Die Götter des Himmels (Zeitalter der Götter, Teil 1)
Werk von Kobayashi Eitaku (1843–1890). Um 1885. Museum of Fine Arts, Boston.
Das „Zeitalter der Götter“ erscheint in den Mythen als verhältnismäßig klar abgegrenzte Zeitspanne zwischen der Entstehung der Welt und dem Beginn der Herrschaft der Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels]-Dynastie. In dieser Zeit bevölkern Menschen, Götter und Fabelwesen eine gemeinsame Sphäre, ähnlich wie in den Mythen der griechischen Antike oder anderen mythologischen Traditionen. Die einzelnen Episoden sind zwar in eine fortlaufende Erzählung gegossen, anhand ihrer Protagonisten und ihrer regionalen Schwerpunkte lassen sich aber mehrere unterschiedliche Haupterzählungen identifizieren. Dies deutet darauf hin, dass es sich ursprünglich um voneinander unabhängige Erzähltraditionen handelt. Aus meiner persönlichen Sicht lassen sich vier Hauptepisoden identifizieren, die möglicherweise aus jeweils eigenen Sagenkreisen stammen, nämlich: a) die Erschaffung der Welt, b) der Zwist zwischen Amaterasu [Amaterasu (jap.) 天照 Sonnengottheit; Ahnherrin des Tennō-Geschlechts; Hauptgottheit von Ise] und Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu], c) die Herrschaft der Nachkommen des Susanoo auf der Erde, und d) die Eroberung der Erde durch die Nachkommen der Sonnengottheit — die spätere Tennō-Dynastie. Auf dieser Seite werden die Episoden a) und b) behandelt, auf der nächsten Seite c) und d).
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Texte
Die bekanntesten und bis heute wichtigsten Werke, die uns Auskunft über die ältesten japanischen Mythen und Legenden geben, sind zugleich die ältesten Zeugnisse der japanischen Literatur überhaupt: Kojiki [Kojiki (jap.) 古事記 „Aufzeichnung alter Begebenheiten“; älteste jap. Chronik (712)] („Berichte alter Begebenheiten“, 712) und Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] („Berichte über Japan“, 720, auch als Nihongi [Nihongi (jap.) 日本記 Kurzbezeichnung für Nihon shoki] bekannt). Für beide zusammen hat sich der Ausdruck kiki [kiki (jap.) 記紀 Sammelbezeichnung für KojiKI und Nihon shoKI (ki, Bericht, ist jeweils mit einem leicht abweichenden Zeichen geschrieben)] eingebürgert. Wie bei fast allen frühen Schriftwerken handelt es sich bei den kiki um staatlich geförderte Mammutunternehmungen. Sie entstanden im Auftrag des kaiserlichen Hofes und repräsentieren daher die offizielle Sichtweise der Geschichte des Landes und seiner Herrscher. Beide Werke verstehen sich als historische Chroniken, doch werden sie von Berichten über das „Zeitalter der Götter“ eingeleitet, die man heute als Mythen klassifiziert. (Mehr dazu: Japans klassische Mythentexte.)
Izanagi und Izanami
Sowohl das Kojiki als auch das Nihon shoki beginnen mit der Entstehung des Universums und greifen dabei auf chinesische Vorstellungen zurück. Sie erwähnen die Teilung der Urmaterie in Himmel und Erde ( Fünf Wandlungsphasen entsprechen. Diese Gottheiten besitzen kaum eine narrative Funktion für die folgende mythische Erzählung und fanden daher vermutlich erst relativ spät und unter dem Einfluss Chinas Eingang in die japanische Mythologie.1
) und listen anschließend eine Reihe von Urgöttern auf, die denDen eigentlichen Beginn des Mythos von der Erschaffung der Welt bildet die Erzählung von den Urgöttern Izanagi [Izanagi (jap.) 伊耶那岐/伊奘諾 Göttervater; auch Izanaki (ki hier männliche Endung); Bruder und Mann von Izanami] und Izanami [Izanami (jap.) 伊耶那美/伊奘冉 Göttermutter, Göttin der Unterwelt (mi hier weibliche Endung); Schwester und Frau des Izanagi],2 die sowohl als Geschwister als auch als Ehepaar auftreten. Izanagi und Izanami befinden sich zunächst in einem Raum, der bloß aus Wasser, Luft und einer frei schwebenden Brücke zu bestehen scheint. Auf dieser Brücke stehen sie jedenfalls, wobei der Mann, Izanagi, mit einem Speer unten im Wasser herumstochert. Als er den Speer aus dem Wasser zieht, bilden sich an seiner Spitze salzige Klumpen, die zurück ins Wasser fallen und dort die erste Insel (Onogoroshima [Onogoroshima (jap.) 淤能碁呂島 Mythologischer Ursprungsort Japans; die „von selbst geronnene Insel“], wtl. „die von selbst geronnene Insel“) bilden. Auf diese Insel steigen Izanagi und Izanami nun herab. Sie errichten auf der Insel einen „Himmelspfeiler“ (oder einen Palast) und umrunden ihn in einer Art Hochzeitsritus. Es folgt ihre geschlechtliche Vereinigung, aus der auf nicht näher beschriebene Weise „Kinder“ in Form der japanischen Inseln entstehen. Mit jeder Bewegung erzeugen sie zudem, fast wie nebenbei, eine Unmenge von Gottheiten, z.B. Windgötter, Nahrungsgötter und andere mehr.
