Das Herz Sutra (Hannya shingyō)
Werk von Zen'en (zugeschrieben) (1197–1258). Kamakura-Zeit. Bildquelle: ColBase (Tokyo National Museum), bildbearbeitet.
Das Herz Sutra, jap. Hannya shingyō [Hannya shingyō (jap.) 般若心経 „Herz Sutra der vollkommenen Weisheit“], bezeichnet eigentlich das „Herzstück“ des Sutras der Höchsten Weisheit (Prajnaparamita sutra [Prajñāpāramitā sūtra (skt.) प्रज्ञापारमिता सूत्र „Sutra der Höchsten Weisheit“, Bezeichnung für eine ganze Gruppe von Texten, zu der auch das Herz Sutra (Hannya shingyō) gehört (jap. Hannya kyō 般若經)]), ist also eine Art Kurzfassung eines längeren sutra [sūtra (skt.) सूत्र „Faden“, Lehrrede des Buddha, kanonische Schrift (jap. kyō 経 oder kyōten 経典)]s. Der berühmteste Satz in beiden Versionen lautet „Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form.“ Das Herz Sutra ist somit ein exemplarisches Beispiel für die buddhistische Philosophie der Leere (shunyata [śūnyatā (skt.) शून्यता „Leere, Nichts“, im Buddhismus ein wichtiges philosophisches Konzept (jap. kū 空)]), die alle Phänomene der sichtbaren Welt in der Leere aufgehoben und alle Dualismen letztlich als Illusionen ansieht.
Versionen und Übersetzungen
Das Prajnaparamita sutra, auf dem das Herz Sutra beruht, existiert in mehreren Sprachen und Fassungen. Die einflussreichste Fassung ist eine Übertragung des ursprünglichen Sanskrit-Textes ins Chinesische, welche im siebenten Jahrhundert von Xuanzang [Xuanzang (chin.) 玄奘 602–664; berühmter chin. Pilgermönch und buddh. Gelehrter; Autor eines einflussreichen Reiseberichts über das buddhistische Indien, der später als „Reise nach dem Westen“ in einen Roman gefasst wurde] angefertigt wurde. Die folgende Fassung des Herz Sutras beruht ebenfalls auf Xuanzang und ist hier gemäß dem sogenannten Taishō Kanon (Taishō shinshū daizōkyō [Taishō shinshū daizōkyō (jap.) 大正新脩大藏經 Taishō Tripitaka, Taishō Kanon; in der Ära Taishō (1912–1926) revidierte Ausgabe des chinesischen buddhistischen Kanons]) wiedergegeben. Es handelt sich um einen chinesischen Text, der aber dank der vielen unübersetzten Sanskrit-Termini (in sino-sanskritischer Aussprache) auch für Chinesen nie auf Anhieb verständlich war. In Japan wird der Text noch ein weiteres Mal dadurch verkompliziert, dass man die chinesische Version unübersetzt, aber in sino-japanischer Aussprache (on’yomi [on’yomi (jap.) 音読み Lesung der kanji „nach dem Laut“, d.h. in sino-japanischer Aussprache]) rezitiert, wobei sich im Laufe der Jahrhunderte auch hier noch einige Besonderheiten in die Lesungen eingeschlichen haben.
Der chinesische Text und die japanische Lesung sind den unten erwähnten Quellen entnommen, die deutsche Übersetzung stammt vom Autor dieses Web-Projekts, Bernhard Scheid. In der Übersetzung wurden Lehnwörter aus dem Sanskrit, die das chinesische Original unübersetzt wiedergibt, ebenfalls in Sanskrit belassen und mit Erläuterungen versehen. Auf diese Weise hoffe ich die Aura des Geheimnisvollen, die der Text für ostasiatische Buddhisten bis heute hat, am besten wiedergeben zu können.
Text
japanische Aussprache
般若波羅蜜多心経
hannya haramitta shingyō
Herz Sutra der Prajnaparamita
觀自在菩薩。行深般若波羅蜜多時。照見五蘊皆空。度一切苦厄。
kanjizai bosatsu. gyō jin hannya haramitta ji. shōken goun kai kū. do issai kuyaku.
Bodhisattva Avalokiteshvara1 versenkte sich tief in Prajnaparamita2 und erkannte, dass die Fünf Skandhas3alle leer sind. So überwand er Mühsal und Pein.
舍利子。色不異空。空不異色。色即是空。空即是色。受想行識亦復如是。
shari-shi. shiki fu i kū. kū fu i shiki. shiki soku ze kū. kū soku ze shiki. ju-sō-gyō-shiki yaku bu nyo ze.
