Matsuri — Religiöse Volksfeste

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Matsuri — Religiöse Volksfeste

Der Begriff

matsuri(jap.)

religiöses (Volks-)Fest

Ritus

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umschreibt im weiteren Sinne alle gemein·schaft·lichen Feste, ein·schließ·lich der jahres·zeit·lichen Feste (

nenjū gyōji 年中行事 (jap.)

Jahresfeste

Kalender, Ritus

Der Begriff „nenjū gyōji“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

). Im allgemeinen assoziiert man mit matsuri aber religiöse Feste mit sehr speziel·len lokalen Beson·der·heiten, also regio·nale religi·öse Volks·feste. Obwohl auch Tempel matsuri veranstal·ten können, werden diese Feste typi·scher·weise für

kami(jap.)

Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō

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abgehal·ten, gehen also von Schreinen aus. Bei den meisten matsuri steht eine Prozes·sion im Mittel·punkt und im Mittel·punkt der Prozes·sion steht ein trag·barer Schrein,

mikoshi 神輿 (jap.)

tragbarer Schrein

Gegenstand

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, in dem die Gottheit des lokalen Schreins vorüber·gehend ihren Sitz einnimmt. Übli·cher·weise wird also der „Gott·leib“ (

shintai 神体 (jap.)

heiliges Objekt eines Shintō-Schreins; wtl. „Gottkörper“

Schrein, Gegenstand

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) einer Kami-Gottheit im mikoshi zu einem bestimm·ten Ziel getragen, das man

tabisho 旅所 (jap.)

wtl. „Reiseort“; Ziel einer Prozession mit tragbarem Schrein (mikoshi) bei Schreinfesten

Schrein

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, „Reiseort“, nennt. Wie im Haupt·schrein bleibt der shintai auch während dieser „Reise“ verbor·gen. Hinge·gen zieht der trag·bare Schrein mit seinen reichen Ver·zierun·gen alle Blicke auf sich.

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Schreinfest in Tokyo
Umzug mit tragbarem Schrein (mikoshi) beim Sanja Matsuri des Asakusa Schreins. Im Unterschied zu anderen matsuri dürfen in diesem Fall auch Frauen den Schrein tragen.
Wada Yoshio, 2004 (mit freundlicher Genehmigung).

Meist wird der mikoshi gleich einer Sänfte von zahlreichen Anhän·gern des Schreins auf den Schul·tern getragen. Rund um den mikoshi werden aller·hand traditionelle Tänze, Wett·kämpfe oder Schau·künste veranstal·tet, deren Varian·ten·reich·tum kaum Grenzen kennt. Oft drängen diese Seiten·aktivi·täten die eigent·liche Prozes·sion in den Hinter·grund. Aber auch die Formen des trag·baren Schreins und der umher·getra·genen Ver·ehrungs·gegen·stände können sehr unter·schied·lich sein. Äußerlich ähneln matsuri einer Fron·leich·nams·prozes·sion in katho·lischen Ländern, doch stehen Spek·takel und aus·gelas·sene Fröh·lich·keit unum·wunden im Mittel·punkt der Veran·stal·tung.

Beispiel Gion Matsuri

Das

Gion Matsuri 祇園祭 (jap.)

Gion Fest; größtes matsuri Kyōtos; ursprünglich zur Abwehr zürnender Geister, später zur Besänftigung der Seuchengottheit Gozu Tennō abgehalten

Ritus

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in Kyoto, das den ganzen Juli über gefeiert wird, ist wohl das be·rühm·teste und vom touris·tischen Standpunkt aus spek·takulärste matsuri Japans. Es wird vom

Yasaka Jinja 八坂神社 (jap.)

Yasaka Schrein (Kyōto), ehemals als Gion Schrein bezeichnet

Schrein

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Geographische Lage von Yasaka Jinja; s.a. Geo-Glossar

veran·stal·tet, dem es auch seinen Namen verdankt, denn der Schrein hieß bis zur

Meiji 明治 (jap.)

posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt

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-Zeit selbst Gion. Das Gion Fest ist schon seit der

Heian 平安 (jap.)

auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)

Ort, Epoche

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-Zeit belegt und geht auf eine Zeremonie zur Besänftigung zürnen·der Geister (

goryō-e 御霊会 (jap.)

Zeremonie zur Geisterbesänftigung

Ritus

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) zurück, die erstmals anlässlich einer Seuchen·plage im Jahr 869 abgehal·ten worden war. Die Gottheit, die damals für die Seuche ver·ant·wort·lich gemacht wurde, war

Gozu Tennō 牛頭天王 (jap.)