Werk von Katsushika Hokusai (1760-1849). Edo-Zeit. Chester Beatty Library.
Der dramatische Höhepunkt: Izanami gebiert den Feuergott, der ihren Schoß verbrennt. Sie „stirbt“ an den Folgen dieser Geburt, d.h. sie wird in die Totenwelt (Yomi [Yomi (jap.) 黄泉 mytholog. Unterwelt; geschrieben mit den Zeichen „Gelbe Quellen“, eine chinesische Bezeichnung für die Unterwelt]) versetzt.3 Der entsetzte Vater Izanagi hingegen schlägt das Feuerkind mit seinem Schwert in Stücke, aus denen wiederum neue „Schwert-Feuer-Gottheiten“ (u.a. Takemikazuchi [Takemikazuchi (jap.) 建御雷 Mythologischer Schwertgott (wtl. Gewittergott); Ahnengottheit der Fujiwara; u.a. in den Schreinen Kashima und Kasuga verehrt] und Futsunushi [Futsunushi (jap.) 経津主 Mythologischer Schwertgott]) entstehen, die später noch eine Rolle spielen werden. Dann macht sich Izanagi in seinem Schmerz auf die Suche nach Izanami. Er findet sie schließlich in der Totenwelt, kann sie allerdings in der Dunkelheit nicht sehen. Gegen Izanamis ausdrückliche Bitte entzündet er ein Licht (wtl. einen Span aus seinem Kamm) und erkennt ihre Schrecken erregende Verwandlung in einen verwesten Leichnam. Göttermutter Izanami fühlt sich durch diese Zurschaustellung zutiefst entehrt und verwandelt sich in eine Furie. Zusammen mit acht Gehilfinnen (weibliche Donnergötter, die auch als „hässliche Frauen“ shikome [shikome (jap.) 醜女 „hässliche Frau“; Figur des Nō-Theaters; Variante der Ama no Uzume; auch: Dämonin der Unterwelt (in der Izanami-Episode)] apostrophiert werden) jagt sie Izanagi bis zum Tor der Totenwelt, wo dieser die Verfolgerinnen abschüttelt, indem er das Tor mit einem großen Fels verrammelt. Diese Geste besiegelt die endgültige Trennung der Welt der Lebenden und der Toten. Izanami, die Herrin der Totenwelt, leistet einen schrecklichen Schwur, täglich eintausend Leben zu vernichten; Izanagi, der Gott des Lebens, schwört dagegen, täglich eintausend fünfhundert Gebärhütten zu errichten. Damit ist der Zyklus von Geburt, Leben und Tod in Gang gesetzt.
Abschließend vollzieht Izanagi eine rituelle Waschung (misogi [misogi (jap.) 禊 Purifikation, Reinigungsritus, rituelle Waschung]) in einem Fluss, um sich von den Verunreinigungen (kegare [kegare (jap.) 穢れ rituelle Verunreinigung, Befleckung, Schande]) der Welt des Todes zu befreien. Dabei entstehen wieder mehrere Gottheiten: Amaterasu, die Sonnengottheit (bei der Waschung des linken Auges), Tsukuyomi [Tsukuyomi (jap.) 月読 Mondgottheit, Bruder der Sonnengöttin Amaterasu; wtl. Mondleser oder Monatszähler; auch Tsukiyomi gelesen], der Mond (bei der Waschung des rechten Auges) und Susanoo, der etwas missratene Sohn (bei der Waschung der Nase). Vater Izanagi teilt sein Erbe unter diesen Kindern auf. Nachdem die Nachfolge endgültig geregelt ist, zieht er sich aus dem Weltgeschehen zurück und wird nicht mehr weiter erwähnt. Auch Izanami entschwindet sang- und klanglos aus der Erzählung.
