Mythen/Jenseits/Hungergeister: Unterschied zwischen den Versionen
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Obwohl in Indien entstanden und auf indische Verhältnisse zugeschnitten, bot die Darstellung der Hungergeister auch in Japan Möglichkeiten, Phänomene des täglichen Lebens mit ihnen zu verbinden und ihre Existenz plausibel erscheinen zu lassen. {{g|Lafleurwilliam}} argumentiert in einem 1989 erschienenen Aufsatz, dass die Hungergeister eine quasi-naturwissenschaftliche Erklärung für das natürliche Verschwinden jeglicher Art von Abfall oder Unrat boten. Zugleich verbanden sie sich mit den allgegenwärtigen Hungerphänomenen. Dieser praktische Zugang führte laut LaFleur zu einer Art vormodernem Röntgen-Blick, durch den die ''gaki'' auf den Bildrollen der späten Heian-Zeit sichtbar gemacht wurden. | Obwohl in Indien entstanden und auf indische Verhältnisse zugeschnitten, bot die Darstellung der Hungergeister auch in Japan Möglichkeiten, Phänomene des täglichen Lebens mit ihnen zu verbinden und ihre Existenz plausibel erscheinen zu lassen. {{g|Lafleurwilliam}} argumentiert in einem 1989 erschienenen Aufsatz, dass die Hungergeister eine quasi-naturwissenschaftliche Erklärung für das natürliche Verschwinden jeglicher Art von Abfall oder Unrat boten. Zugleich verbanden sie sich mit den allgegenwärtigen Hungerphänomenen. Dieser praktische Zugang führte laut LaFleur zu einer Art vormodernem Röntgen-Blick, durch den die ''gaki'' auf den Bildrollen der späten Heian-Zeit sichtbar gemacht wurden. |
Version vom 15. Dezember 2021, 11:37 Uhr
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Der Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. gō 業)]-Theorie zufolge ist das Dasein als Hungergeist (skt. preta [preta (skt.) प्रेत „Hungergeist“ (jap. gaki 餓鬼)], jap. gaki [gaki (jap.) 餓鬼 Hungergeist; skt. preta]) die Folge übermäßiger Gier in einer früheren Existenz. Unter den Sechs Bereichen der Wiedergeburt (rokudō [rokudō (jap.) 六道 wtl. die Sechs Wege = Bereiche der Wiedergeburt]) erfreuen sich die Hungergeister verhältnismäßig großer Aufmerksamkeit in Japan. Besonders gegen Ende der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit (11.–12. Jh.) scheint das Interesse am Jenseits und an den Hungergeistern — zumindest in der höfischen Gesellschaft — groß gewesen zu sein. Davon zeugen illustrierte Bildrollen (Gaki zōshi [Gaki zōshi (jap.) 餓鬼草紙 Illustrierte Querbildrollen der Hungergeister]), die von Tennō Go-Shirakawa [Go-Shirakawa Tennō (jap.) 後白河天皇 1127–1192; 77. Kaiser von Japan (r. 1155–1158); stellte vor allem als Exkaiser im Mönchsstand ein wichtiges politisches Gegengewicht zu den Diktatoren Taira no Kiyomori und Minamoto no Yoritomo dar] persönlich in Auftrag gegeben worden sein sollen. Sie offenbaren nicht nur eine fast liebevolle Detailtreue bei der Darstellung der Hungergeister, sondern gewähren auch einen ungewöhnlich lebendigen Einblick in das damalige Leben. Darüber hinaus sind die Geister mit physiologischen Merkmalen — einem aufgeblähten Bauch — ausgestattet, die tatsächlich bei Hungernden auftreten.1 Die Darstellungen, und die Bedeutung der Hungergeister insgesamt, scheinen somit auch eine Reaktion auf die Ende der Heian-Zeit besonders häufigen Hungersnöte gewesen zu sein.
Trank- und Speiseopfer
Vorlage:WmaxX Ausspeisung der Hungergeister durch buddhistische Mönche. Die Mönche folgen dabei dem Beispiel des Buddha [Buddha (skt.) बुद्ध „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)]-Schülers Ananda [Ānanda (skt.) आनन्द „Freude“, Schüler des Buddha (jap. Anan 阿難)], der die Hungergeister auf diese Weise von ihrer leidvollen Existenzform erlöste. Durch die Erlösung eines Hungergeists, kann man auch für sich selbst gutes Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. gō 業)] erwirken. Vorlage:WmaxX Das urabon [urabon (jap.) 盂蘭盆 Ursprünglicher (buddhistischer) Name des Bon-Fests, abgeleitet von ullambana]-Fest in der späten Heian-Zeit: Einige Menschen beten am Friedhof (zu sehen ist links ein Grab-Stupa) und opfern den gaki Wasser, das diese gierig auflecken. Währenddessen halten andere eine fröhliche Feier ab.
