Dōkyō Zwischenfall
Die Nara-Zeit war geprägt von ständigen Machtkämpfen verfeindeter Hoffamilien und später auch buddhistischer Mönche, die zu einer ständigen Umordnung der Machtverhältnisse führten und die kaiserliche Institution stark in Mitleidenschaft zogen.
Politische Ereignisse zur Regierungszeit Shōmu Tennōs
Der Fujiwara Klan 藤原氏 war eine der einflussreichsten Adelsfamilie der Nara-Zeit, die lange Zeit die Regenten für den Kaiser, Sesshō 摂政 (Regent, der die Regierungsgeschäfte anstelle eines unmündigen oder weiblichen Tennō führt) und Kanpaku 関白 (Berater des Tennō) stellten. Der Ahnherr der Fujiwara, Nakatomi no Kamatari 中臣鎌足 (614-669), war im Verlauf der Taika-Periode 大化前代 an die Macht gekommen und verheiratete seine Enkel in die kaiserliche Familie: Eine Enkelin war die Mutter Kaiser Shōmus 聖武天 (701–756; Regierungszeit: 724–749); die andere wurde zu Shōmus Hauptgemahlin, Kaiserin Kōmyō 光明. Dieser Sachverhalt führte zur Hegemonie der Fujiwara von 729-733 innerhalb der höfischen Familien. 737 fielen die mächtigsten Vertreter des Fujiwara Klans allerdings einer Pockenepidemie zum Opfer, was die Macht der Fujiwara stark schwächte.
Tachibana no Moroe 橘諸兄 (684-757), dessen Familie die Opposition zu den Fujiwara bildete, übernahm die Regierungsgewalt. Ab 738 war er Udaijin 右大臣 (Kanzler zur Rechten), später hatte er auch das noch höher bewertete Amt des Sadaijin 左大臣 (Kanzler zur Linken) inne. Mit dem Rückgang der Macht der Fujiwara-Familie gelang es einer buddhistischen Fraktion, die über den Mönch Genbō 玄肪 mit dem Tachibana-Klan 橘氏 verbunden war, ihre Macht zu festigen (Bender 1979: 133)
Erstarken des buddhistischen Klerus
Bereits unter der Herrschaft Shōmu Tennōs (701–756) war es zur Etablierung des Buddhismus als „Beschützer des Staates“ gekommen, nachdem die Religion seit ihrer Einführung in Japan unter Kaiser Kinmei 欽明天皇 (~540–571) und einer Blütezeit unter Shōtoku Taishi 聖徳太子(574–622), auf geteilten Zuspruch gestoßen war.
Als 737 eine Pockenepidemie das Reich heimsuchte und zahllose Opfer forderte, erkrankte Shōmu nicht, was er dem Mönch Genbō zuschrieb. Genbō, ein Mönch der Hossō-shū 法相宗, war einer der treibenden Kräfte des Tachibana-Klans und hatte gute Kontakte zu Kaiser Shōmu. Er hatte viele Jahre in China studiert. Nach seiner Rückkehr errichtete er den Naidōjō 内道場, einen Tempel innerhalb des imperialen Palastes nach chinesischem Vorbild . Das ermöglichte es buddhistischen Mönchen, erstmals im Kaiserpalast selbst Dienst zu tun. Somit hielt der Buddhismus Einzug bei Hof und wurde zu einer permanenten politischen Macht (Bender 1979: 132-133). Ab 741 ließ Shōmu ein landesweites Netz von Provinztempeln, kokubunji 国分寺, errichten und in diesen die gokoku-kyō 護国経, die „drei Sutren, die den Staat schützen“ [1] rezitieren (Bender 1979:134/148). Genbō, wie auch Gyōki 行基, sollen dem Kaiser zur Errichtung der kokubunji zugeredet haben. 743 ordnete Shōmu den Bau des Tōdai-ji 東大寺 und einer großen Statue des Buddha Dainichi 大日 an, der das Zentrum des kokubunji-Systems darstellen sollte. Ein Orakel wurde verkündet, das besagte, die Göttin Amaterasu Ōmikami 天照大神 und Dainichi seien wesensgleich. Von diesem Punkt an ergab sich ein allmählicher Synkretismus zwischen Buddhismus und Shintō, der auch als shinbutsu shūgō 神仏習合 bezeichnet wird.