Amaterasu und Susanoo
Werk von Yashima Gakutei (1786?–1868). Späte Edo-Zeit. Museum of Fine Arts, Boston.
Werk von Utagawa Kuniyoshi (1797–1861). Edo-Zeit. The British Museum.
Amaterasu besitzt als Nachfolgerin Izanagis die höchste Autorität in den Hohen Himmelsgefilden (Takama-no-hara [Takama-no-hara (jap.) 高天原 wtl. „Die Hohen Himmelsgefilde“, mythol. Bez. für das Reich der Himmlischen Götter; auch Takama-ga-hara]) und repräsentiert zugleich die Sonne. Amaterasus wichtigster Partner und zugleich Widersacher ist ihr jüngerer Bruder Susanoo. Ihm wird nach manchen Varianten des Mythos zunächst die Herrschaft über das Meer zugeteilt, letztlich führt sein Weg aber in allen Mythenvarianten in eine Art Unterwelt, die als „Wurzelland“ (Ne no Kuni [Ne no Kuni (jap.) 根の国 wtl. Wurzelland, auch Ne no Katasukuni 根之堅州國; Unterwelt], Ne no Katasukuni) bezeichnet wird.4
Susanoo benimmt sich zunächst sehr widersprüchlich, wie ein ungezogenes kleines Kind. Einerseits wird er als wild und ungestüm bezeichnet, andererseits streunt er die meiste Zeit weinend umher, stets auf der Suche nach seiner Mutter (eigentlich ein Widerspruch, denn er wurde ja von Izanagi allein gezeugt und geboren, doch der Mythos hält sich mit solchen Details nicht auf). Als Izanagi ihn daraufhin in die Unterwelt schickt (verbannt), möchte Susanoo noch einmal von seiner Schwester Abschied nehmen und verschafft sich Eingang in den Himmel. Amaterasu ahnt zwar Böses, lässt sich aber auf eine Art Kräftemessen (ukehi [ukehi (jap.) 宇気比/誓約 mythologisches Orakel, oft in Form eines Wettstreits oder Kräftemessens]) ein, bei dem es darum geht, Kinder aus den Waffen des jeweils anderen zu erzeugen (s.u.). Susanoo gewinnt diesen etwas rätselhaften Wettkampf und Amaterasu kann ihm den Zutritt zu ihrem Reich nicht verwehren (s.u.). Prompt vollführt Susanoo im Himmel alle nur erdenklichen Missetaten, die ganz offensichtlich als Provokation oder Rebellion gegen die Sonnengottheit zu verstehen sind.
Die meisten dieser Missetaten erscheinen uns heute als archaisch-unverständliche Tabubrüche: Susanoo zerstört zum einen die Bewässerungskanäle von Reisfeldern (wohlgemerkt, Reisfelder der Götter) und sabotiert damit die landwirtschaftliche Produktion, zum anderen verunreinigt er Amaterasus Palast mit Exkrementen und wirft schließlich — völlig mysteriös — „ein rückwärts gehäutetes Pferd“ in Amaterasus Webehalle, wobei eine Dienerin oder Schwester von Amaterasu zu Tode kommt. Amaterasu aber zieht sich, durch diese Untat ihres Bruders zutiefst verletzt, in die berühmte Felsenhöhle (Ame-no-iwato [Ame-no-iwato (jap.) 天岩戸 wtl. Felsentor des Himmels; Höhle, in die sich Amaterasu zurückzieht]) zurück, wodurch sich das Universum verdunkelt.
Werk von Utagawa Kunisada (1786–1865). Edo-Zeit, 1857. Bildquelle: Database of Folklore Illustrations, Nichibunken, Kyōto.