„Ochsenköpfiger Himmelskönig“, Seuchengott; wird manchmal mit Susanoo identifiziert

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(der „Ochsenköpfige Himmelskönig“), ein indischer Gott, der mit dem Buddhis·mus nach Japan gekom·men war. Er wurde aller·dings auch mit

Susanoo 須佐之男/素戔男 (jap.)

mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu

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, dem abtrün·nigen Bruder der Sonnen·gott·heit gleich·gesetzt. Es entspricht der japanischen Religiosität, dass man sich gerade für eine eher unheim·liche, furcht·ein·flößende Gott·heit bemühte, ein beson·ders buntes, fröh·liches Fest auf die Beine zu stellen.

Prozessionswagen

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Höhepunkt des Gion Matsuri ist die Parade der sogenannten

dashi 山車 (jap.)

Prozessionswagen bei Schreinfesten

Gegenstand

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am 16. und 17. Juli.  Dashi-Pro·zessions·wagen unter·teilen sich in zwei Gruppen: (1) yama (wtl. Berge), von denen es ingesamt zwei·und·zwan·zig gibt. Sie ähneln den üblichen mikoshi-Schreinen und werden auf den Schul·tern getragen. (2) hoko (wtl. Lanzen, insgesamt sieben), das sind riesige bunt geschmück·ten Wagen, auf denen Helle·barden in über·dimen·sionaler Form nach·gebil·det sind. Diese Helle·barden sollen schon in der ursprünglichen Zeremonie zur Abwehr der Seuche eingesetzt worden sein. Yama und hoko dienen beide zugleich als Bühne für diverse Schau·künste und -gegen·stände. Die Ausstat·tung wird von den Bezirks·gemein·den rund um den Yasaka-Schrein übernom·men. Eigentlich handelt es sich nur um das Vorspiel zur Prozes·sion des mikoshi, doch dank der beson·deren Ausgestal·tung der Pro·zessions·wagen zieht dieser „Side-Event“ die meiste Aufmerk·samkeit der Besucher auf sich. Übrigens gibt es in ganz Japan Zweig·schreine des Yasaka Schreins, die ähnliche Prozes·sionen veranstalten.

Weitere Beispiele

Nackt-Feste

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Zu den typischen Veranstaltungen im Zusammen·hang mit matsuri zählen sportliche Ereig·nisse, die große Gruppen von Menschen umfas·sen. Etwa groß angeleg·tes Tau·ziehen. Auch Pferde- oder Boots·rennen in großen Gruppen gehören dazu. Eine beson·dere Heraus·forderung, sowohl in körper·licher als auch in sozialer Hinsicht, stellen die soge·nannten Nackt·feste (

hadaka matsuri 裸祭 (jap.)

wtl. Nackt-Fest; religiöses Fest

Ritus

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) dar, bei denen Gruppen junger Männer, nur mit einem Lenden·schurz (fundoshi) bekleidet bei eisiger Kälte ins Wasser sprin·gen. Das Bad im Fluss wird als rituelle Reinigung (

misogi(jap.)

Purifikation, Reinigungsritus, rituelle Waschung

Ritus

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) verstan·den.

Feuer Feste

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Ebenso wie das Wasser kann auch das Feuer rituelle Reinigung herbei·führen und spielt daher in vielen religiösen Feiern ein Rolle. Es gibt auch groß angelegte matsuri, die das Feuer in den Mittel·punkt stellen. In den meisten Fällen besteht der Höhe·punkt eines solchen Feuer matsuri im Gang durch die glühenden Kohlen (

hiwatari 火渡り (jap.)

Feuer-Gang, Gang durch glühende Kohlen

Ritus

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), der von Priestern und Laien gemein·sam durch·geführt wird. Solche Feuer·gänge sind aus vielen Kulturen bekannt. In Japan werden sie fast immer von bud·dhis·tischen Tempeln, be·ziehungs·weise vom synkretis·tischen Orden der Bergasketen (

yamabushi 山伏 (jap.)

Bergasket, wtl. der in den Bergen schläft; Praktikant des Shugendō

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) durchgeführt.

Ernte- und Fruchtbarkeitsfeste

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In der ehemals agrarischen, traditionel·len Gesellschaft spielten Ernte·bitt- und Ernte·dank·feste stets eine große Rolle. Wie in anderen Kulturen bediente man sich bei rituel·len Bitten um reiche Ernte (

hōnen matsuri 豊年祭 (jap.)

