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| + | | ''Namazu-e'': Erdbeben als Satire |
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− | h3 {clear:left} | + | Im Nordosten Tōkyōs gibt es den altehrwürdigen {{g|kashimajinguu|Kashima Schrein}}, der dem Schwertgott {{g|takemikazuchi}} geweiht ist. In der {{g|Edo}}-Zeit war dieser Gott als {{g|kashimadaimyoujin}} bekannt und galt als der Hüter des Erdbebens. Erdbeben wurden nach einem in dieser Zeit verbreiteten Glauben von einem großen Wels ({{g|namazu}}) hervorgerufen, der unter der Erde haust. Als es im Jahre 1855 wieder einmal zu einem großen Erdbeben kam, erfreuten sich Bilder dieses Welses binnen kürzester Zeit einer erstaunlichen Beliebtheit. Sie stellten Wels und Gott in den unterschiedlichsten Konstellationen dar. Anfangs als bildliche Erklärung des Bebens oder als Glücksbringer gedacht, fand man in den Welsbildern ({{g|namazue|''namazu-e''}}) bald auch ein Mittel, um gesellschaftliche Um- und Missstände darzustellen, was ansonsten bedingt durch strenge Zensur nicht möglich war. |
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| + | | Erdbebenwelse (''namazu'') erzeugen Chaos und Aufruhr |
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− | = ''Namazu-e'' — Erdbeben als Satire= | + | == Motive der ''namazu-e'' == |
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− | Im Nordosten Tokyos gibt es den altehrwürdigen Kashima Schrein, der dem Schwertgott {{glossar:takemikazuchi}} geweiht ist. In der {{glossar:Edo}} Zeit war dieser Gott als {{glossar:kashimadaimyoujin}} bekannt und galt als der Hüter des Erdbebens. Erdbeben wurden nach einem in dieser Zeit verbreiteten Glauben von einem großen Wels ({{glossar:namazu}}) hervorgerufen, der unter der Erde haust. Als es im Jahre 1855 wieder einmal zu einem großen Erdbeben kam, erfreuten sich Bilder dieses Welses binnen kürzester Zeit einer erstaunlichen Beliebtheit. Sie stellten Wels und Gott in den unterschiedlichsten Konstellationen dar. Anfangs als bildliche Erklärung des Bebens oder als Glücksbringer gedacht, fand man in den Welsbildern ({{glossar:namazue}}) bald auch ein Mittel, um gesellschaftliche Um- und Missstände darzustellen, was ansonsten dank einer strengen Zensur nicht möglich war.
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− | {{H2+3| Motive der ''namazu-e''}}
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| ===Der Stein von Kashima=== | | ===Der Stein von Kashima=== |
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− | ''Wahres Bild des Schlusssteins von Kashima'' <ref> | + | | rw=250 | rh= 340 | top=-30 |
− | ''Kashima kanameishi shinzu'' <br/> | + | | Kashima und Erdbebenwels |
− | Bildquelle: Miyata und Takada 1995, S. 105 (#34).
| + | | ref=1 |
| + | }} |
| + | Im Schrein von Kashima gibt es einen runden Stein, der aus der Erde herausragt. Man nennt ihn {{g|Kanameishi}} („Schlussstein“) und meinte früher, dies sei der Stein, den Kashima Daimyōjin fest auf den Kopf des Erdbeben-Welses gedrückt halten müsse, damit dieser die Erde nicht erschüttern könne. Dieser Stein spielt in vielen ''namazu-e'' eine wichtige Rolle.<ref> |
| + | Der {{gb|Kanameishi|''kaname''}}-Stein galt schon seit alter Zeit als Heiligtum des Kashima Schreins und findet sich u.a. im der frühesten japanischen Gedichtsammlung {{gb|Manyoushuu}} erwähnt. Die Beziehung zum Erdbeben-Wels ist aber sicher erst in der Edo-Zeit entstanden. Im übrigen gibt es auch in anderen Schreinen ''kaname''-Steine, unter anderem im Katori Schrein, der nur wenige Kilometer vom Kashima Schrein entfernt liegt und als eine Art Zwilling desselben angesehen werden kann. Auch der Katori Schrein wurde in den Wels-Glauben integriert, doch ganz offensichtlich weniger erfolgreich als der Kashima Schrein. |
| </ref> | | </ref> |
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− | Im Schrein von Kashima gibt es einen runden Stein, der aus der Erde herausragt. Man nannte ihn {{Glossar:Kanameishi|Kaname-ishi}} („Schlussstein“) und meinte, dies sei der Stein, den Kashima Daimyōjin fest auf den Kopf des Erdbeben-Welses gedrückt halten müsse, damit dieser die Erde nicht erschüttern könne. Dieser Stein spielt in vielen ''namazue'' eine wichtige Rolle.
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− | Im oberen Teil des Bildes sieht man den „Schlussstein“ des Kashima Schreins umgeben von einem Zaun und einem {{glossar:Torii}}. Im unteren Bildteil sieht man den Gott von Kashima, der den Wels (wieder) in seiner Gewalt hat. | + | Im oberen Teil des Bildes sieht man den „Schlussstein“ des Kashima Schreins umgeben von einem Zaun und einem {{g|Torii}}. Im unteren Bildteil sieht man den Gott von Kashima, der den Wels (wieder) in seiner Gewalt hat. |
| Rund um die beiden sind Werkzeuge und Geldmünzen zu sehen, welche die Wiederaufbauarbeiten nach dem Erdbeben symbolisieren. | | Rund um die beiden sind Werkzeuge und Geldmünzen zu sehen, welche die Wiederaufbauarbeiten nach dem Erdbeben symbolisieren. |
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| ===Talisman gegen Erdbeben=== | | ===Talisman gegen Erdbeben=== |
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− | ''Erdbebenschutz'' <ref>''Jishin omamori'' <br/> | + | | jishin omamori.jpg |
− | Bildquelle und -erläuterung: Miyata und Takada 1995, S. 110 und 262 (#37).</ref>
| + | | ''Erdbebenschutz'' |
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| + | | ref=1 |
− | Das Bild zeigt den Gott von Kashima, der mit seinem Schwert den Erbeben-Wels im Zaum hält. Ihm zu Seite der Donnergott, der mit einem Hammer das Schwert wie einen Pflock in den Kopf des Fisches treibt. Auch im Schwanz des Fisches ist ein Schwert zu erkennen. Dies ist vielleicht eine Anspielung auf die Mythe der Schlange {{glossar:yamatanoorochi}}, die in alter Zeit von {{Glossar:susanoo}} zur Strecke gebracht wurde. Die kleinen Welse, die sich ehrfurchtsvoll niederwerfen, repräsentieren frühere Erdbeben ähnlicher Stärke in Kyoto (1830), Odawara (1853), Shinano (1847) und Ise (1854). Das Siegelzeichen links oben trägt die Inschrift „Kashima“. Darüber sind Sternbilder angedeutet. Dadurch reiht sich das Bild in den Kontext der {{glossar:onmyou|Yin Yang}} Praktiken ein. | + | }} |