An dieser Stelle kommt plötzlich eine Unzahl weiterer Götter — wtl. „acht Millionen Götter“, yaoyorozu [yaoyorozu (jap.) 八百万 altjap. für „acht Millionen“ bzw. unendlich viele] no kami — ins Spiel, die bislang unerwähnt geblieben waren (u.a. Ame no Koyane [Ame no Koyane (jap.) 天児屋/天児屋根 mytholog. Gottheit; Ahnengottheit der Fujiwara], eine Ahnengottheit des mächtigen Fujiwara [Fujiwara (jap.) 藤原 mächtigste Adelsfamilie im jap. Altertum]-Klans). Diese Götter versuchen mit den verschiedensten Mitteln, Amaterasu wieder aus der Höhle hervorzulocken: Sie lassen Hähne krähen um den Morgen anzukündigen, hängen einen Spiegel an einen heiligen Baum vor der Höhle und bedienen sich sogar verschiedener religiöser Rituale und Orakeltechniken.
Schließlich veranstalten sie ein ausgelassenes Fest, bei dem die Göttin Ame no Uzume [Ame no Uzume (jap.) 天鈿女/天宇受賣 mythologische Gottheit, Ahnherrin des Theaters] (die Ahnherrin des japanischen Theaters) eine Art Striptease hinlegt (wtl. Brüste und Genitalien entblößt) und auf einem umgestürzten Zuber tanzt, bis daraus Stimmen zu hören sind wie bei einem Geisterbeschwörungsritual. Die versammelten Götter brechen daraufhin in schallendes Gelächter aus, das den gewünschten Erfolg zeitigt: Amaterasu ist neugierig geworden und öffnet die Höhle einen Spalt. Ihr eigener Anblick im Spiegel veranlasst sie, aus der Höhle hervorzutreten, worauf die anderen Götter ihren neuerlichen Rückzug mittels eines Götterseils (shimenawa [shimenawa (jap.) 注連縄 shintōistisches „Götter-Seil“; geschlagene Taue aus Reisstroh.]) blockieren: Die Welt wird wieder hell.
Susanoo aber wird von dem gleichen Rat himmlischer Götter, der Amaterasu aus der Höhle gelockt hat, zu einem Bußgeld von „tausend [Opfer-]Tischen“ und zu einer körperlichen Bestrafung in Form von Ausreißen von Haaren und Fingernägeln verurteilt. Danach wird er der Himmlischen Gefilde verwiesen und in die Unterwelt verbannt.
Amaterasus „jungfräuliche Empfängnis“
Amaterasu erscheint in der gesamten Erzählung geheimnisvoll, priesterlich und unnahbar. Sie hat in dieser Hinsicht durchaus Ähnlichkeit mit der altjapanischen Priesterkönigin Himiko [Himiko (jap.) 卑弥呼 ca. 170–248; frühgeschichtliche Priesterkönigin; auch Pimiko (wahrscheinliche Bedeutung: „Kind der Sonne“); chin. Pei-mi-hu] aus dem dritten Jahrhundert, von der eine chinesische Quelle berichtet, sie lebe in einem Palast, den Männer nicht betreten dürfen, und habe lediglich einen jüngeren Bruder, der für sie gewisse Regierungsaufgaben übernehme.5 Auch Amatersu bleibt unverheiratet. Ihre einzigen „Kinder“ entstehen aus jenem bereits erwähnten Kräftemessen mit ihrem jüngeren Bruder Susanoo, als dieser Eingang in das von Amaterasu regierte Reich des Himmels begehrt: Beide Geschwister sind voll von gegenseitigem Misstrauen. Um dieses Misstrauen aus der Welt zu schaffen, übergeben sie einander ihre Waffen (ein Schwert im Fall Susanoos, magische Edelsteine, magatama [magatama (jap.) 勾玉 Krummjuwelen; archaischer Schmuck, Teil der Insignien des Tennō], im Fall der Amaterasu), zerkauen diese und spucken die Überreste wieder aus. Daraus entstehen fünf männliche und drei weibliche Kinder. Gemäß ihrer zuvor getroffenen Abmachung werden die Kinder als „Beweis“ gedeutet, dass Susanoo „reinen Herzens“ ist (was sich in der Folge als falsch herausstellt).6
Werk von Hosoda Tominobu (1783–1828). Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō.
