Feuer mit Feuer bekämpfen: Der ‚Gehörnte Meister‘ und sein Kult
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In den komplex verwobenen Glaubensvorstellungen des japanischen Buddhismus und des Shintō finden sich viele Beispiele für verehrte Figuren, die im Laufe ihrer Geschichte „die Seiten wechseln“, sowohl hinsichtlich ihrer religiöse Zugehörigkeit als ihrer moralischen Bewertung. Dazu lassen sich auch Dämonen zählen, welche nach ihrer Bezwingung und Unterwerfung (meist durch die Hand von mächtigen Mönchen) zu Wächtern der buddhistischen Lehre (dharma) und/oder zu Beschützern der Menschen vor Krankheit und Unheil werden. Als ein in ganz Japan prominenter Vertreter der letzteren Gruppe soll im folgenden Aufsatz der „Gehörnte Meister“ (Tsuno Daishi) und sein Glaubenskult vorgestellt werden.
Ryōgen
Die komplexe Gestalt des Gehörnten Meisters stellt ein einzigartiges Beispiel für die Symbiose von Mensch und Dämon dar, und zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie eigene Glaubensbewegungen hervorrief, die einst weite Verbreitung in Japan fanden und auch heute noch Spuren im religiösen Alltag hinterlassen. Ausgangspunkt war die Legende eines gewissen Tendai-Mönchs namens Ryōgen [Ryōgen (jap.) 良源 912–985; 18. Abt (zasu) der Tendai-Schule; unter Namen wie Jie Daishi, Ganzan Daishi, Tsuno Daishi oder Mame Daishi auch als Schutzheiliger populär], der einen seuchenbringenden Dämon erfolgreich schlagen und vertreiben konnte, indem er zuvor selbst die Gestalt eines Dämons angenommen hatte. Es ist diese Gestalt, die als „Gehörnter Meister“ schließlich vergöttlicht wurde. Wie in diesem Artikel gezeigt wird, ist dieser Kult aber nicht zu erklären, wenn man nicht auch die historische Figur des Ryōgen, einschließlich seines politischen Einflusses und seines Charismas bei Klerus, Adel und Volk mit berücksichtigt.
Biographie
Ryōgen wurde im Jahre 912 in der Gemeinde Azai der Provinz Ōmi (heutige Stadt Nagahama in der Präfektur Shiga), am Standort des heutigen Gyokusen-ji, dem „Tempel der Juwel-Quelle“ geboren. Sein Leben ist uns aus der relativ zeitnahen Biographie Jie daisōjō-den 慈恵大僧正伝 (1031 mit einem Zusatz aus 1032) sowie aus späteren eher hagiographischen Werken wie dem Jie daishi-den 慈恵大師伝 (1469) bekannt. Ryōgens Vater entstammte der chinesisch-stämmigen Familie Kozu 木津, seine Mutter dem alten Mononobe [Mononobe (jap.) 物部 wtl. „Sippe der Dinge“; altjap. Klan, der gegen den Buddhismus eingestellt war]-Clan, doch scheint die Familie in eher bescheidenen Verhältnissen gelebt zu haben. Spätere Biographen versuchten, Ryōgen eine schillerndere Abstammung zuzuschreiben, sodass er bisweilen auch als ein Nachkömmling des Uda Tennō oder des Gelehrten und postum vergöttlichten Sugawara no Michizane [Sugawara no Michizane (jap.) 菅原道真 845–903, Heian-zeitl. Staatsmann und Gelehrter; posthum als Tenman Tenjin vergöttlicht, heute Gott der Gelehrsamkeit] ausgewiesen wird. Im Alter von 11 Jahren wurde Ryōgen im Tendai-Zentrum Enryaku-ji [Enryaku-ji (jap.) 延暦寺 Haupttempel des Hiei Klosterbergs] auf Berg Hiei [Hiei-zan (jap.) 比叡山 Klosterberg Hiei bei Kyōto, traditionelles Zentrum des Tendai Buddhismus] als Mönchsschüler aufgenommen und soll bereits in jungen Jahren durch seine beeindruckende Intelligenz und seine außergewöhnliche Redegewandtheit die Gunst der mächtigen Fujiwara [Fujiwara (jap.) 藤原 mächtigste Adelsfamilie im jap. Altertum] erworben haben. Er erlangte dank dieser Wertschätzung Positionen, die ansonsten nur Mitgliedern des Hochadels vorbehalten waren, und hielt u.a. Riten für das persönliche Wohl der kaiserlichen Familie und die Geburt eines Thronfolgers ab. 966 stieg er zum 18. Oberhaupt (zasu [zasu (jap.) 座主 Oberabt; höchstes Amt innerhalb des japanischen Tendai Buddhismus]) der Tendai Schule auf. Mit 54 Jahren war er einer der jüngsten, die dieses Amt je innehatten.
