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In Japan ist es daher höchst un·gewöhn·lich, eine eigene, indivi·duelle Form von Re·ligio·sität zu suchen, wie dies unter modernen Christen im Westen üblich ist. Religiöse Ernst·haftig·keit wird vielmehr mit dem Bemühen asso·ziiert, re·ligiöse Hand·lungen getreu einem bestim·mten Vor·bild mit Acht·sam·keit und Auf·merk·sam·keit nach·zu·voll·ziehen. Es kommt dabei nicht sosehr darauf an, woran man sich orien·tiert (einem Sprich·wort zu·folge kann es sich dabei auch um den {{g|iwashinoatama|Kopf einer Sardine}} handeln). Es kommt vielmehr darauf an, dass man sich dem Objekt re·ligiö·ser Vereh·rung mit innerer Auf·rich·tig·keit und Respekt zuwendet und dabei keine indivi·duellen Ver·ände·rungen an einmal eta·blier·ten Mustern vornimmt. Auf diese Weise wird gerade das Fest·halten an solchen Mustern zum Maßstab re·ligiö·ser Ernsthaftigkeit. | In Japan ist es daher höchst un·gewöhn·lich, eine eigene, indivi·duelle Form von Re·ligio·sität zu suchen, wie dies unter modernen Christen im Westen üblich ist. Religiöse Ernst·haftig·keit wird vielmehr mit dem Bemühen asso·ziiert, re·ligiöse Hand·lungen getreu einem bestim·mten Vor·bild mit Acht·sam·keit und Auf·merk·sam·keit nach·zu·voll·ziehen. Es kommt dabei nicht sosehr darauf an, woran man sich orien·tiert (einem Sprich·wort zu·folge kann es sich dabei auch um den {{g|iwashinoatama|Kopf einer Sardine}} handeln). Es kommt vielmehr darauf an, dass man sich dem Objekt re·ligiö·ser Vereh·rung mit innerer Auf·rich·tig·keit und Respekt zuwendet und dabei keine indivi·duellen Ver·ände·rungen an einmal eta·blier·ten Mustern vornimmt. Auf diese Weise wird gerade das Fest·halten an solchen Mustern zum Maßstab re·ligiö·ser Ernsthaftigkeit. | ||
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Andererseits ist religiöses Handeln zweck·orientiert: Man wendet sich an höhere Mächte, um ganz bestimmte Wünsche erfüllt zu bekommen. Trans·zen·den·te Ziele — etwa das oft zitierte {{g|satori}} — sind zwar im Bud·dhis·mus keines·wegs un·bekannt, spielen aber im re·ligiö·sen Alltag eine geringe Rolle. Um·gekehrt gibt es gegen·über dies·seitigen Wünschen an {{g|kami|''kami''}} und {{s|buddha|Buddhas}} auch von streng gläubigen Buddhisten kein·erlei Vor·behalte. | Andererseits ist religiöses Handeln zweck·orientiert: Man wendet sich an höhere Mächte, um ganz bestimmte Wünsche erfüllt zu bekommen. Trans·zen·den·te Ziele — etwa das oft zitierte {{g|satori}} — sind zwar im Bud·dhis·mus keines·wegs un·bekannt, spielen aber im re·ligiö·sen Alltag eine geringe Rolle. Um·gekehrt gibt es gegen·über dies·seitigen Wünschen an {{g|kami|''kami''}} und {{s|buddha|Buddhas}} auch von streng gläubigen Buddhisten kein·erlei Vor·behalte. | ||
Version vom 26. November 2020, 14:41 Uhr
Achtung: Sie sehen eine veraltete Version von https://religion-in-japan.univie.ac.at/Handbuch/Alltag.