Einer der männlichen Sprösslinge dieses Wettstreits ist jene Gottheit, über den sich die Tennō-Linie von Amaterasu ableitet (es handelt sich dabei um Ame no Oshihomimi [Ame no Oshihomimi (jap.) 天忍穂耳 mythol. Gottheit; Sohn von Amaterasu und Susanoo, Vater von Ninigi], den Vater des Ninigi [Ninigi (jap.) 瓊瓊杵 mytholog. Gottheit, Enkel Amaterasus]). Er könnte aber genauso gut als Sohn des Susanoo angesehen werden, da er seine Geburt der Tatsache verdankt, dass Susanoo die Edelsteine seiner Schwester zerkaut. Obwohl das Nihon shoki gerade zu dieser Episode eine Vielzahl von Varianten anführt, die sehr unterschiedliche Interpretationen zulassen, wird die Abkunft der Tennō-Linie von Amaterasu (und zwar nur von Amaterasu) in der Folge nicht mehr weiter in Frage gestellt. Susanoo hingegen wird in einer späteren Episode zum Stammvater "irdischer" Gottheiten, die schlussendlich von den Nachfahren Amaterasus unterworfen werden (s. Die Götter der Erde (Zeitalter der Götter, Teil 2)).
Mythenvergleichende Anmerkungen
In den japanischen Weltentstehungsmythen sind zahlreiche Motive enthalten, die auch aus anderen Mythologien auf der ganzen Welt bekannt sind. Viele dieser Parallelen sind mythologisches Allgemeingut, manchmal lassen sich aber auch direkte historische Verbindungen rekonstruieren.
Tod und verbotene Blicke
Izanamis Tod bei der Geburt des Feuergottes reflektiert das Motiv „Tod der Urmutter“, ein Sinnbild der Erde, die im Laufe eines Jahres erblüht und „stirbt“, dadurch aber erst das Leben ihrer „Kinder“ ermöglicht. In einer Variante des Mythos wird ausgeführt, dass aus Izanamis Leiche sämtliche Getreidesorten entstehen, die den Menschen als Nahrung dienen. Auch dies ist ein Motiv, das in vielen Kulturen mit dem Tod der Urmutter verknüpft ist.
Die Totenwelt-Episode, in der Izanagi Izanami verbotenerweise anblickt, erinnert wiederum an die Orpheus-Sage, die ihrerseits ein universelles Mythenmotiv darstellt. Im Gegensatz zum griechischen Mythos ist allerdings hervorzuheben, dass das Verbot des Schauens von der Frau selbst formuliert wird, nicht von sonstigen Autoritäten der Unterwelt. Im weiteren Verlauf ist es die Frau selbst, die — durch den männlichen Blick verletzt — die Trennung vollzieht. Das Motiv wiederholt sich in der japanischen Mythologie in der späteren Episode rund um Hiko Hohodemi [Hiko Hohodemi (jap.) 彦火火出見 auch Hoori; mythologischer Vorfahre der Tennō Dynastie und Held des Mythos von Bergglück und Meerglück], der verbotenerweise in die Gebärhütte seiner Frau Tamayori-hime [Tamayori-hime (jap.) 玉依姫 Meeresgottheit; Tochter des Meereskönigs Watatsumi] lugt und diese dabei in ihrer wahren Gestalt als Drachen- bzw. Meerungeheuer erblickt. Auch hier ist es die Frau, die daraufhin aus gekränkter Ehre die Ehe auflöst und zurück ins Meer entschwindet.7
Eine weibliche Sonne
Der Rückzug der Sonne ist ein weiteres mythologisches Motiv, das mit dem jahreszeitlich zu- bzw. abnehmenden Sonnenstand in Verbindung steht und sich ebenfalls in zahlreichen Mythenkreisen findet. Die Tatsache, dass die Sonnengottheit Amaterasu in Japan als Frau dargestellt wird, erscheint dagegen rätselhaft, ist doch die Sonne in den meisten Mythologien männlich. Daher gibt es auch die Theorie, dass die Sonnengottheit erst in Anlehnung an Kaiserin Jitō [Jitō Tennō (jap.) 持統天皇 645–703, r. 686–697; 41. japanische Kaiserin] als Frau dargestellt wurde. Unter Kaiserin Jitō begann man nämlich mit den Aufzeichnungen der Mythen, die schließlich in Form von Kojiki [Kojiki (jap.) 古事記 „Aufzeichnung alter Begebenheiten“; älteste jap. Chronik (712)] (712) und Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] (720) fertig gestellt wurden (s.a. Mythentexte).