Die obigen Abbildungen entstammen einer Gaki zōshi-Bildrolle, die heute dem Nationalmuseum Kyōto gehört. Sie befand sich möglicherweise ursprünglich im Besitz von Kaiser Go-Shirakawa (1127–92; r.1155–58). Andere Bilder dieser Bildrolle illustrieren buddhistische Legenden wie etwa die Geschichte Mokurens [Mokuren (jap.) 目連 Schüler des Buddha; skt. Maudgalyayana; errettet seine Mutter aus der Hölle], die sich auf die Hungergeister beziehen. Es handelt sich also um Material, das die Relevanz des Urabon-Festes in leicht fasslicher Form illustrieren sollte.
Verbindung mit dem Unreinen
Eine andere Bildrolle, die heute im Tōkyō National Museum aufbewahrt wird, hebt mehr die unheimlichen und unappetitlichen Aspekte der Hungergeister hervor. Zugleich spricht aus der Art der Darstellung auch so etwas wie Sympathie für die Geister. In der Tat könnte es sich ja ohne weiteres um verstorbene Anverwandte der damaligen Zeitgenossen handeln, wenn diese sich im irdischen Leben durch besondere Gier ausgezeichnet hatten.
Vorlage:WmaxX Vorlage:WmaxX Vorlage:WmaxX Das im ersten Bild erkennbare „Gemeinschaftsklo“, das die Menschen ohne große Hemmungen kollektiv nutzen, wirft einen interessanten Aspekt auf die Geschichte der Schamhaftigkeit in Japan. Die bildliche Darstellung einer Geburt ist, nicht nur in Japan, ähnlich selten und ungewöhnlich. Gebären an sich galt damals als etwas Unreines (und lockt daher den Hungergeist an). Schließlich offenbart die Friedhofszene die damalige Praxis, Leichen einfach den Tieren zum Fraß zu überlassen. In den Gräbern befanden sich wahrscheinlich nur höher gestellte Persönlichkeiten und buddhistische Mönche.
Die Bildrolle, aus der diese Beispiele stammen, zählte einst zum Besitz von Kaiser Go-Shirakawa und wurde zusammen mit ähnlichen illustrierten Werken im Kannon [Kannon Bosatsu (jap.) 観音菩薩 Bodhisattva Avalokiteshvara, wtl. „der den Klang der Welt erhört“; „Bodhisattva des Mitleids“; s.a. Kannon, Guanyin;] Tempel Rengeō-in (besser bekannt als Sanjūsangen-dō [Sanjūsangen-dō (jap.) 三十三間堂 33 Klafter Halle; Kannon-Tempelhalle in Kyōto; offizieller buddhistischer Tempelname: Rengeō-in]) aufbewahrt. Der Glaube an die Hungergeister war also keineswegs ein obskurer Aberglaube, sondern wurde in der späten Heian-Zeit von der Elite der Hofkultur hochgehalten. Heute werden die Bildrollen in Japan zu den offiziellen „Nationalen Kulturschätzen“ gezählt.