Shōmu selbst erklärte sich zum „Diener der drei Schätze“ des Buddhismus: dem Buddha, den Lehren des Buddhismus und der buddhistischen Gemeinschaft (Bender 1979:134) und soll sich, folgt man dem Fusō ryakki 扶桑略記, als bereits abgedankter Kaiser 750 zum Mönch weihen haben lassen; dies geschah durch den Daisōjō 大僧正 Gyōki (vgl. Izumoji 1996:116).
Kōken Tennō und Fujiwara no Nakamaro
Ein Wiedererstarken der Fujiwara bei Hofe gelang erst, als Shōmu 749, kurz vor seinem Tod, das Kaiseramt an seine Tochter Prinzessin Abe 阿部内親王 übergab, die zunächst als Kōken Tennō 孝謙天皇 regierte. Die wirkliche Macht lag aber bei Exkaiserin Kōmyō und ihrem Neffen Fujiwara no Nakamaro 仲麻呂, der das Wiedererstarken seiner Familie maßgeblich vorantrieb. Kōmyō richtete ein Amt namens shibi chūdai 恵美押勝 ein und bestimmte Nakamaro zum Leiter. Er sollte das Amt zum mächtigsten Organ der japanischen Regierung machen. Der offizielle Leiter der Regierung war zu jener Zeit zwar Tachibana no Moroe, doch schwand seine Macht in dem Maße, in dem die Nakamaros anstieg. 755 wurde Moroe seines Amtes enthoben, zwei Jahre später wurde eine geplante Revolte seines Sohnes vereitelt. Kōmyō und Nakamaro blieben ohne wirkliche Rivalen zurück.
Der von Shōmu als Kōkens Nachfolger vorhergesehene Kronprinz wurde durch Prinz Ōi 大炊 ersetzt, der mit Nakamaros Tochter verheiratet war. 758 wurde Kōken dazu genötigt, den Thron an Prinz Ōi (733-765) abzugeben, der schließlich zu Junnin Tennō 淳仁天皇 gekrönt wurde. 760 wurde Nakamaro als Sadaijin des Junnin Tennō eingesetzt, der nur als seine Marionette fungierte. Allerdings war Nakamaros Macht nur von kurzer Dauer. Noch im selben Jahr verstarb die Exkaiserin Kōmyō, seine größte Stütze. Überdies machte sich Junnin innerhalb der am Hofe einflussreichen Mönchsgemeinschaft durch die Abschaffung einer Bußzeremonie unbeliebt, die von den Mönchen als Quelle der (persönlichen) Bereicherung benutzt worden war (Bender 1979: 136-138).
Exkaiserin Kōken erkrankte 761 schwer. Dōkyō 道鏡, ein buddhistischer Mönch, der bereits seit den 750ern im Naidōjō gedient hatte und die Kaiserin möglicherweise schon kannte, soll sie durch magische Riten geheilt haben und gewann so ihr Vertrauen. Noch im selben Jahr wurde er dank Kōken in ein Ministeramt berufen. Schon zuvor hatte ihr Dōkyō geraten, nur Buddhisten als Minister einzusetzen. Nach ihrer Heilung ging sie als buddhistische Nonne ins Kloster, kehrte jedoch 762 nach Nara zurück und ließ verkünden, sie werde von nun an wieder alle Staatsangelegenheiten leiten. Obwohl Junnin nicht direkt abdankte, legte er schnell buddhistische Gelübde ab und zog sich in einen Tempel zurück.
Der Tod Kōmyōs und Verdrängung Jikuns durch Dōkyō waren tiefe Einschnitte in Nakamaros Macht und Zeichen für seinen Niedergang. Er reagierte mit einer Rebellion gegen Kōken, die 764 niedergeschlagen werden konnte und in Nakamaros Tod mündete. Einen Monat später wurde Junnin, der beschuldigt wurde, an dem Komplott beteiligt gewesen zu sein, ins Exil nach Awaji 淡路 gesandt, wo er im Alter von 33 Jahren starb (Bender 1979:138-139).