| + | Das Bild zeigt den Gott von Kashima, der mit seinem Schwert den Erdbeben-Wels im Zaum hält. Ihm zu Seite der Donnergott, der mit einem Hammer das Schwert wie einen Pflock in den Kopf des Fisches treibt. Auch im Schwanz des Fisches ist ein Schwert zu erkennen. Dies ist vielleicht eine Anspielung auf die Mythe der Schlange {{g|yamatanoorochi}}, die in alter Zeit von {{g|susanoo}} zur Strecke gebracht wurde. Die kleinen Welse, die sich ehrfurchtsvoll niederwerfen, repräsentieren frühere Erdbeben ähnlicher Stärke in Kyōto (1830), Odawara (1853), Shinano (1847) und Ise (1854). Das Siegelzeichen links oben trägt die Inschrift „Kashima“. Darüber sind Sternbilder angedeutet. Dadurch reiht sich das Bild in den Kontext der {{g|onmyou|Yin-Yang}}-Praktiken ein. |
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− | Wie der Bildtitel andeutet, ist diese Abbildung als Talisman ({{glossar:omamori}}) gegen Erdbeben gedacht. Der Bildtext liefert dafür eine deutliche Erklärung: | + | Wie der Bildtitel andeutet, ist diese Abbildung als Talisman ({{g|omamori}}) gegen Erdbeben gedacht. Der Bildtext liefert dafür eine deutliche Erklärung: |
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| {{Zitat|text= | | {{Zitat|text= |
− | Das Orakel des Kashima Ahnenschreins besagt: „Solange ich auf diesem Boden weile, soll kein Halm auf den Bergen, Flüssen, Gräsern und Bäume und kein Sandkorn an den Gestaden der blauen See Schaden nehmen, auch wenn die Erde bebt.“ Wer diesen Spruch morgens und abends sagt, wird ohne Fehl vor allen Übeln und Gefahren, vor Feuer, Wasser und Erdbeben gefeit sein. Und wer den Zettel, wo dies steht, an den Pfeilern in Ost und West, Süd und Nord anbringt, dessen Haus wird nicht einstürzen und nicht zerstört werden. | + | Das Orakel des Kashima Ahnenschreins besagt: „Solange ich auf diesem Boden weile, soll kein Halm auf den Bergen, Flüssen, Gräsern und Bäumen und kein Sandkorn an den Gestaden der blauen See Schaden nehmen, auch wenn die Erde bebt.“ Wer diesen Spruch morgens und abends sagt, wird ohne Fehl vor allen Übeln und Gefahren, vor Feuer, Wasser und Erdbeben gefeit sein. Und wer den Zettel, wo dies steht, an den Pfeilern in Ost und West, Süd und Nord anbringt, dessen Haus wird nicht einstürzen und nicht zerstört werden. |
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| ===Wels und Donner, Yin und Yang=== | | ===Wels und Donner, Yin und Yang=== |
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− | ''Der Namazu als Monster'' <ref>Bildquelle: [http://metro.tokyo.opac.jp/tml/tpic/resprint_d/2011/3/16/9619_001_002.html Tokyo Metropolitan Library] [2011/3]<br/> | + | | kanameishi2.jpg |
− | Bilderläuterung: Miyata und Takada 1995, S. 266 (#44).</ref>
| + | | ''Der Namazu als Monster'' |
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| + | | ref=1 |
− | Dieses Bild zeigt im Gesicht des Welses die Zer·stö·run·gen, die das Erd·beben angerichtet hat. Man erkennt auch das Feuer, das als Folge·er·schei·nung von Erdbeben sehr gefürch·tet war (und ist). | + | }} |
− | Unter dem Wels sieht man drei Gott·heiten, die mit der Ursache des Bebens in Ver·bin·dung stehen: Rechts oben reitet der Gott von Kashima eilig herbei. Er war nämlich wie jedes Jahr im Zehnten Monat ({{glossar:kannazuki}}) beim Götter·tref·fen in {{glossar:Izumo}}. Neben ihm der Donner·gott, der mit dem Feuer in Verbindung steht. Sein Donnern wird scherzhaft als Furz dargestellt. | + | Dieses Bild zeigt im Gesicht des Welses die Zerstörungen, die das Erdbeben angerichtet hat. Man erkennt auch das Feuer, das als Folgeerscheinung von Erdbeben sehr gefürchtet war (und ist). |
− | An den „Schlussstein“ gelehnt schläft {{glossar:Ebisu}}, der den Gott von Kashima vertreten sollte. | + | Unter dem Wels sieht man drei Gottheiten, die mit der Ursache des Bebens in Verbindung stehen: Rechts oben reitet der Gott von Kashima eilig herbei. Er war nämlich wie jedes Jahr im Zehnten Monat ({{g|kannazuki}}) beim Göttertreffen in {{g|Izumo}}. Neben ihm der Donnergott, der mit dem Feuer in Verbindung steht. Sein Donnern wird scherzhaft als Furz dargestellt. |
| + | An den „Schlussstein“ gelehnt schläft {{g|Ebisu}}, der den Gott von Kashima vertreten sollte. |
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− | Das häufige Vorkommen des [[Ikonographie:Wächtergötter/Wind und Donner|Donnergottes]] hängt mit einer Yin Yang Symbolik zusammen: Abge·sehen vom Wels gab es auch etwas abstrak·tere Er·klä·rungen für Erdbeben, die die Ursachen dafür in einem Un·gleich·ge·wicht von Yin und Yang erblickten: Im speziellen würde das Feuer (Yang) unter·irdisch das Wasser (Yin) an Stärke über·treffen, während es für gewöhn·lich nur im Himmel die Vor·herr·schaft genieße. Aus diesem un·ge·wöhn·lichen Zusam·men·prall von Yin und Yang würde im Himmel Gewitter und auf der Erde ein Beben entstehen.<ref>Smits 1966, S. 1051.</ref> (Diese Erklärungen sind im Grunde nicht allzu weit von der Natur·wissen·schaft entfernt.) Der Erdbeben-Wels wurde also wahr·schein·lich von Gebil·de·teren als Sinnbild für die Kräfte des Yin, der Donner·gott als Sinnbild des Yang angesehen. | + | Das häufige Vorkommen des [[Ikonographie/Waechtergoetter/Wind und Donner|Donnergottes]] hängt mit einer Yin Yang-Symbolik zusammen: Abgesehen vom Wels gab es auch etwas abstraktere Erklärungen für Erdbeben, die die Ursachen dafür in einem Ungleichgewicht von Yin und Yang erblickten: Im speziellen würde das Feuer (Yang) unterirdisch das Wasser (Yin) an Stärke übertreffen, während es für gewöhnlich nur im Himmel die Vorherrschaft genieße. Aus dieser ungewöhnlichen Konstellation von Yin und Yang würden im Himmel Gewitter und auf der Erde ein Beben entstehen.<ref>Smits 2006, S. 1051.</ref> (Diese Erklärungen sind im Grunde nicht allzu weit von der Naturwissenschaft entfernt.) Der Erdbeben-Wels wurde also wahrscheinlich von Gebildeteren als Sinnbild für die Kräfte des Yin, der Donnergott als Sinnbild des Yang angesehen.<ref> |
| + | Dennoch blieben Zweifel, was es mit dem Wels und dem Stein auf sich habe. 1664 versuchte der gelehrte Daimyō {{gb|Tokugawamitsukuni}}, in dessen Domäne der Kashima Schrein damals lag, dem Geheimnis des Kashima Steins auf den Grund zu kommen, und ließ eine Grabung durchführen, die allerdings zu keinem Erfolg führte, weil die Grube sich auf mysteriöse Weise immer wieder mit Erde füllte. ([http://ja.wikipedia.org/wiki/%E8%A6%81%E7%9F%B3 Kanameishi] Wikipedia, jap.) |
| + | </ref> |