„Oh, Meister Shari,4 Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form. Daher ist Körper Leere und Leere ist Körper. Ebenso verhält es sich mit Gefühl, Vorstellung, Wille und Wahrnehmung.“5
舍利子。是諸法空相。不生不滅。不垢不淨不增不減。
shari-shi. ze shohō kūsō. fushō fumetsu. fuku fujō fuzō fugen.
„Oh, Meister Shari, alle Dharmas6 sind leer. Ohne Entstehen und ohne Vergehen; ohne Schmutz und ohne Reinheit; ohne Zunahme und ohne Abnahme.“
是故空中。無色。無受想行識。無眼耳鼻舌身意。無色聲香味觸法。無眼界。乃至無意識界。
ze ko kū chū. mu shiki. mu ju-sō-gyō-shiki. mu gen-ni-bi-zes-shin-i. mu shiki-shō-kō-mi-soku-hō. mu genkai. naishi mu ishikikai.
„Daher existiert in der Leere keine Form, kein Fühlen, Wahrnehmen, Wollen oder Denken.7 Nicht Auge noch Ohr, Nase, Zunge, Körper oder Geist. Weder Farbe noch Ton, Geruch, Geschmack, Berührung oder Gegenstand. Weder die sichtbare Welt noch die Welt der Vorstellung.“
無無明。亦無無明盡。乃至無老死。亦無老死盡。無苦集滅道。無智亦無得。
mu mumyō. yaku mu mumyō jin. naishi mu rōshi. yaku mu roshi jin. mu ku-shū-metsu-dō. mu chi yaku mu toku.
„Nicht das Nicht-Wissen noch die Aufhebung des Nicht-Wissens; nicht Alter und Tod noch die Aufhebung von Alter und Tod; kein Leiden, kein Entstehen, kein Vergehen, kein Weg; weder Erkennen noch Erlangen.“
以無所得故。菩提薩埵。依般若波羅蜜多故。心無罣礙。無罣礙故。無有恐怖。遠離顚倒夢想。究竟涅槃。
i mu shotokko. bodaisatta. e hannya haramitta ko. shin mu kege. mu kege ko. mu u kufu. onri tentō musō. kukyō nehan.
„Weil der Bodhisattva nichts begehrt und sich in Prajnaparamita versenkt, ist sein Bewusstsein ohne Hindernisse. Weil ungehindert, ist er ohne Furcht. Fern von allen Illusionen und Träumen meistert er das Nirvana.“
三世諸佛。依般若波羅蜜多故。得阿耨多羅三藐三菩提。
sanze shobutsu. e hannya haramitta ko. toku anokutara sanmyaku sanbodai.
故知般若波羅蜜多。是大神咒。是大明咒是無上咒。是無等等咒。能除一切苦。真實不虛。
ko chi hannya haramitta. ze daijin-shu. ze daimyō shu ze mujō shu. ze mutōdō shu. nō jo issai ku. shinjitsu fuko.
„Höre daher den großen göttlichen Spruch der Prajnaparamita, das große Mantra, den unübertrefflichen Spruch, den unvergleichlichen Spruch, der alles Leiden hinwegfegt. Dies ist die Wahrheit, keine Täuschung.“
故說般若波羅蜜多咒即說咒曰
ko setsu hannya haramitta shu soku setsu shu watsu
Und so erklärte er das Mantra der Prajnaparamita und sprach:
掲帝掲帝 般羅掲帝 般羅僧掲帝 菩提僧莎訶
gyatē-gyatē hara-gyatē harasō-gyatē boji sowaka
„Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha“10
般若波羅蜜多心經
hannya haramitta shin-gyō
Herz Sutra der Höchsten Weisheit
Verweise
Fußnoten
- ↑ Eigentlich Bodhisattva der Freien Sicht, Beiname des Avalokiteshvara, jap. Kannon Bosatsu.
- ↑ prajna = Weisheit, paramita = Transzendenz. Es gibt genau genommen sechs Stufen von Prajnaparamita, die man erreichen muss, um ein Bodhisattva zu werden. Hier bedeutet Prajnaparamita sinngemäß die höchste Stufe der Wahrnehmung/Erkenntnis. Im chinesisch/japanischen Text ist der Begriff nicht übersetzt, sondern als Lehnwort beibehalten hannya haramitta.
- ↑
Die fünf Skandhas (jap. goun 五蘊), wtl. die „Fünf Ansammlungen“, sind Bestandteile der menschlichen Konstitution. Die genaue Bedeutung der einzelnen Begriffe ist Gegenstand mannigfacher Interpretationen, lautet aber in etwa folgendermaßen:
- Rupa (shiki 色 ), Form oder Materie (materieller Körper)
- Vedana (ju 受), Fühlen, Gefühl
- Samjna (sō 想), Vorstellung, Phantasie
- Samskara (gyō 行), Wille, Gestaltungskraft
- Vijnana (shiki 識), Wahrnehmung, Intellekt
- ↑ Shariputra, ein Schüler des Buddha, der hier als passiver Gesprächspartner des Avalokiteshvara auftritt.
