Ritsumeikan ARC. - ^ Ame no Uzume mit entblößten Brüsten, hier unter dem Namen Okame.
Werk von Irie Chōhachi (1815–1889). Meiji Zeit, 19. Jh. Master plasterer Izu-no-Chohachi. - ^ Das Glück in Gestalt von Okame, alias Ame no Uzume, verjagt das Unglück in Gestalt von oni-Dämonen mit Bohnen.
Werk von Kawanabe Kyōsai. National Museum of Asian Art Collection. - ^ Otafuku mit Kranich, beides Glückssymbole.
Werk von Kawanabe Kyōsai. Meiji-Zeit, 1875. National Museum of Asian Art Collection. - ^ Parodistische Darstellung des erotischen Tanzes von Ame no Uzume.
Werk von Ekin (1812–76). Edo-Zeit. Bildquelle: Muian, über Internet Archive. - ^ Ame no Uzume als Teil einer Serie von Göttern aus dem Mythos der Felsenhöhle; als Neujahrskarte konzipiert. Siehe auch Sarutahiko.
Werk von Totoya Hokkei (1780–1850). Edo-Zeit. Museum of Fine Arts, Boston. - ^ Ame no Uzume in einer modernen Interpretation. Amaterasu ist hier durch die Sonnenscheibe repräsentiert.
Werk von Kosugi Hōan (1881–1964). Shōwa-Zeit, 1951. Chiyoda Days.
Glossar
- Ame no Uzume 天鈿女/天宇受賣 ^ mythologische Gottheit, Ahnherrin des Theaters
- aramitama 荒魂 ^ wtl. rauer (wilder) Geist; gewalttätige Natur (mitama) einer Gottheit (im Ggs. zu nigimitama, milder Geist)
- Aston, William George (west.) ^ 1841–1911; brit. Diplomat und Pionier der Japanologie; Übersetzer des Nihon shoki
- Benzaiten 弁才天/弁財天 ^ Glücksgöttin im Ensemble der Sieben Glücksgötter (Shichi Fukujin); Gottheit des Wassers, der Musik und der Beredsamkeit; skt. Sarasvati; auch: Benten
- Chamberlain, Basil Hall (west.) ^ 1850–1935, brit. Pionier der Japanforschung
- chinkonsai 鎮魂祭 ^ Zeremonie zur Beruhigung der Totengeister
- Florenz, Karl (west.) ^ 1865–1939; Pionier der deutschen Japanforschung
- Kitano tenjin engi 北野天神縁起 ^ Schreinchronik des Kitano Tenman-gū, in dem der Hofadelige Sugawara no Michizane (845–903) verehrt wird; besonders ab dem 13. Jahrhundert in illustrierten Querbildrollen (emaki) abgefasst
- nigimitama 和魂 ^ wtl. milder Geist; wohltätige Natur (mitama) einer Gottheit (im Ggs. zu aramitama, rauer Geist)
- Nihon shoki 日本書紀 ^ Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)
- Okame おかめ/お亀 ^ Volkstümliche Glücksgöttin, auch Otafuku; wird mit der mythologischen Göttin Ame no Uzume gleichgesetzt
- Shichi Fukujin 七福神 ^ Sieben Glücksgötter; populäres Ensemble von Glücksgöttern verschiedener Herkunft
- shikome 醜女 ^ „hässliche Frau“; Figur des Nō-Theaters; Variante der Ama no Uzume; auch: Dämonin der Unterwelt (in der Izanami-Episode)
- Utagawa Kuniyoshi 歌川国芳 ^ 1798–1861; Maler und Zeichner. Bekannter Verteter des ukiyo-e-Farbholzschnitts
- Yamata no Orochi 八岐大蛇 ^ Mythologische Schlange (Drache) mit acht Köpfen; wtl. „achtfach gegabelte Schlange“; wird von Susanoo besiegt
Religion in Japan, Inhalt
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Dämonen
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Terauke-System
- Neo-Konfuzianismus
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- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
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„Ame no Uzume: Die Ahnherrin von Ritus, Tanz und Theater.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001