Buddhistischer Hintergrund
Wie man anhand der obigen Bilder erkennen kann, sind die Hungergeister keine einheitliche Spezies, sondern gliedern sich in verschiedene Unterarten. Dies wird bereits in einem kanonischen Sūtra spezifiziert, dem Shōbō nensho kyō [Shōbō nensho kyō (jap.) 正法念處経 kanonischer Text in 70 Kapiteln, der die Wiedergeburtslehre zum Thema hat; skt. Saddharma-smṛty-upasthāna sūtra, chin. Zhengfa nianchu jing; 538–541 von Gautama Prajñāruci ins Chinesische übertragen] (Übersetzung ins Chinesische 538–541), das ausführlich auf die Sechs Bereiche der Wiedergeburt eingeht. Dieser Text erklärt, dass Geiz und Eifersucht zur Wiedergeburt als Hungergeist führen. Dann werden 36 verschiedene Arten von gaki aufgezählt:
- die mit kesselartigen Körpern;
- die mit nadel[dünnen] Mündern;
- die Erbrochenes essen;
- die Exkremente essen;
- die garnichts essen;
- die Gas-Esser;
- die dharmas essen;
- die Wasser-Esser;
- die Sehnsuchtsvollen;
- die Speichel-Esser;
- die Ranken-Esser;
- die Blut-Esser;
- die Fleisch-Esser;
- die Duft-Esser;
- die Krankheitsbringer;
- die Exkremente inspizieren;
- die Unterirdischen;
- die mit magischen Kräften;
- die Brennenden;
- die die Exkremente von Kindern inspizieren;
- die Lüsternen;
- die auf Meeresinseln leben;
- Diener des Enma [Enma (jap.) 閻魔 skt. Yama; König oder Richter der Unterwelt; auch Enra; meist als Enma-ten oder Enma-ō angesprochen], die Stöcke tragen;
- die kleine Kinder essen;
- die die Kraft der Menschen rauben;
- die indischen rasetsu [rasetsu (jap.) 羅刹 von skt. rakshasa; menschenfressende Dämonenrasse des indischen Pantheons];
- die Feuer-Esser;
- die auf schmutzigen Pfaden;
- die Wind-Esser;
- die Kohle-Esser;
- die Gift-Esser;
- die in der Wildnis;
- die bei den Gräbern wohnen und Asche essen;
- die auf Bäumen wohnen;
- die an Wegkreuzungen;
- die den Körper töten.2
Das für die japanischen Jenseitsvorstellungen grundlegende Ōjō yōshū [Ōjō yōshū (jap.) 往生要集 „Essentielle [Lehren] der Wiederbgeburt“, 985 von Genshin verfasst] (985) orientiert sich an dieser Liste, greift jedoch nur einige Beispiele heraus, die dafür etwas ausführlicher behandelt werden. So heißt es etwa, dass jene, die sich von Erbrochenem ernähren müssen, in einem früheren Leben ihr Essen nicht mit Frau und Kind bzw. Mann und Kind teilten. Andere wie die „dharma-Esser“ sind auf Riten angewiesen, um sich zu ernähren. Es handelt sich zumeist um ehemalige Mönche, die nur auf den eigenen Ruhm bedacht waren. Ehemalige Sake-Verkäufer werden zu „Wasser-Essern“, die von speziellen Dämonen daran gehindert werden, an einen Fluss zu gelangen. Die gaki rund um Gräber sind ehemalige Gefängniswärter, die den Häftlingen nichts zu essen gaben. Wieder andere gebären ständig Kinder, die sie dann selbst aufessen. Eine weitere Spezies ernährt sich vom eigenen Gehirn. Schließlich paraphrasiert der Text die Aussage des Shōbō nensho kyō, dass die Hungergeister Münder so klein wie ein Nadelöhr und Bäuche so groß wie ein Berg hätten, sodass sie selbst dann, wenn sie Essbares fänden, nie satt werden würden.3
Obwohl in Indien entstanden und auf indische Verhältnisse zugeschnitten, bot die Darstellung der Hungergeister auch in Japan Möglichkeiten, Phänomene des täglichen Lebens mit ihnen zu verbinden und ihre Existenz plausibel erscheinen zu lassen. William LaFleur [LaFleur, William (west.) 1936–2010; amerikanischer Japanologe und Buddhismusforscher; lehrte u.a. in Princeton] argumentiert in einem 1989 erschienenen Aufsatz, dass die Hungergeister eine quasi-naturwissenschaftliche Erklärung für das natürliche Verschwinden jeglicher Art von Abfall oder Unrat boten. Zugleich verbanden sie sich mit den allgegenwärtigen Hungerphänomenen. Dieser praktische Zugang führte laut LaFleur zu einer Art vormodernem Röntgen-Blick, durch den die gaki auf den Bildrollen der späten Heian-Zeit sichtbar gemacht wurden.
Verweise
Verwandte Themen
- Höllen und Hungergeister (Hauptseite)
- Bon-Fest, heute eines der wichtigsten Jahresfeste in Japan
- Höllenbilder
Fußnoten
- ↑ Auch die auffallend roten Haare der Hungergeister könnten der Realität von Hungernden abgeschaut worden sein, da chronischer Hunger Melanin-Mangel und bei natürlich schwarzem Haar eine Rotfärbung hervorrufen kann (LaFleur 1989, S. 295).
- ↑ Shōbō nensho kyō, SAT Daizōkyō Text Database, T.721(17)92; s.a. LaFleur 1989, S. 284–286.
- ↑ Zitiert nach der Ausgabe in Nihon shisō taikei (Hg. Ishida Mizumao, Iwanami 1970), S. 30–32.