In Japan — und wohl auch in anderen ost·asia·tischen Ländern — ist Religion von einer anderen Stoff·lich·keit als im christ·lichen Europa. Weniger dog·ma·tisch und wesent·lich diskreter durch·dringt sie den Alltag auf kaum merkbare Weise. Für die meisten Japaner ist es ganz selbst·ver·ständ·lich, religiöse Bräuche zu befolgen und sich sogar an detail·lierte religiöse Gebote zu halten, ohne sich als „religiös“ oder gar „fromm“ zu be·zeich·nen. Ja, viele Japaner stufen sich sogar selbst als „areligiös“ ein, obwohl sie religiöse Riten befolgen. Wer heute einen Shintō-Schrein besucht, kann morgen in einem bud·dhis·tischen Tempel beten und umgekehrt. Selbst eine Hochzeit nach christ·lichem Ritus sagt in Japan noch nichts über die kon·fes·sio·nelle Zu·ge·hörig·keit des betref·fenden Braut·paars aus. Re·ligi·öses Handeln ist also nicht unbedingt Aus·druck religiöser Über·zeu·gung, sondern macht für viele Japaner ganz einfach einen Teil ihrer Iden·tität aus, über den sie sich gar nicht immer bewusst Rechen·schaft ablegen. Das geht natür·lich nur, wenn die Religion selbst keine allzu großen An·for·de·run·gen an die Über·zeu·gun·gen des einzelnen stellt, sondern sich mit einigen simplen Praxis·formen begnügt. Und genau das ist heute sowohl im ja·pa·nischen Buddhismus als auch im Shintō der Fall.
Glaube und Praxis
Werk von Erika Kiffl. 1984. Museen Köln.
Glaube ist zweifel·los eine wichtige Tugend in Japan, doch äußert er sich selten in Worten oder Über·zeu·gun·gen, sondern im Nach·voll·zug ritueller Hand·lungs·mus·ter. Glaube existiert daher nicht ohne rituelle Praxis. Anders aus·gedrückt: Die Zu·ge·hörig·keit zu einer re·ligiösen Ge·mein·schaft wird im Regel·fall durch den Voll·zug gemein·samer Hand·lungs·muster unter Beweis ge·stellt (egal ob es sich um eine eta·blierte Richtung oder eine neu·re·ligi·öse Sekte handelt). Was ihren Glauben betrifft, wird von den Mit·gliedern einer solchen re·ligiösen Gruppe im All·ge·mei·nen weder verlangt noch erwartet, Rechen·schaft darüber abzulegen. Hingegen wird an·ge·nommen, dass sich innere Über·zeu·gung in der Art ma·ni·fes·tiert, wie rituelle Hand·lungen voll·zogen werden. Diese Grund·ein·stel·lung gege·nüber dem re·ligiösen Handeln findet sich bereits in einer berühmten Forderung des Konfuzius:
Ehre die Götter, als ob die Götter — gleich lebenden Menschen — anwesend wären. (Konfuzius, Analekte, III.12)
祭神如神在1
In Japan ist es daher höchst un·gewöhn·lich, eine eigene, indivi·duelle Form von Re·ligio·sität zu suchen, wie dies unter modernen Christen im Westen üblich ist. Religiöse Ernst·haftig·keit wird vielmehr mit dem Bemühen asso·ziiert, re·ligiöse Hand·lungen getreu einem bestim·mten Vor·bild mit Acht·sam·keit und Auf·merk·sam·keit nach·zu·voll·ziehen. Es kommt dabei nicht sosehr darauf an, woran man sich orien·tiert (einem Sprich·wort zu·folge kann es sich dabei auch um den Kopf einer Sardine [iwashi no atama mo shinjin kara (jap.) 鰯の頭も信心から „Für den Gläubigen zählt selbst ein Sardinenkopf ...“; sinngemäß: Wer fest daran glaubt, für den wird selbst der Kopf einer Sardine zu etwas Göttlichem werden. Tatsächlich werden Sardinenköpfe manchmal zur Dämonenabwehr eingesetzt.] handeln). Es kommt vielmehr darauf an, dass man sich dem Objekt re·ligiö·ser Vereh·rung mit innerer Auf·rich·tig·keit und Respekt zuwendet und dabei keine indivi·duellen Ver·ände·rungen an einmal eta·blier·ten Mustern vornimmt. Auf diese Weise wird gerade das Fest·halten an solchen Mustern zum Maßstab re·ligiö·ser Ernsthaftigkeit.