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− | Die Rolle der Gottheiten ist allerdings im Verhältnis zu Yin und Yang nicht ganz eindeutig. Der Wels ist zweifellos Yin, das sich aufbäumt, oder überschüssiges Yin. Ihm steht der Donnergott {{glossar:raijin}} gegenüber, der durch ähnliche Ursachen hervor·gerufen wurde. Takemi·kazuchi, der Gott von Kashima, ist seinem alten Namen nach aber ebenfalls ein Gewitter·gott (Kazuchi). Es gibt somit zwei Gewitter- oder Donner·götter, die die Aufgabe haben, das Erdbeben im Zaum zu halten. Wer aber kümmert sich um die Brände, den Überschuss an Yang-Energie? Es müsste im Grunde noch einen „guten“ Yin-Gott geben, aber von dem ist in den Bildern nichts zu sehen. | + | Die Rolle der Gottheiten ist allerdings im Verhältnis zu Yin und Yang nicht ganz eindeutig. Der Wels lässt sich zweifellos leicht als Yin, das sich aufbäumt, oder als überschüssiges Yin interpretieren. Er wird durch {{g|raijin}}, den „Donnergott“, und Takemikazuchi, den Gott von Kashima, der seinem alten Namen nach ebenfalls ein Gewittergott (Kazuchi) ist, im Zaum gehalten. Die Gewittergötter sind beide „gute“ Yang-Kräfte, die dem Yin-Wels entgegentreten. Es müsste aber im Grunde noch einen „guten“ Yin-Gott geben, der sich um die Brände, den Überschuss an Yang-Energie, kümmert. Soweit lässt sich das Yin Yang-Schema aber nicht in den Figuren der Volksreligion wiederfinden. |
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| ===Das Beben als Glücksfall=== | | ===Das Beben als Glücksfall=== |
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− | Das Beben von 1855 zeichnete sich offenbar dadurch aus, dass in erster Linie die Anwesen von Daimyos und die Lagerhäuser von Großhändlern betroffen waren. In der Folge entstand eine starke Nachfrage nach Tischlern und Zimmerleuten, was insgesamt den eher einfacheren Schichten der Stadtbevölkerung zugute kam. Es gab also eine Umverteilung des Reichtums in Richtung der Armen. Dies wird in den Welsbildern teilweise mit offener Sympathie für die einfachen Leute dargestellt, sodass der Namazu sogar manchmal als Wohltäter erscheint. | + | Das Beben von 1855 zeichnete sich offenbar dadurch aus, dass in erster Linie die Anwesen von {{g|daimyou|Daimyōs}} und die Lagerhäuser von Großhändlern betroffen waren. In der Folge entstand eine starke Nachfrage nach Tischlern und Zimmerleuten, was insgesamt den eher einfacheren Schichten der Stadtbevölkerung zugute kam. Es gab also eine Umverteilung des Reichtums in Richtung der Armen. Dies wird in den Welsbildern teilweise mit offener Sympathie für die einfachen Leute dargestellt, sodass der Namazu sogar manchmal als Wohltäter erscheint. |
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− | |''Seppuku des Namazu''<ref>Bild: Miyata und Takada 1995, S. 9 und 296 (#82).</ref>
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− | |''Daikoku und Namazu''<ref>Bildquelle:
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− | [http://metro.tokyo.opac.jp/tml/tpic/resprint_d/2011/3/16/9619_001_002.html Tokyo Metropolitan Library] [2011/3]<br/>Bilderläuterung: Miyata und Takada 1995, S. 319–320 (#127).</ref>
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− | |''Abtransport des Reichtums''<ref>Bildtitel: ''Mochimaru takara no debune''; Bild: Miyata und Takada 1995, S. 225 und 299 (#90).</ref>
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| + | | ''Seppuku'' des Namazu |
| + | | Daikoku und Namazu |
| + | | Namazu und Reicher |
| + | | ref=1 |
| + | }} |
| ''Seppuku des Namazu'' | | ''Seppuku des Namazu'' |
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− | Der Erdbeben-Wels ist von einem Pfeil des Gottes von Kashima getrof·fen worden und begeht — gleich einem vor·bild·lichen Samurai in aus·sichts·loser Lage — Selbst·mord durch ''seppuku'' (Harakiri). Aus dem Bauch des Welses strömen ovale Geld·münzen. Im Hinter·grund, unter·halb des Gottes, sind links die ver·stor·benen Opfer des Bebens, rechts die Ge·schä·digten (Groß·händler, Daimyos, etc.) zu sehen. Dem Text ist zu ent·nehmen, dass sie ange·sichts des Selbst·opfers des Namazu zur Ver·söhnung bereit sind. | + | Der Erdbeben-Wels ist von einem Pfeil des Gottes von Kashima getroffen worden und begeht — gleich einem vorbildlichen Samurai in aussichtsloser Lage — Selbstmord durch {{g|seppuku}} (Harakiri). Aus dem Bauch des Welses strömen ovale Geldmünzen. Im Hintergrund, unterhalb des Gottes, sind links die verstorbenen Opfer des Bebens, rechts die Geschädigten (Großhändler, Daimyōs, etc.) zu sehen. Dem Text ist zu entnehmen, dass sie angesichts des Selbstopfers des Namazu zur Versöhnung bereit sind. |
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| ''Daikoku und Namazu'' | | ''Daikoku und Namazu'' |
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− | Nachdem der Gott von Kashima (Bildmitte) den Wels wieder unter Kontrolle gebracht hat, tritt der Glücksgott {{glossar:Daikoku}} auf den Plan und lässt Geld regnen, das den einfachen Bauarbeitern zugute kommt. Der Text des Bildes gibt ein „Erdbeben-Abwehr-Lied“, in welchem die Arbeiter sich freuen, dass sie nun ins Bordell gehen können (s.u.). | + | Nachdem der Gott von Kashima (Bildmitte) den Wels wieder unter Kontrolle gebracht hat, tritt der Glücksgott {{g|Daikoku}} auf den Plan und lässt Geld regnen, das den einfachen Bauarbeitern zugute kommt. Der Text des Bildes gibt ein „Erdbeben-Abwehr-Lied“, in welchem die Arbeiter sich freuen, dass sie nun ins Bordell gehen können (s.u.). |
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| ''Abtransport des Reichtums'' | | ''Abtransport des Reichtums'' |
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− | Ein Erdbeben-Wels schüttelt einen reichen Kaufmann, bis er Geld erbricht, um das sich Handwerker und Bauarbeiter raufen. Der Wels mahnt den Kaufmann, in Zukunft mehr Mitleid mit den Arbeitern zu haben. Die Arbeiter wiederum meinen, dass es besser ist, das Geld im Bordell auszu·geben, da sowieso bald wieder ein Erd·beben kommt. | + | Ein Erdbeben-Wels schüttelt einen reichen Kaufmann, bis er Geld erbricht, um das sich Handwerker und Bauarbeiter raufen. Der Wels mahnt den Kaufmann, in Zukunft mehr Mitleid mit den Arbeitern zu haben. Die Arbeiter wiederum meinen, dass es besser ist, das Geld im Bordell auszugeben, da sowieso bald wieder ein Erdbeben kommt. |
| + | }} |
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| ===Die neuen Freudenviertel=== | | ===Die neuen Freudenviertel=== |
− | <div class ='bildbox bildtext'>
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− | {{Dia|namazu_bordell.jpg|
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− | <div>''Quartier der Strapazen und Feuersbrünste''<ref>''Nanju ya kaji no karitaku'' 1855-56, anon. <br/>Bildquelle und -erläuterung: Miyata und Takada 1995, S. 227 und 314 (#115).</ref></div>
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− | </div>
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− | Notdürftig maskierte Erdbeben-Welse besichtigen ein Bordell und werden von den dortigen Damen an den Bärten herangezogen. Die Prostituierten sind von den Namazu offensichtlich angetan.