- ↑ „Form“ (rūpa) kann auch als „Körper“ verstanden werden, also das erste der Fünf Skandhas. Abschließend werden auch die weiteren vier Skandhas aufgezählt.
- ↑ Dharma hier in der Bedeutung von Gegenstand, Phänomen.
- ↑ Noch einmal die Fünf Skandhas
- ↑ Buddhas der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
- ↑ Höchste, vollkommene Erleuchtung
- ↑ Der namhafte Buddhismusforscher Edward Conze gibt die inhaltliche Bedeutung dieser Formel folgendermaßen wieder: „Gone, gone, gone beyond, gone altogether beyond, o what an awakening, all hail!“ (Gegangen, gegangen, hinübergegangen, ganz hinübergegangen, oh welch ein Erwachen, alles Heil!) Andere Buddhismuskundler deuten gate als „Weisheit“ und übersetzen: „O wisdom, o wisdom, o supreme wisdom, o unequalled supreme wisdom! Enlightenment! Hail!“ („Oh Weisheit, oh Weisheit, oh höchste Weisheit, oh unübertreffliche höchste Weiheit! Erleuchtung! Heil!“ [Michael Pye in einem Beitrag zum Diskussionsforum PMJS, 10. Jänner 2014]), wobei allseits eingestanden wird, dass die Formel eine Vielzahl von Interpretationen zulässt. In der chinesisch-japanischen Version ist die inhaltliche Bedeutung jedenfalls nebensächlich, denn man nahm an, dass nur der genaue Wortklang das gewünschte Ergebnis, die höchste Form der Erkenntnis, hervorrufen könne. Daher behielt man in China die Laute der Sanskrit-Gebetsformel so gut als möglich bei und ließ dafür den genauen Sinn der Formel unbestimmt.
Internetquellen
- Hannya haramitta shingyō 般若波羅蜜多心經, Taishō Tripitaka, T0251.08.0848c06. (The SAT Daizōkyō Text Database, Universität Tokyo, seit 1998)
- Wikisource:
- The Heart Sutra. Übersetzung des Buddhologen Edward Conze (1904–1979) aus dem Sanskrit
Bilder
- ^ Als ich diese Statue erstmals in das Projekt aufnahm, galt sie als Shō Kannon (auch Kanzeon; skt. Avalokiteshvara chin. Guanyin); in der linken Hand wurde eine ehemals vorhandene Lotosblüte vermutet, das Kennzeichen dieses Bodhisattva. Mittlerweile scheinen Experten in der Figur eher Miroku (Maitreya) zu erkennen. Im Kontext dieses Handbuchs soll die Figur dennoch als Beispiel für Kannon fungieren und zugleich ausdrücken, dass die Unterschiede zwischen gleichrangigen buddhistischen Heilsfiguren so subtil sind, dass man sie in vielen Fällen vernachlässigen kann.
Werk von Zen'en (zugeschrieben) (1197–1258). Kamakura-Zeit. Bildquelle: ColBase (Tokyo National Museum), bildbearbeitet.
- ^ Japanische Abschrift des Herz-sutra.
Heian-Zeit, 12. Jh. The British Museum.
Glossar
- Da bore boluomidou jing (chin.) 大般若波羅蜜經 ^ „Sutra der vollkommenen Weiheit“; jap. Hannyaharamitta-kyō
- hannyaharamitta 般若波羅蜜多 ^ „vollkommene Weisheit“, abgeleitet von skt. prajnaparamita
- Hannyaharamitta-kyō 般若波羅蜜多経 ^ „Sutra der vollkommenen Weiheit“
- Hannya shingyō 般若心経 ^ „Herz Sutra der vollkommenen Weisheit“
- prajñāpāramitā (skt.) प्रज्ञापारमिता ^ „Vollkommene Weisheit“ (jap. hannyaharamitta 般若波羅蜜多)
- Prajñāpāramitā sūtra (skt.) प्रज्ञापारमिता सूत्र ^ „Sutra der Höchsten Weisheit“, Bezeichnung für eine ganze Gruppe von Texten, zu der auch das Herz Sutra (Hannya shingyō) gehört (jap. Hannya kyō 般若經)
- Taishō shinshū daizōkyō 大正新脩大藏經 ^ Taishō Tripitaka, Taishō Kanon; in der Ära Taishō (1912–1926) revidierte Ausgabe des chinesischen buddhistischen Kanons
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- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
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- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
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„Das Herz Sutra (Hannya shingyō).“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001