Andererseits ist religiöses Handeln zweck·orientiert: Man wendet sich an höhere Mächte, um ganz bestimmte Wünsche erfüllt zu bekommen. Trans·zen·den·te Ziele — etwa das oft zitierte satori [satori (jap.) 悟り Erleuchtungserfahrung (bes. im Zen Buddhismus)] — sind zwar im Bud·dhis·mus keines·wegs un·bekannt, spielen aber im re·ligiö·sen Alltag eine geringe Rolle. Um·gekehrt gibt es gegen·über dies·seitigen Wünschen an kami [kami (jap.) 神 Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō] und Buddhas [Buddha (skt.) बुद्ध „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)] auch von streng gläubigen Buddhisten kein·erlei Vor·behalte.
Tradition und Moderne
Zweifellos gibt es in Japan auch Parallelen zur Situation der Religion in west·lichen Industrie·gesell·schaften. Besonders im urbanen Bereich nimmt das Engage·ment für tra·di·tio·nelle religiöse Insti·tutionen generell ab, während neu·reli·giöse Rich·tun·gen, ähnlich wie in Amerika, überall aus dem Boden schießen. Auf dem Land sind tra·di·tio·nelle Re·ligio·nen hingegen fester verankert. Lokale Gemeinden und religiöse Gemeinden sind hier meist deckungs·gleich und der soziale Druck an gemein·schaft·lichen religiösen Hand·lungen teilzunehmen ist ent·sprechend höher.
Ähnlich wie im Westen ist das Prinzip der Trennung von Religion und Staat im modernen Japan ver·fassungs·mäßig verankert. Die negativen Er·fahrungen mit dem Staatsshintō haben sogar soweit geführt, dass es in öffent·lichen Schulen keinerlei Religions·unterricht gibt und dass jegliche För·derung religiöser Gemein·schaften durch den Staat (mit Ausnahme von Steuer·er·leich·te·run·gen) grund·sätz·lich unter·sagt ist. Dennoch können sich die etablierten Religions·gemein·schaften nicht über mangelnden Zulauf beklagen. Auch in materieller Hinsicht kommt ihnen — teils durch be·schei·dene Beiträge unzähliger Einzel·personen, teils in Form von Spenden fi·nanz·starker Unter·nehmen — ein nicht uner·heb·licher Teil der japanischen Wirtschafts·kraft zugute.
In diesem Kapitel
Auf den folgenden Seiten geht es um ver·schiedene Facetten der Religion im Verlauf des Alltags, des Jahres und des in·di·vi·duel·len Lebens. Die meisten Einzel·seiten betreffen religiöse Praxis aus Sicht der Laien, es werden aber auch buddhistische Mönche und Shintō-Priester vorgestellt.
Verweise
Fußnoten
- ↑ Eine andere In·ter·pre·tation wäre: „Die Götter ehren bedeutet, dass die Götter [gleich lebenden Menschen] anwesend sind.“ Vgl. Li 1999, S. 35
Literatur
Bilder
- ^ In allen Tempeln und Schreinen gibt es ein reiches Angebot an Glücksbringern (o-mikuji), die man sowohl erwerben, als auch nach eigenen Vorstellungen gestalten und als Opfergaben darbringen kann. Hier: Votivbilder (ema) und zu Ketten aneinander gefädelte Papierkraniche (senbazuru).
Werk von Erika Kiffl. 1984. Museen Köln.
Glossar
- iwashi no atama mo shinjin kara 鰯の頭も信心から ^ „Für den Gläubigen zählt selbst ein Sardinenkopf ...“; sinngemäß: Wer fest daran glaubt, für den wird selbst der Kopf einer Sardine zu etwas Göttlichem werden. Tatsächlich werden Sardinenköpfe manchmal zur Dämonenabwehr eingesetzt.