Bericht des Nihon ryōiki
Der erste Absatz und das erste Lied der Geschichte III-38 beschäftigen sich mit ebendiesen geschichtlichen Ereignissen. Kyōkai erzählt, wie der bereits abgedankte Shōmu Tennō den Dainagon Nakamaro zu sich bestellt, um ihn von der Wahl seiner Nachfolge in Kenntnis zu setzen; er ernennt die kaiserliche Prinzessin Abe 阿部内親王 und den kaiserlichen Prinzen Funato 道祖親王 zu seinen Nachfolgern. Überdies lässt er Nakamaro schwören, sich nicht gegen diese beiden zu wenden. Doch berichtet das Ryōiki weiter, dass bereits 757, ein Jahr nach dem Tod Shōmus, Funato getötet wurde und Prinz Ōi (als Junnin Tennō) die Regentschaft übernahm. Aus anderen geschichtlichen Quellen geht hervor, dass Prinzessin Abe (Kōken Tennō) 758 von Nakamaro und Exkaiserin Kōmyō zum Abdanken gezwungen wurde. Das Nihon ryōiki setzt seinen Bericht damit fort, dass Prinzessin Abe den Thron zurückerlangt und Nakamaro den Tod fand (Vgl. Izumoji 1996:186-190).
Das Orakel Hachimans 宇佐八幡宮神託事件
Kōken übernahm als Shōtoku Tennō 称徳天皇 764 erneut die Macht. Im Jahr darauf wurde Dōkyō zum Dajō daijin zenji 太政大臣禅師 („Priesterlicher Großminister“) ernannt mit der Begründung, jeder „geweihte“ Monarch brauche einen „geweihten“ Kanzler. Dieses Amt war vormals Mitgliedern der kaiserlichen Familie vorbehalten gewesen und wurde in der Geschichte Japans nur äußerst selten vergeben. Kurz nach ihrem Amtsantritt ließ Kōken, die die die Niederschlagung ihrer politischen Gegner der Unterstützung buddhistischer Mächte zuschrieb, zum Dank eine Million winziger, tönerner Stupas 百万塔 (hyakumantō) anfertigen, darin mit magischen Gebetsformeln 陀羅尼 (darani) bedruckte Papierstreifen einfassen und in den Klöstern des Landes verteilen (vgl. Scheid 2001-2011). Es erfolgte eine Beschleunigung der Errichtung der kokubunji, die aus lokalen Geldern bezahlt werden mussten. Bereits existierende Tempel erhielten großzügige Spenden der Kaiserin. Überdies versuchte Dōkyō die Macht der höfischen Klans einzuschränken und besetzte wichtige Ämter mit Mitgliedern seiner eigenen Familie (Bender 1979:140).
Schließlich wurde dem ambitionierten Mönch sogar der Titel des Hō-ō 法王 („Dharma-König“) verliehen; in dieser Position war es Dōkyō möglich, die Politik der Regierung zu bestimmen. Das Shoku Nihongi berichtet, seine Nahrung, Kleidung und Sänfte seien wie die eines Kaisers gewesen (Vgl. Bender 1979: 142).
Trotz seiner buddhistischen Ämter baute Dōkyō auch auf die Macht von Orakelsprüchen 託宣 (takusen) einheimischer Gottheiten. Laut Shoku Nihongi wollte ein gewisser Suge no Asomaro Dōkyō schmeicheln und erfand daher eine Verkündung des Hachiman 八幡 [2], die lautete: '
- „Let Dōkyō be made emperor and there shall be a great peace in the realm.“ (Vgl. Bender 1979:142).
Als die Kaiserin von dieser Proklamation erfuhr, wurde sie offenbar doch von Zweifeln erfasst,rief den Beamten Wake no Kiyomaro 和気清麻呂 (733–99) zu sich und berichtete ihm:
- „Last night in a dream a messenger of the Great God Hachiman came to me and said: ‚Summon the nun Hōkin [法均] for the purpose of determining the god’s pronouncement on this matter. Send Kiyomaro in her place to hear the divine command.’” (Vgl. Bender 1979:142).