Gegen diese These spricht, dass die Rolle der Frau als Priesterin offenbar in prähistorischer Zeit besonders ausgeprägt war, wie dies auch die bereits erwähnte chinesische Chronik aus dem dritten Jahrhundert anhand der japanischen Priesterkönigin Himiko [Himiko (jap.) 卑弥呼 ca. 170–248; frühgeschichtliche Priesterkönigin; auch Pimiko (wahrscheinliche Bedeutung: „Kind der Sonne“); chin. Pei-mi-hu] berichtet. Diese prominente Rolle der Frau in der japanischen Frühzeit könnte ebenfalls erklären, warum die wichtigste Himmelsgottheit als weiblich gedacht wurde. Amaterasus Gestalt inspiriert daher auch immer wieder Hypothesen über ein urgeschichtliches Matriarchat in Japan.
Andererseits darf man nicht übersehen, dass in der Izanagi/Izanami Episode ein patriarchalisches Rollenmodell vorherrscht, das mit dem Amaterasu/Susanoo Mythos geradezu spiegelbildlich verflochten ist: Im ersten Fall repräsentiert der Mann den Himmel, das Licht und das Leben, während die Frau die Erde, die Dunkelheit und den Tod verkörpert; im zweiten Fall ist das Geschlechterverhältnis genau umgekehrt. Diese Konstruktion wirkt nicht zufällig, sondern entspricht eher der Lehre von Yin und Yang, nach der aus einem Übermaß an Yang (Himmel, Sonne) letzlich wieder ein Yin (weibliche Göttin) entsteht und umgekehrt. In weiterer Folge produziert Amatersu einen männlichen (Yang) Nachfolger, der die Erde (Yin) beherrscht. Insofern wäre das Geschlecht der Amaterasu auch aus den „Gesetzen“ von Yin und Yang zu erklären, die irgendwann auf den japanischen Mythos übertragen wurden.
Dieses Nelly Naumann [Naumann, Nelly (west.) 1922–2000; deutsche Japanologin und Mythenforscherin] zufolge verschmilzt Tsukuyomi mit Susanoo, der seinerseits Züge eines archaischen Mondgottes innehat.
-Schema wird natürlich nicht immer konsequent durchgehalten, sondern mehrfach durch erzählerische Elemente konterkariert, die möglicherweise aus älteren mythologischen Schichten stammen. Diese bricolage, also das behelfsmäßige Zusammenstückeln augenscheinlich widersprüchlicher narrativer Elemente, zeigt sich auch anhand der Geschwister von Amaterasu, Tsukuyomi und Susanoo: Tsukuyomi, der Mondgott, hat überhaupt keine narrative Funktion und scheint wie eine Verlegenheitslösung — eingeschoben, damit der Mythos auch als Fundament der Astronomie und Astrologie herhalten kann. Der eigentliche Partner Amaterasus ist Susanoo, der wie diese Yin und Yang Elemente in seinem Wesen vereint. Der MythenforscherinVerlockendes Spiegelbild
Auch in der Hervorlockung der Sonnengottheit aus der Höhle lassen sich Motive finden, die in der griechischen Mythologie existieren. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Episode ein Spiegel, in dem Amaterasu ihr eigenes Ebenbild erblickt und dadurch dazu angeregt wird, die Höhle zu verlassen. Ähnlich, aber mit anderen Folgen, ergeht es dem griechischen Gott Zagreus, einem Sohn des Zeus und der Persephone, der sich in einer Höhle vor den Titanen versteckt, die den Auftrag haben, ihn zu vernichten. Es gelingt ihnen jedoch, Zagreus ausfindig zu machen und durch einen Spiegel, in dem er sein Ebenbild erblickt, aus seinem Versteck zu locken. Dies hat in diesem Fall zur Folge, dass Zagreus getötet und von den Titanen gefressen wird, doch auch diese fallen schließlich Zeus' Blitzen zum Opfer. Aus den Leichen der Titanen und des Zagreus formt Prometheus schließlich den Menschen. Wie man sieht, mögen Motive wie das verlockende Spiegelbild weit verbreitet sein, sind aber nicht notwendigerweise immer in den gleichen Kontext eingebunden.
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Die Yin-Yang Philosophie kommt vor allem im Nihon shoki explizit zum Ausdruck. Der erste Satz dieses Werks ist ein Zitat aus dem Huainanzi, einem chinesischen Werk der Han-Zeit, und beschreibt, wie sich das Universum aus der Teilung von Yin und Yang entwickelt hat.