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− | Das Bild oben trägt den Titel „Quartier der Strapazen und Feuersbrünste“. Unter „Quartier“ oder „Leihwohnung“ (jap. ''karitaku'') verstand man zu dieser Zeit billige Bordelle. Diese waren als Ersatz für das vom Erdbeben zerstörte Nobel-Freudenviertel Yoshiwara errichtet worden, allerdings waren sie kostengünstiger. Somit wurde dank des Erdbebens die Prostitution in Edo weiter verbreitet und allgemein erschwinglicher. Auch das ein „positiver“ Effekt für die ärmere Bevölkerung, der in einem Lied, das auf mehreren Namazu-Bildern zu finden ist (s.o.), deutlich hervorgehoben wird: | + | {{w500|rh=337 |
| + | |namazu_bordell.jpg |
| + | |Namazu im Bordell |
| + | |ref=1 |
| + | }} |
| + | Notdürftig maskierte Erdbeben-Welse besichtigen ein Bordell und werden von den dortigen Damen an den Bärten herangezogen. Die Prostituierten sind von den ''namazu'' offensichtlich angetan. |
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| + | Das Bild trägt den Titel „Unterschlupf der Strapazen und Feuersbrünste“. „Unterschlupf“ oder „Leihwohnung“ (jap. {{g|karitaku}}) war zu dieser Zeit ein Euphemismus für billige Bordelle. Diese waren als Ersatz für das vom Erdbeben zerstörte Nobel-Freudenviertel {{g|Yoshiwara}} errichtet worden, allerdings waren sie kostengünstiger. Somit wurde dank des Erdbebens die Prostitution in Edo weiter verbreitet und allgemein erschwinglicher. Auch das ein „positiver“ Effekt für die ärmere Bevölkerung, der in einem Lied, das auf mehreren ''namazu''-Bildern zu finden ist (s.o.), deutlich hervorgehoben wird: |
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| {{Zitat|text= | | {{Zitat|text= |
− | Der Wassergott hat uns das Leben gerettet // Jetzt gehen wir zu den Huren (Rokubu), wie schön!<br/> | + | Der Wassergott hat uns das Leben gerettet // Jetzt gehen wir zu den Huren (Rokubu), wie ist das schön!<br/> |
| ''Mizukami no / tsuge ni inochi o / tasukarite // rokubu no uchi ni / iru zo ureshiki'' | | ''Mizukami no / tsuge ni inochi o / tasukarite // rokubu no uchi ni / iru zo ureshiki'' |
| }} | | }} |
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− | ==Wieso ein Wels?== | + | ===Das Götterpferd von Ise=== |
− | Der Wels ist eine variantenreiche Familie von Fischarten, die eines gemeinsam haben: Sie halten sich vorwiegend am Grund von Gewässern auf und sind selten zu sehen. Schon in alter Zeit wurde es als Zeichen von bevor·stehender Gefahr gedeutet, wenn Welse an der Oberfläche von Gewässern schwammen. So wurde der Wels zunächst zu einem positiven Künder von Erdbeben. Doch wurde der Prophet offenbar mit der Zeit als Verursacher der Gefahr gedacht, die er ankündigte. Dabei kam eine klassische chinesische Vorstellung ins Spiel, die einen unterirdischen [[Drachen]] als Verursacher von Erdbeben ansah. Dieser Drache wurde offenbar Anfang der Edo-Zeit in der Region um den Biwa See erstmals als Wels umgedeutet. Von dort breitete sich die Vorstellung entlang der Tōkaidō-Route in den Osten des Landes aus.<ref>Siehe [http://www.east-asian-history.net/textbooks/172/ch8_main.htm Yōkai: Monsters, Giant Catfish, & Symbolic Representation in Popular Culture] (Gregory Smits), Abschnitt: „Namazu (Giant Catfish): A Special Case of Yôkai.“</ref> Interessant ist, dass der zum Monster ({{glossar:youkai}}) gewordene Namazu schließlich in den Erdbeben·bildern wieder verniedlicht wird. | + | {{w500 |
| + | | rh= auto |
| + | | Namazue_ise_pferd_1855.jpg |
| + | | ''Das Götterpferd des Ise Schreins'' |
| + | | ref=1 |
| + | }} |
| + | Dieses Bild zeigt, wie die Gottheit von {{g|isejinguu|Ise}}, hier als Pferd dargestellt, den Erdbeben-Wels besiegt. |
| + | Der dem Bild eingeschriebene Text berichtet davon, dass die Gottheit von Ise im Zuge des Erdbebens als weißes Pferd durch die Straßen der Stadt galoppierte und all jene, die zu ihr beteten, vor Unheil bewahrte. Das Pferd soll zu diesem Zweck einzelne Haare ausgestreut haben. |
| + | Die Kashima Gottheit spielt hier die ambivalente Rolle eines Kriegers, der sein Pferd nicht im Zaum halten kann. Wie in anderen Bildern auch verkörpert Kashima hier das Shōgunat, das mit den Verhältnissen nicht mehr zurecht kommt. |
| + | |
| + | Die kaiserliche Ahnengottheit aus Ise, {{g|amaterasu}}, war im damaligen Edo ebenso exotisch und unbekannt wie der {{g|Tennou}} in Kyōto. Man wusste ein wenig von ihrer Rolle als Ahnen- und Sonnengottheit, doch weder waren ihre Mythen allgemein bekannt, noch herrschte Einigkeit, ob es sich um eine männliche oder weibliche Gottheit handelte. Dennoch erfreuten sich in dieser Zeit Wallfahrten nach Ise einer wachsenden Beliebtheit. Diese Wallfahrten standen im Zusammenhang mit dem Schlagwort {{g|yonaoshi}} („Welterneuerung“ oder „Weltgesundung“). ''Yonaoshi'' fußte zwar auf keiner so konkreten politischen Vision wie etwa die französische Revolution, beinhaltete aber eine diffuse Kritik an den bestehenden Verhältnissen, durch die sich das Tokugawa Shōgunat zurecht bedroht fühlte. ''Yonaoshi'' war unter anderm mit Wallfahrten nach Ise verbunden, was sich auch im Glauben an die Wohltaten des Götterpferdes ausdrückte. Darin kündigte sich eine neue Aufwertung des Tennō an, die schließlich im Jahr 1868 in Gestalt der {{g|Meiji}}-Restauration zu einer vollkommen neuen politischen Ordnung führen sollte. |
| + | |
| + | Während in diesem Bild das Pferd bzw. die dadurch symbolisierte Gottheit Amaterasu als Gottheit der Welterneuerung (''yonaoshi no kami'') gedeutet werden kann, gibt es auch Beispiele, in denen der Erdbebenwels selbst zum Welterneuerer avanciert. Es war also keineswegs ausgemacht, welche Rolle welcher Gottheit in den Welsbildern zukommt. |
| + | |
| + | ===Das ''ken''-Spiel=== |