Kiyomaro folgte ihrem Befehl, kehrte jedoch mit einem gegenteiligen Orakelspruch in die Hauptstadt zurück:
- „Since the establishment of our state the distinction between lord and subject has been fixed. Never has there been an occasion when a subject was made lord. The throne of heavenly sun succession shall be given to one of the imperial lineage; wicked persons should immediately be swept away.” (Bender 1979: 142).
Dieser Spruch war zweifellos gegen Dōkyō gerichtet, die Kiyomaro kurzerhand verbannte . Allerdings erhob die Kaiserin Dōkyō nicht zum Tennō. Der Orakelspruch dürfte wohl auch die Anti-Dōkyō Fraktion bei Hofe gestärkt haben. Noch vor Shōtokus Tod 770 gewann diese wieder die Oberhand und verdrängte Dōkyōs Verbündete aus den Regierungsämtern. Als Shōtoku schließlich starb, wurde Dōkyō seiner Ämter enthoben und ins Exil nach Shimtotsuke 下野国 gesandt, wo er zwei Jahre später verstarb (Bender 1979: 144).
Bericht des Nihon ryōiki
Während sich aus offiziellen Geschichtsquellen lediglich herauslesen lässt, dass Dōkyō und die Kaiserin einander gegenseitig unterstützten, so vermittelt das Nihon ryōiki ein anderes Bild: Die Lieder zwei und drei der Geschichte III-38 des Nihon ryōiki weisen laut [Kyōkai]]s Interpretation eindeutig auf ein Liebesverhältnis zwischen Dōkyō und Shōtoku Tennō hin, das er implizit als allgemein bekannt darstellt. Das dritte Lied soll schließlich Dōkyōs Lebens- und Sinneswandel vom einfachen Mönch zum machthungrigen Usurpator karikieren.
Auswirkungen des Dōkyō Zwischenfalls
Der auf Shōtoku folgende Kōnin Tennō 光仁天皇 (709-782) rehabilitierte Wake no Kiyomaro und versuchte, die Verflechtung zwischen Buddhismus und Staat zu lockern. Unter Kanmu Tennō 桓武天皇 (737-806) erfolgte schließlich die Verlegung der Hauptstadt 784 zunächst nach Nagaoka 長岡 und 794 nach Heian 平安, um dem Einfluss der Nara-Klöster zu entkommen. Der Dōkyō Zwischenfall führte wohl auch dazu, dass spätere Generationen der Tennō-Dynastie, bis auf wenige Ausnahmen, Frauen die Thronbesteigung untersagten. Die nächsten (und vorerst auch letzten) Frauen auf dem Thron waren Meishō 明正天皇 (1623-1696)und Go-Sakuramachi 後桜町天皇 (1740–1813).
Quellen
- Bender, Ross (1979), "The Hachiman Cult and the Dokyo Incident". Monumenta Nipponica 34/2, 125-153.
- Izumoji Osamu (1996), "Nihon Ryōiki." Shin Nihon koten bungaku taikei, Bd. 30. Tokyo: Iwanami Shoten.
- Sakamoto, Tarō (1991), The Six National Histories of Japan. Tokyo: University Press.
- Scheid, Bernhard (2001-2010), “Der Buddhismus der Nara-Zeit“. Religion in Japan.
- Scheid, Bernhard (2001-2010), “Die Frühzeit des japanischen Buddhismus“. Religion in Japan.
- http://ja.wikipedia.org/wiki/%E9%81%93%E9%8F%A1
- ↑ Ninnō-hannya-kyō 仁王般若経, Konkōmyō-saishoō-kyō 金光明最勝王経 und Hoke-kyō 法華経
- ↑ Hachiman ist bis heute eine der populärsten kami; bereits in der Nara-Zeit wurde er landesweit verehrt, nachdem er durch Orakelsprüche den Bau des Großen Buddhas des Tōdai-ji ermöglich hatte. Hachiman war einer der ersten kami, die in das buddhistische Pantheon integriert und als zum Buddhismus bekehrte Gott¬heit angesehen wurde (Honji suijaku 本地垂迹). Im Jahr 781 erhielt er von Kōnin Tennō den Titel bosatsu 菩薩 verliehen, wahrscheinlich, weil die Gottheit den Usurpationsversuch Dōkyōs vereitelt hatte.