Internetquellen
- Die Gaki zōshi sind ausführlich auf der sehr empfehlenswerten Website e-kokuhō dokumentiert.
- SAT Daizōkyō Text Database
Literatur
Bilder
- ^ Ausspeisung der Hungergeister (gaki) durch buddhistische Mönche.
Kamakura-Zeit, 12. Jh. e-kokuhō. - ^ Der Mönch Mokuren begegnet seiner Mutter als Hungergeist (gaki) und erwirkt bei Buddha ihre Befreiung aus dieser leidvollen Existenz.
12. Jh. e-kokuhō. - ^ Das Bild zeigt einen Stupa (sotoba), der von verschiedenen Leuten, wohl während des O-bon-Festes, mit Opfergaben bedacht wird, sowie geschäftiges Treiben vor den Toren eines Tempels. Ein begleitender Text erklärt, dass sich gewisse Hungergeister von dem Opferwasser ernähren, das Hinterbliebene ihren verstorbenen Angehörigen darbringen. Dieser Text ist ein Zitat aus einem chinesischen Sutra. Das Bild zeigt, dass sich davon ausgehend bereits ein Kult etabliert hat, um Hungergeister (möglicherweise die verstorbenen Eltern in ihrer folgenden Existenzform) mit Wasser zu laben. Der Ort dafür ist eine Art kollektiver Grab-Stupa, dessen Existenz auch in anderen Quellen der späten Heian-Zeit belegt ist (Wakabayashi 2020, S. 215).
Heian-Zeit, 12. Jh. e-kokuhō.
- ^ Die Hungergeister (gaki) warten geduldig, bis die Menschen ihre Notdurft verrichtet haben, um sich selbst daran zu laben. Das Bild ist auch für die Alltagsgeschichte der Heian-Zeit interessant, da es einerseits den Abort als öffentliche Fläche (wahrscheinlich in einer Hintergasse) darstellt und zugleich die Verwendung von sogenannten shit sticks (jap. chūgi 籌木) dokumentiert, also kleine Hölzchen, die ähnlich wie das heutige Klopapier verwendet wurden. Auch Stoff oder Papier ist im übrigen zu sehen.
Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. Tōkyō National Museum. - ^ Ein Hungergeist (gaki) beobachtet eine Geburt — zweifellos in der Hoffnung auf Nahrung.
Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. Tōkyō National Museum. - ^ Hungergeister (gaki) streunen um die Gräber und teilen sich das Aas mit den Hunden.
Kamakura-Zeit, 12.–13. Jh. e-Museum, National Treasures & Important Cultural Propertiesof National Institutes for Cultural Heritage, Japan.
Glossar
- Gaki zōshi 餓鬼草紙 ^ Illustrierte Querbildrollen der Hungergeister
- Go-Shirakawa Tennō 後白河天皇 ^ 1127–1192; 77. Kaiser von Japan (r. 1155–1158); stellte vor allem als Exkaiser im Mönchsstand ein wichtiges politisches Gegengewicht zu den Diktatoren Taira no Kiyomori und Minamoto no Yoritomo dar
- Kannon Bosatsu 観音菩薩 ^ Bodhisattva Avalokiteshvara, wtl. „der den Klang der Welt erhört“; „Bodhisattva des Mitleids“; s.a. Kannon, Guanyin;
- LaFleur, William (west.) ^ 1936–2010; amerikanischer Japanologe und Buddhismusforscher; lehrte u.a. in Princeton
- Maudgalyāyana (skt.) मौद्गल्यायन ^ Schüler des Buddha; mit übersinnlichen Fähigkeiten begabt, war es ihm möglich, die Unterwelt zu besuchen; in ostasiatischen Versionen seiner Legende errettet er dort seine Mutter (jap. Mokuren 目連)
- Sanjūsangen-dō 三十三間堂 ^ 33 Klafter Halle; Kannon-Tempelhalle in Kyōto; offizieller buddhistischer Tempelname: Rengeō-in
- Shōbō nensho kyō 正法念處経 ^ kanonischer Text in 70 Kapiteln, der die Wiedergeburtslehre zum Thema hat; skt. Saddharma-smṛty-upasthāna sūtra, chin. Zhengfa nianchu jing; 538–541 von Gautama Prajñāruci ins Chinesische übertragen
- Wakabayashi, Haruko (west.) ^ Japanisch-amerikanische Japanologin mit Schwerpunkt auf dem japanischen Mittelalter