| + | Der Erdbeben-Wels ist oft in eine Gruppe aus drei Figuren eingebunden, die durch seltsame, auffällige Gesten charakterisiert sind. Diese Figuren spielen das sogenannte {{g|Ken}}-Spiel, das hierzulande als „Schere-Stein-Papier“ bekannt ist. Dieses Spiel ist in Japan auch heute noch sehr beliebt, erlebte in der Edo-Zeit aber einen besonderen Boom. Statt mit den geläufigen Handgesten wurde es auch mit verschiedenen Körperhaltungen gespielt. Diese drückten alle möglichen allegorischen Figuren aus, die immer eines gemeinsam hatten: A besiegt B, B besiegt C, C besiegt A. Viele {{g|Ukiyoe}}-Drucke stellen Varianten des Spiels mit immer wechselnden Figuren dar, deren Kräftegleichgewicht auch als satirischer Kommentar der aktuellen gesellschaftlichen Situation gelesen werden kann. Sepp Linhart, der diesem Thema eine umfangreiche Studie gewidmet hat (Linhart 1998), deutet die ''ken''-Bilder daher als Ausdruck der spezifischen gesellschaftlichen Spannungen der späten Edo-Zeit, als soziale oder wirtschaftliche Interessensgruppen auf allen Ebenen sich gegenseitig in einer höchst labilen Patt-Situation hielten, bis es schließlich zum Umbruch in Form der Meiji-Restauration (1868) kam. |
| + | |
| + | {{textbox | text= |
| + | {{w503b |
| + | |rh= 300 |
| + | |namazu ken zenkoji.jpg |
| + | |namazu ken.jpg |
| + | |ryuko sannin.jpg |
| + | |Namazu und Amida |
| + | |Erdbeben Ken |
| + | |Drei Figuren im Rausch |
| + | |ref=1 |
| + | }} |
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| + | ''Namazu und Amida '' |
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| + | Bereits das älteste erhaltene Namazu-Motiv stellt eine ''ken''-Spiel-Situation dar. Hintergrund ist das Erdbeben im Tempelkomplex {{g|zenkouji}} in Nagano (damals Shinano oder Shinshū) im Jahr 1847. Dieses Beben fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als der Tempel seine berühmte {{g|Amida}} Statue<ref>Diese Statue spielt auch im Zusammenhang mit Hideyoshi's [[Ikonographie/Dainichi/Daibutsu#Hideyoshi.27s_Daibutsu|Großem Buddha]] eine Rolle. </ref> ausstellte und damit zahlreiche Pilger aus dem ganzen Land anzog. Viele Pilger fielen dem Beben zum Opfer, doch der Tempel selbst blieb weitgehend unversehrt, was als Wunder des Amida angesehen wurde. Das Bild zeigt den {{s|Buddha}} Amida (der in späteren Bildern durch den Gott von Kashima ersetzt werden wird), den Erdbeben-Wels und eine {{g|Geisha}}. Wie beim ''ken''-Spiel üblich ist jeder von ihnen einem überlegen, dem anderen unterlegen: Amida ist stärker als ''namazu'', ''namazu'' ist stärker als Geisha, Geisha ist stärker als Amida, was vielleicht als Seitenhieb auf den Buddhismus zu verstehen ist. Große buddhistische Tempel boten nämlich Ende der Edo-Zeit stets auch Vergnügungs- und Freudenvierteln Platz — so auch der Zenkō-ji in Nagano. |
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| + | Das Bild zeigt den Donnergott, den Wels und das Feuer, die von einem Wirten mit {{g|Sake}} verköstigt werden. Die von den Figuren eingenommenen Gesten gehen auf das sogenannte „Fuchs-''ken''“ ({{g|kitsune}}-''ken'') zurück: Der [[Fuchs]] (erhobene Hände = Gespenstergeste) verzaubert den Bürgermeister, der Bürgermeister (Hände auf den Oberschenkeln) kommandiert den Jäger, der Jäger (angedeutetes Gewehr) erschießt den Fuchs. Auf dieser Abbildung entspricht also der Wels dem Fuchs, der Donner dem Bürgermeister und das Feuer dem Jäger: die drei Kräfte heben sich wechselseitig auf.<ref>Es gibt von diesem Motiv mehrere Versionen, aus denen deutlich wird, dass das Feuer mit seinen blonden Haaren auch auf die Europäer und Amerikaner anspielt, die zu diesem Zeitpunkt als militärische Gefahr empfunden wurden. Andere Namazue enthalten auch explizite Bezüge auf die gewaltsame Öffnung von Japans Häfen durch den amerikanischen Admiral {{gb|Perrymatthew|Perry}} in den Jahren 1853–54.</ref> Der dem Bild eingeschriebene Liedtext schließt mit dem Satz: „Jetzt wird die Welt Stück für Stück wieder heil, kommt und macht Geld!“<ref>''Kore kara dandan yo ga naori, kane mōkete, sā kinasē.'' (Miyata und Takada 1995, S. 324)</ref> |
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| + | ''Drei Figuren im Rausch'' |
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| + | Ein Reicher, eine {{g|Geisha}} und ein Handwerker verzehren zusammen einen Wels. Der Text besagt: „Der Reiche, ein zorniger Trinker; der Handwerker, ein fröhlicher Trinker; die Geisha, eine weinende Trinkerin.“ Noch einmal wird hier satirisch auf die vom Erdbeben betroffenen Berufsgruppen angespielt. In der Darstellung nehmen die drei Figuren wieder die Haltungen des ''ken''-Spiels an. |
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| + | == Wieso ein Wels? Vom Propheten zum Monster und zurück == |
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| + | Der Wels ist eine artenreiche Spezies von Fischen, die eines gemeinsam haben: Sie halten sich vorwiegend am Grund von Gewässern auf und sind daher selten zu sehen. Schon in alter Zeit wurde es als Zeichen von bevorstehender Gefahr gedeutet, wenn Welse an der Oberfläche von Gewässern gesichtet wurden. Tatsächlich scheinen Welse besonders sensibel auf seismische, thermische und elektrostatische Veränderungen ihrer Umgebung zu reagieren. So wurde der Wels zunächst zu einem positiven Künder von Erdbeben. Doch wurde der Prophet offenbar mit der Zeit als Verursacher der Gefahr, die er ankündigte, angesehen. Dabei kam eine klassische chinesische Vorstellung ins Spiel, die einen unterirdischen Drachen ({{g|ryuu}}) als Verursacher von Erdbeben ansah. Dieser Drache wurde offenbar Anfang der Edo-Zeit in der Region um den Biwa See erstmals als Wels umgedeutet. Von dort breitete sich die Vorstellung entlang der Tōkaidō-Route in den Osten des Landes aus.<ref> |
| + | Siehe [https://web.archive.org/web/20110723104739/http://www.east-asian-history.net/textbooks/172/ch8_main.htm Yōkai: Monsters, Giant Catfish, & Symbolic Representation in Popular Culture] (Gregory Smits) |
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− | Der Kaname-Stein scheint andererseits schon seit alter Zeit als Heiligtum des Kashima Schreins zu gelten und findet sich u.a. im der frühesten japanischen Gedichtsammlung ''Manyōshū'' erwähnt. Doch gibt es Steine mit der gleichen Bezeichnung in mehreren Schreinen, unter anderem im Katori Schrein, der nur unweit vom Kashima schrein entfernt liegt und als eine Art Zwilling desselben angesehen werden kann. 1664 versuchte der gelehrte Daimyo Tokugawa Mitsukuni, in dessen Domäne der Kashima Schrein damals lag, dem Geheimnis des Kashima Steins auf den Grund zu kommen, und ließ eine Grabung durchführen, die allerdings zu keinem Erfolg führte, weil die Grube sich auf mysteriöse Weise immer wieder mit Erde füllte.<ref>[http://ja.wikipedia.org/wiki/%E8%A6%81%E7%9F%B3 要石 (Kanameishi)] Wikipedia (jap.)</ref>