- ^ Der Mönch Ryōgen, (aka. Ganzan Daishi, 912–985) in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen: Als Mönch und als Dämon (mit dem hier nicht angeführten Namen) Tsuno Daishi.
Das Bild ist eine Art Glückslos (o-mikuji). Der beigefügte Text lautet:
- Ganzan Daishi war eigentlich eine Manifestation von Kannon mit dem Wunschjuwel. Daher müssen alle, die dieses Los ziehen, aus ganzem Herzen folgenden Spruch rezitieren.
- Mantra von Kannon mit dem Wunschjuwel: on harada handomei un / on handoma jindamani jinhara un
- (OM VARADA PADME HUM / OM PADMA CINTAMANI DŻWALA HUM)
Edo-Zeit. Wikimedia Commons.
- ^ Portrait-Statue des Tendai Mönchs Ryōgen.
1286. Bildquelle: Bernhard Scheid, flickr, 2024. - ^ Ryōgen offenbart sich im Laufe einer Debatte als glänzend strahlender Buddha. Detail aus einer illustrierten Biographie Ryōgens (Ganzan Daishi engi emaki).
Werk von Sumiyoshi Gukei (1631–1705). Edo-Zeit. Kan'ei-ji Archives. - ^ Waldweg zur Tempelhalle des Ganzan Daishi, Bezirk Yokawa auf dem Berg Hiei
Josko Kozic, 14. Juli 2019, mit freundlicher Genehmigung. - ^ Steintafel in Yokawa mit dem „Gehörnten Meister“ (Tsuno Daishi) und seiner Legende.
Josko Kozic, 14. Juli 2019 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Kannon-Statue auf dem Weg zur Tempelhalle des Ganzan Daishi, Bezirk Yokawa auf dem Berg Hiei
Josko Kozic, 14. Juli 2019 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Mausoleum des Ganzan Daishi (Ryōgen), Bezirk Yokawa auf dem Berg Hiei
Josko Kozic, 14. Juli 2019 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Papiertalismane (o-fuda) aus Yokawa am Berg Hiei mit Abbildungen von Mame Daishi, Tsuno Daishi und Gōma Daishi.
Kyōto ikō, 2020 (Blog). - ^ Tsuno Daishi Plakat mit der Aufforderung, zu Corona-Zeiten beim Neujahrsbesuch des Tempels Abstand zu wahren.
AnnieK, 2021/1/3 (J-Blog). - ^ Seltene Darstellung des „Gehörnten Großmeisters“ (Tsuno Daishi) als „realistischer“ oni. Die Wunschperle auf seinem Kopf identifiziert ihn als menschenfreundliche Schutzgottheit.
19. Jh. Tomoe Steineck, Martina Wernsdörfer, Raji Steineck, WegZeichen: Japanische Kult- und Pilgerbilder. Die Sammlung Wilfried Spinner (1854–1918). Zürich: VMZ (Ausstellungskatalog), Abb. 9 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Ganzan Daishi (Ryōgen) als Mame Daishi, „Bohnen Meister“ oder „Dämonenbezwinger“, in 33facher Ausfertigung.
Warakuweb, 2020. - ^ Der Tendai-Abt Tenkai zelebriert enen Ritus vor dem Bild seines Vorgängers aus der Heian-Zeit, Ryōgen.
Edo-Zeit. Tōkyō National Museum. - ^ Detail eines Farbholzschnitts, in dessen Hintergrund die Parade der „Beiden Meister“, Ryōgen und Tenkai zu sehen ist. Die Szene findet auf dem Gebiet des Kan’ei-ji in Edo, dem heutigen Ueno-Park statt.
Werk von Utagawa Toyokuni. Edo-Zeit. Bunka dejitaru raiburari.
Religion in Japan, Inhalt
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Dämonen
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Terauke-System
- Neo-Konfuzianismus
- Kokugaku
- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
- Anhang
- Metalog
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Josko Kozic, „Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001