- ↑ Die Silben -ki und -mi stehen für „Mann“ bzw. „Frau“. Izana- ist schwierig zu deuten. Eine traditionelle Erklärung, die auf Motoori Norinaga zurückgeht, leitet den Namen von izanau „einladen“ ab, was mit dem geschilderten Hochzeitsritus in Beziehung stehen könnte. Demgegenüber plädiert der Linguist Alexander Vovin für eine Verwandtschaft mit Koreanisch yenc („setzen, stellen“), woraus sich eine Bedeutung wie „[auf die Erde] gesetzte(r) Mann/Frau“ ergeben würde.
- ↑ Diese Erzählung kommt in der Hauptvariante des Nihon shoki nicht vor, wohl aber in mehreren Nebenvarianten, die im Wesentlichen dem Kojiki entsprechen.
- ↑ Obwohl zunächst von drei Geschwistern die Rede ist, wird der Mondgott kaum näher beschrieben. Nur in einer Nebenvariante ist von einem Zerwürfnis von Sonne und Mond die Rede, während ansonsten stets Susanoo die Rolle eines Antagonisten der Sonne einnimmt. Susanoos letztendlicher Aufenthalt wird meist mit dem Totenreich seiner „Mutter“ Izanami gleichgesetzt. Kōnoshi Takamitsu argumentiert jedoch, dass zumindest das Kojiki dahin gehend interpretiert werden muss, dass es sich um unterschiedliche Reiche am Rande der sichtbaren Welt handelt (z.B. Kōnoshi 1984).
- ↑ Vgl. Kapitel Geschichte, Himiko: Die erste historisch fassbare Herrscherin Japans.
- ↑ Zu den Einzelheiten s. Kamigraphie, Wettstreit zwischen Amaterasu und Susanoo.
- ↑ S. dazu Grapard 1991, Scheid 2016.
Internetquellen
- Kamigraphie: Zur Ikonographie und Ikonologie japanischer Gottheiten (Hg. Bernhard Scheid, Universität Wien, seit 2011).
- Kojiki Viewer (jp., en.) Web-Projekt der Shintō-Universität Kokugakuin Daigaku, in dem der Originaltext des Kojiki mit sehr genauen Kommentaren, sowohl in Japanisch als auch in Englisch versehen ist. (Vorläufig unvollständig.)
Literatur
Bilder
Glossar
- Ame no Uzume 天鈿女/天宇受賣 ^ mythologische Gottheit, Ahnherrin des Theaters
- Futsunushi 経津主 ^ Mythologischer Schwertgott
- Hiko Hohodemi 彦火火出見 ^ auch Hoori; mythologischer Vorfahre der Tennō Dynastie und Held des Mythos von Bergglück und Meerglück
- Jinmu Tennō 神武天皇 ^ wtl. „göttlicher Krieger“; gemäß den japanischen Mythen der erste menschliche Herrscher (Tennō) Japans; eigentlicher Name: Kami Yamato Iware-hiko no Sumera Mikoto 神日本磐余彦天皇 (Nihon shoki)
- Jitō Tennō 持統天皇 ^ 645–703, r. 686–697; 41. japanische Kaiserin
- kiki 記紀 ^ Sammelbezeichnung für KojiKI und Nihon shoKI (ki, Bericht, ist jeweils mit einem leicht abweichenden Zeichen geschrieben)
- Naumann, Nelly (west.) ^ 1922–2000; deutsche Japanologin und Mythenforscherin
- Ne no Kuni 根の国 ^ wtl. Wurzelland, auch Ne no Katasukuni 根之堅州國; Unterwelt
- Nihon shoki 日本書紀 ^ Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)
- Onogoroshima 淤能碁呂島 ^ Mythologischer Ursprungsort Japans; die „von selbst geronnene Insel“
- Ōkuninushi 大国主 ^ mythol. Gottheit; wtl. Großer Meister des Landes
- shikome 醜女 ^ „hässliche Frau“; Figur des Nō-Theaters; Variante der Ama no Uzume; auch: Dämonin der Unterwelt (in der Izanami-Episode)
- Takama-no-hara 高天原 ^ wtl. „Die Hohen Himmelsgefilde“, mythol. Bez. für das Reich der Himmlischen Götter; auch Takama-ga-hara
- Takemikazuchi 建御雷 ^ Mythologischer Schwertgott (wtl. Gewittergott); Ahnengottheit der Fujiwara; u.a. in den Schreinen Kashima und Kasuga verehrt
Religion in Japan, Inhalt
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- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
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„Die Götter des Himmels (Zeitalter der Götter, Teil 1).“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001