| + | Interessanterweise werden die zu Monstern ({{g|youkai}}) gewordenen ''namazu'' in den Erdbebenbildern von 1855 sehr rasch wieder verniedlicht. Mit zunehmender Popularität erhalten die Welse immer humorvollere Züge, bis sie schließlich lediglich als liebenswerte Schlingel erscheinen. Diese Tendenz zur Verniedlichung lässt sich im übrigen bei vielen Geisterwesen beobachten, seien es nun Dämonen wie {{g|Tengu}} und {{g|oni}}, magisch begabte Tiere wie {{g|kitsune}} und {{g|Tanuki}} oder Figuren aus der Totenwelt wie der strenge Richter {{g|enma}} und die Hungergeister {{g|gaki}}. Dieser Hang, dem Schrecklichen durch Humor den Stachel zu nehmen, scheint zwar in der Edo-Zeit besonders ausgeprägt gewesen zu sein, lässt sich jedoch viel weiter zurückverfolgen, nämlich bis zu den Schreinfesten, die seit der Heian-Zeit zur Besänftigung grollender Geister {{g|onryou}} abgehalten werden. Es geht in allen Fällen darum, sich mit der Gottheit (=Ursache) einer Katastrophe anzufreunden, sich vertraut zu machen und die Gottheit von ihren feindlichen Absichten abzubringen, indem sie in eine fröhliche, heile Welt eingebunden wird. Die Erdbebenbilder sind daher nicht (nur) als zynischer Ausdruck von Galgenhumor oder als politische Satire zu verstehen, sondern reihen sich wohl auch in eine lange religiöse Tradition ein, Unheil und Katastrophen durch rituell inszenierte Fröhlichkeit abzuwenden. |
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| + | |Die Namazu von Shinano und Edo |
− | Das Bild oben beinhaltet viele der Motive, die in den folgenden Darstellungen einzeln hervorgehoben sind. Es sind hier zwei Namazu zu sehen, die zwei unterschiedliche Beben in der Kantō Region (1847 und 1855) versinnbildlichen. Rechts oben die beiden Gottheiten, die nicht genug aufgepasst haben: Kashima und der Donnergott. | + | | caption= Das Bild beinhaltet viele der Motive, die in den voran gegangenen Darstellungen einzeln hervorgehoben sind. Es sind hier zwei Namazu zu sehen, die zwei unterschiedliche Beben in der Kantō Region (Shinano 1847 und Edo 1855) versinnbildlichen. Rechts oben die beiden Gottheiten, die nicht genug aufgepasst haben: Kashima und der Donnergott. |
− | ==Anmerkungen== | + | | ref=1 |
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− | In Arbeit
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| + | {{Literatur:Miyata Takada 1995}} |
| + | {{Literatur:Linhart 1998}} |
| + | {{Literatur:Linhart 2005}} |
| + | {{Literatur:Smits 2006}} |
| + | |links= |
| + | * ''[https://web.archive.org/web/20130929111004/http://www.east-asian-history.net/earthquakes/index.htm Earthquakes in Japanese History]'' (Online-Materialien von Gregory Smits, zugänglich über Internet Archive) |
| + | ** [https://web.archive.org/web/20101104170046/http://www.east-asian-history.net/textbooks/175/ch2.htm Japan’s Ansei Edo Earthquake] |
| + | ** [https://web.archive.org/web/20110723104739/http://www.east-asian-history.net/textbooks/172/ch8_main.htm Yōkai: Monsters, Giant Catfish, & Symbolic Representation in Popular Culture] |
| + | * ''[http://archive.library.metro.tokyo.jp/ Tokyo Archive]'' (jap.) Tokyo Metropolitan Library, Datenbank (Stichwort 鯰 eingeben) |
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Namazu-e Erdbeben als Satire
Im Nordosten Tōkyōs gibt es den altehrwürdigen Kashima Schrein [Kashima Jingū (jap.) 鹿島神宮 Shintō-Schrein in Kashima, Präfektur Ibaraki], der dem Schwertgott Takemikazuchi [Takemikazuchi (jap.) 建御雷 Mythologischer Schwertgott (wtl. Gewittergott); Ahnengottheit der Fujiwara; u.a. in den Schreinen Kashima und Kasuga verehrt] geweiht ist. In der Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-Zeit war dieser Gott als Kashima Daimyōjin [Kashima Daimyōjin (jap.) 鹿島大明神 Gottheit des Kashima Schreins (Präfektur Ibaraki, n.-östl. von Tokyo); identisch mit dem Schwertgott Takemikazuchi; Ahnengottheit der Fujiwara] bekannt und galt als der Hüter des Erdbebens. Erdbeben wurden nach einem in dieser Zeit verbreiteten Glauben von einem großen Wels (namazu [namazu (jap.) 鯰 Namazu oder Wels; in der Edo-Zeit als Erdbebengott von religiöser Bedeutung]) hervorgerufen, der unter der Erde haust. Als es im Jahre 1855 wieder einmal zu einem großen Erdbeben kam, erfreuten sich Bilder dieses Welses binnen kürzester Zeit einer erstaunlichen Beliebtheit. Sie stellten Wels und Gott in den unterschiedlichsten Konstellationen dar. Anfangs als bildliche Erklärung des Bebens oder als Glücksbringer gedacht, fand man in den Welsbildern (namazu-e [namazue (jap.) 鯰絵 Bild des Erdbeben-Welses; vor allem nach dem Ansei Erdbeben von 1855 sehr populär]) bald auch ein Mittel, um gesellschaftliche Um- und Missstände darzustellen, was ansonsten bedingt durch strenge Zensur nicht möglich war.
Motive der namazu-e
Der Stein von Kashima
Im Schrein von Kashima gibt es einen runden Stein, der aus der Erde herausragt. Man nennt ihn kaname-ishi [kaname-ishi (jap.) 要石 wtl. „Schlussstein“; Stein im Schrein von Kashima, mit dem der Erdbeben-Wels ruhig gehalten wird; auch: yōseki] („Schlussstein“) und meinte früher, dies sei der Stein, den Kashima Daimyōjin fest auf den Kopf des Erdbeben-Welses gedrückt halten müsse, damit dieser die Erde nicht erschüttern könne. Dieser Stein spielt in vielen namazu-e eine wichtige Rolle.1
Im oberen Teil des Bildes sieht man den „Schlussstein“ des Kashima Schreins umgeben von einem Zaun und einem torii [torii (jap.) 鳥居 Torii, Schreintor; wtl. „Vogelsitz“; s. dazu Torii: Markenzeichen der kami]. Im unteren Bildteil sieht man den Gott von Kashima, der den Wels (wieder) in seiner Gewalt hat.
Rund um die beiden sind Werkzeuge und Geldmünzen zu sehen, welche die Wiederaufbauarbeiten nach dem Erdbeben symbolisieren.