Erntebitt-Fest, Fruchtbarkeitsfest

Ritus

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) auch in Japan häufig einer sexuel·len Symbolik. Spuren von ent·sprech·enden Phal·lus·kulten sind in ganz Japan zu finden, aller·dings sind die ent·sprech·enden Kult·gegen·stände zumeist in diskrete Seiten·schreine ausgelagert worden. In ein paar wenigen Schreinen haben sich phal·lische matsuri-Prozes·sionen aller·dings als besondere Touris·ten·attrak·tionen erwiesen und werden mit großer Aus·ge·lassen·heit gefeiert. Ur·sprüng·lich mit der Bitte um fruchtbare Ernte oder Kinder·segen verbunden, haben manche dieser matsuri heute die Züge von love parades angenom·men.

Matsuri — Allgemeine Merkmale

Matsuri sind heutzutage besonders für den inner·japanischen Touris·mus attrak·tiv und werden daher zu·nehmend bunter und viel·ge·stal·tiger. Nicht selten erweisen sich angeb·lich Jahr·hunderte alte Traditionen als kürzlich ent·stan·dene invented traditions. Berühmte Schrein·feste wie das Gion Matsuri in Kyoto können aber anderer·seits sehr wohl auf eine lange Geschichte zurück·blicken. Ästhetisch gesehen sind die meisten matsuri von den Stil·elemen·ten des Kabuki-Theaters geprägt. Man kann daher davon ausgehen, dass das heute typische matsuri seine Aus·gestal·tung der

Edo 江戸 (jap.)

Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);

Ort, Epoche

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-zeit·lichen Stadtkul·tur verdankt.

Soziologisch betrachtet fällt der gruppen·betonte Charak·ter japanischer matsuri ganz besonders ins Auge. Dieser erstreckt sich nicht nur auf die Teil·nahme am Fest, sondern auch auf die Vor·be·rei·tung. Ob Tänze, Wett·kämpfe oder Prozes·sionen, stets ist eine ver·hältnis·mäßig große Anzahl von Helfern nötig, die sich zumeist unentgeltlich und auf der Basis lokaler Ver·bunden·heit für die Ver·an·stal·tung engagieren. Während des matsuri sind sie durch einheit·liche Gewän·der als zusam·men·gehörige Gruppe gekenn·zeich·net. Matsuri haben somit eine wichtige Funktion in der Errich·tung und Auf·recht·erhal·tung eines lokalen Ge·mein·schafts·bewusst·seins, da ohne eine funktionierende mit dem Schrein (oder Tempel) in Verbindung stehende Gemeinde kein matsuri zustande kommen könnte.

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Fröhliche rituelle Reinigung/Kühlung beim sommerlichen Fukagawa Matsuri in Tōkyō.
Wada Toshio, 2005 (mit freundlicher Genehmigung).

Trotz des üblicherweise spektakulären Charakters von matsuri sollte ihr sakraler Aspekt nicht übersehen werden. Die Aus·gelas·sen·heit der Teil·neh·mer steht nur schein·bar im Wider·spruch zu religiöser Ernst·haftig·keit, oder genauer, sie schließt religiöse Ernst·haftig·keit keines·wegs aus. Vor allem die Vor·be·rei·tungen verlan·gen sowohl ge·wissen·hafte Arbeits·teilung als auch die Befolgung zeremoniel·ler Tabu·regeln. Dies betrifft insbesondere die beteiligten Pries·ter. Sie bereiten sich tradi·tio·neller·weise durch asketische Übungen und die Ein·haltung von Tabu·regeln (Vermeidung jeden Kontakts mit „Unreinem“) mehrere Tage oder Wochen auf das Fest vor, das ja im Grunde eine besondere Begegnung mit der gefeier·ten Gottheit darstellt.

Matsuri sind Zeiten, in denen die Regeln des Alltags aufgehoben sind. Das kann heiligen Ernst bedeuten oder exzes·sive Aus·ge·lassen·heit, in vielen Fällen beides. Diese schein·bare Wider·sprüch·lich·keit ist typisch, nicht nur für Japan sondern viel·leicht für die Mehr·zahl aller kulturel·len Aus·drucks·formen von Religion (vgl. Faschings- oder Fronleich·namsprozes·sionen). Die Ver·drän·gung des Exzes·ses, wie sie uns von christlicher Pietät und aufgeklär·ter Rationalität gepräg·ten, moder·nen Europäern als selbst·verständlich erscheint, ist wohl eher die Aus·nahme als die Regel in der Kultur religiöser Feiern.

Religion in JapanAlltag
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Matsuri: Religiöse Volksfeste.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001