Talisman gegen Erdbeben
Das Bild zeigt den Gott von Kashima, der mit seinem Schwert den Erdbeben-Wels im Zaum hält. Ihm zu Seite der Donnergott, der mit einem Hammer das Schwert wie einen Pflock in den Kopf des Fisches treibt. Auch im Schwanz des Fisches ist ein Schwert zu erkennen. Dies ist vielleicht eine Anspielung auf die Mythe der Schlange Yamata no Orochi [Yamata no Orochi (jap.) 八岐大蛇 Mythologische Schlange (Drache) mit acht Köpfen; wtl. „achtfach gegabelte Schlange“; wird von Susanoo besiegt], die in alter Zeit von Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu] zur Strecke gebracht wurde. Die kleinen Welse, die sich ehrfurchtsvoll niederwerfen, repräsentieren frühere Erdbeben ähnlicher Stärke in Kyōto (1830), Odawara (1853), Shinano (1847) und Ise (1854). Das Siegelzeichen links oben trägt die Inschrift „Kashima“. Darüber sind Sternbilder angedeutet. Dadurch reiht sich das Bild in den Kontext der Yin-Yang [onmyō (jap.) 陰陽 jap. für „Yin und Yang“; auch in'yō, on'yō]-Praktiken ein.
Wie der Bildtitel andeutet, ist diese Abbildung als Talisman (o-mamori [o-mamori (jap.) お守り Talisman, schutzbringender Gegenstand]) gegen Erdbeben gedacht. Der Bildtext liefert dafür eine deutliche Erklärung:
Das Orakel des Kashima Ahnenschreins besagt: „Solange ich auf diesem Boden weile, soll kein Halm auf den Bergen, Flüssen, Gräsern und Bäumen und kein Sandkorn an den Gestaden der blauen See Schaden nehmen, auch wenn die Erde bebt.“ Wer diesen Spruch morgens und abends sagt, wird ohne Fehl vor allen Übeln und Gefahren, vor Feuer, Wasser und Erdbeben gefeit sein. Und wer den Zettel, wo dies steht, an den Pfeilern in Ost und West, Süd und Nord anbringt, dessen Haus wird nicht einstürzen und nicht zerstört werden.
Wels und Donner, Yin und Yang
Dieses Bild zeigt im Gesicht des Welses die Zerstörungen, die das Erdbeben angerichtet hat. Man erkennt auch das Feuer, das als Folgeerscheinung von Erdbeben sehr gefürchtet war (und ist).
Unter dem Wels sieht man drei Gottheiten, die mit der Ursache des Bebens in Verbindung stehen: Rechts oben reitet der Gott von Kashima eilig herbei. Er war nämlich wie jedes Jahr im Zehnten Monat (Kannazuki [Kannazuki (jap.) 神無月 „Monat ohne Götter“; volkstümlicher Beiname des 10. Monats, in dem sich die Götter Japans alle nach Izumo begeben sollen]) beim Göttertreffen in Izumo [Izumo (jap.) 出雲 alter Namen der Präfektur Shimane in West-Japan; auch kurz für Izumo Taisha]. Neben ihm der Donnergott, der mit dem Feuer in Verbindung steht. Sein Donnern wird scherzhaft als Furz dargestellt.
An den „Schlussstein“ gelehnt schläft Ebisu [Ebisu (jap.) 恵比寿 Glücksgott der Händler und Fischer; andere Schreibung: 夷 oder 戎; Grundbedeutung wahrscheinlich „Fremder“ oder „Barbar“], der den Gott von Kashima vertreten sollte.
Das häufige Vorkommen des Donnergottes hängt mit einer Yin Yang-Symbolik zusammen: Abgesehen vom Wels gab es auch etwas abstraktere Erklärungen für Erdbeben, die die Ursachen dafür in einem Ungleichgewicht von Yin und Yang erblickten: Im speziellen würde das Feuer (Yang) unterirdisch das Wasser (Yin) an Stärke übertreffen, während es für gewöhnlich nur im Himmel die Vorherrschaft genieße. Aus dieser ungewöhnlichen Konstellation von Yin und Yang würden im Himmel Gewitter und auf der Erde ein Beben entstehen.2 (Diese Erklärungen sind im Grunde nicht allzu weit von der Naturwissenschaft entfernt.) Der Erdbeben-Wels wurde also wahrscheinlich von Gebildeteren als Sinnbild für die Kräfte des Yin, der Donnergott als Sinnbild des Yang angesehen.3
Die Rolle der Gottheiten ist allerdings im Verhältnis zu Yin und Yang nicht ganz eindeutig. Der Wels lässt sich zweifellos leicht als Yin, das sich aufbäumt, oder als überschüssiges Yin interpretieren. Er wird durch Raijin [Raijin (jap.) 雷神 Donnergott; auch Rai-ten], den „Donnergott“, und Takemikazuchi, den Gott von Kashima, der seinem alten Namen nach ebenfalls ein Gewittergott (Kazuchi) ist, im Zaum gehalten. Die Gewittergötter sind beide „gute“ Yang-Kräfte, die dem Yin-Wels entgegentreten. Es müsste aber im Grunde noch einen „guten“ Yin-Gott geben, der sich um die Brände, den Überschuss an Yang-Energie, kümmert. Soweit lässt sich das Yin Yang-Schema aber nicht in den Figuren der Volksreligion wiederfinden.
Das Beben als Glücksfall
Das Beben von 1855 zeichnete sich offenbar dadurch aus, dass in erster Linie die Anwesen von Daimyōs [Daimyō (jap.) 大名 Territorialfürst, Titel des Kriegeradels] und die Lagerhäuser von Großhändlern betroffen waren. In der Folge entstand eine starke Nachfrage nach Tischlern und Zimmerleuten, was insgesamt den eher einfacheren Schichten der Stadtbevölkerung zugute kam. Es gab also eine Umverteilung des Reichtums in Richtung der Armen. Dies wird in den Welsbildern teilweise mit offener Sympathie für die einfachen Leute dargestellt, sodass der Namazu sogar manchmal als Wohltäter erscheint.
Seppuku des Namazu
Der Erdbeben-Wels ist von einem Pfeil des Gottes von Kashima getroffen worden und begeht — gleich einem vorbildlichen Samurai in aussichtsloser Lage — Selbstmord durch seppuku [seppuku (jap.) 切腹 ritueller Selbstmord durch Bauchschnitt; „Harakiri“] (Harakiri). Aus dem Bauch des Welses strömen ovale Geldmünzen. Im Hintergrund, unterhalb des Gottes, sind links die verstorbenen Opfer des Bebens, rechts die Geschädigten (Großhändler, Daimyōs, etc.) zu sehen. Dem Text ist zu entnehmen, dass sie angesichts des Selbstopfers des Namazu zur Versöhnung bereit sind.
Daikoku und Namazu
Nachdem der Gott von Kashima (Bildmitte) den Wels wieder unter Kontrolle gebracht hat, tritt der Glücksgott Daikoku [Daikoku (jap.) 大黒 Gott des Reichtums und Stellvertreter der Sieben Glücksgötter (Shichi Fukujin); skt. Mahakala = „Großer Schwarzer“; auch Daikoku-ten] auf den Plan und lässt Geld regnen, das den einfachen Bauarbeitern zugute kommt. Der Text des Bildes gibt ein „Erdbeben-Abwehr-Lied“, in welchem die Arbeiter sich freuen, dass sie nun ins Bordell gehen können (s.u.).
Abtransport des Reichtums
Ein Erdbeben-Wels schüttelt einen reichen Kaufmann, bis er Geld erbricht, um das sich Handwerker und Bauarbeiter raufen. Der Wels mahnt den Kaufmann, in Zukunft mehr Mitleid mit den Arbeitern zu haben. Die Arbeiter wiederum meinen, dass es besser ist, das Geld im Bordell auszugeben, da sowieso bald wieder ein Erdbeben kommt.
Die neuen Freudenviertel
Notdürftig maskierte Erdbeben-Welse besichtigen ein Bordell und werden von den dortigen Damen an den Bärten herangezogen. Die Prostituierten sind von den namazu offensichtlich angetan.
Das Bild trägt den Titel „Unterschlupf der Strapazen und Feuersbrünste“. „Unterschlupf“ oder „Leihwohnung“ (jap. karitaku [karitaku (jap.) 仮宅 „vorläufige Wohnung“, Unterschlupf, billiges Bordell (Edo-Zeit)]) war zu dieser Zeit ein Euphemismus für billige Bordelle. Diese waren als Ersatz für das vom Erdbeben zerstörte Nobel-Freudenviertel Yoshiwara [Yoshiwara (jap.) 吉原 Freudenviertel des Edo-zeitlichen Tōkyō] errichtet worden, allerdings waren sie kostengünstiger. Somit wurde dank des Erdbebens die Prostitution in Edo weiter verbreitet und allgemein erschwinglicher. Auch das ein „positiver“ Effekt für die ärmere Bevölkerung, der in einem Lied, das auf mehreren namazu-Bildern zu finden ist (s.o.), deutlich hervorgehoben wird:
Der Wassergott hat uns das Leben gerettet // Jetzt gehen wir zu den Huren (Rokubu), wie ist das schön!
Mizukami no / tsuge ni inochi o / tasukarite // rokubu no uchi ni / iru zo ureshiki
Das Götterpferd von Ise
Dieses Bild zeigt, wie die Gottheit von Ise [Ise Jingū (jap.) 伊勢神宮 kaiserlicher Ahnenschrein (wtl. Götterpalast) von Ise, Präfektur Mie, bestehend aus den Anlagen Gekū und Naikū], hier als Pferd dargestellt, den Erdbeben-Wels besiegt.
Der dem Bild eingeschriebene Text berichtet davon, dass die Gottheit von Ise im Zuge des Erdbebens als weißes Pferd durch die Straßen der Stadt galoppierte und all jene, die zu ihr beteten, vor Unheil bewahrte. Das Pferd soll zu diesem Zweck einzelne Haare ausgestreut haben.
Die Kashima Gottheit spielt hier die ambivalente Rolle eines Kriegers, der sein Pferd nicht im Zaum halten kann. Wie in anderen Bildern auch verkörpert Kashima hier das Shōgunat, das mit den Verhältnissen nicht mehr zurecht kommt.
Die kaiserliche Ahnengottheit aus Ise, Amaterasu [Amaterasu (jap.) 天照 Sonnengottheit; Ahnherrin des Tennō-Geschlechts; Hauptgottheit von Ise], war im damaligen Edo ebenso exotisch und unbekannt wie der Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels] in Kyōto. Man wusste ein wenig von ihrer Rolle als Ahnen- und Sonnengottheit, doch weder waren ihre Mythen allgemein bekannt, noch herrschte Einigkeit, ob es sich um eine männliche oder weibliche Gottheit handelte. Dennoch erfreuten sich in dieser Zeit Wallfahrten nach Ise einer wachsenden Beliebtheit. Diese Wallfahrten standen im Zusammenhang mit dem Schlagwort yonaoshi [yonaoshi (jap.) 世直し Welterneuerung; „Weltsanierung“; gesamtgesellschaftliche Umwälzung] („Welterneuerung“ oder „Weltgesundung“). Yonaoshi fußte zwar auf keiner so konkreten politischen Vision wie etwa die französische Revolution, beinhaltete aber eine diffuse Kritik an den bestehenden Verhältnissen, durch die sich das Tokugawa Shōgunat zurecht bedroht fühlte. Yonaoshi war unter anderm mit Wallfahrten nach Ise verbunden, was sich auch im Glauben an die Wohltaten des Götterpferdes ausdrückte. Darin kündigte sich eine neue Aufwertung des Tennō an, die schließlich im Jahr 1868 in Gestalt der Meiji [Meiji (jap.) 明治 posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt]-Restauration zu einer vollkommen neuen politischen Ordnung führen sollte.
Während in diesem Bild das Pferd bzw. die dadurch symbolisierte Gottheit Amaterasu als Gottheit der Welterneuerung (yonaoshi no kami) gedeutet werden kann, gibt es auch Beispiele, in denen der Erdbebenwels selbst zum Welterneuerer avanciert. Es war also keineswegs ausgemacht, welche Rolle welcher Gottheit in den Welsbildern zukommt.
Das ken-Spiel
Der Erdbeben-Wels ist oft in eine Gruppe aus drei Figuren eingebunden, die durch seltsame, auffällige Gesten charakterisiert sind. Diese Figuren spielen das sogenannte ken [ken (jap.) 拳 wtl. Faust; auch Bez. für das Spiel „Schere-Stein-Papier“, ken-Spiel]-Spiel, das hierzulande als „Schere-Stein-Papier“ bekannt ist. Dieses Spiel ist in Japan auch heute noch sehr beliebt, erlebte in der Edo-Zeit aber einen besonderen Boom. Statt mit den geläufigen Handgesten wurde es auch mit verschiedenen Körperhaltungen gespielt. Diese drückten alle möglichen allegorischen Figuren aus, die immer eines gemeinsam hatten: A besiegt B, B besiegt C, C besiegt A. Viele ukiyo-e [ukiyo-e (jap.) 浮世絵 „Bilder der fließenden Welt“, populäre Farbholzschnitte der Edo-Zeit]-Drucke stellen Varianten des Spiels mit immer wechselnden Figuren dar, deren Kräftegleichgewicht auch als satirischer Kommentar der aktuellen gesellschaftlichen Situation gelesen werden kann. Sepp Linhart, der diesem Thema eine umfangreiche Studie gewidmet hat (Linhart 1998), deutet die ken-Bilder daher als Ausdruck der spezifischen gesellschaftlichen Spannungen der späten Edo-Zeit, als soziale oder wirtschaftliche Interessensgruppen auf allen Ebenen sich gegenseitig in einer höchst labilen Patt-Situation hielten, bis es schließlich zum Umbruch in Form der Meiji-Restauration (1868) kam.
Namazu und Amida
Bereits das älteste erhaltene Namazu-Motiv stellt eine ken-Spiel-Situation dar. Hintergrund ist das Erdbeben im Tempelkomplex Zenkō-ji [Zenkō-ji (jap.) 善光寺 Tempel in Nagano] in Nagano (damals Shinano oder Shinshū) im Jahr 1847. Dieses Beben fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als der Tempel seine berühmte Amida [Amida (jap.) 阿弥陀 Buddha Amitabha; Hauptbuddha der Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū bzw. Jōdo Shinshū)] Statue4 ausstellte und damit zahlreiche Pilger aus dem ganzen Land anzog. Viele Pilger fielen dem Beben zum Opfer, doch der Tempel selbst blieb weitgehend unversehrt, was als Wunder des Amida angesehen wurde. Das Bild zeigt den Buddha [Buddha (skt.) बुद्ध „Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)] Amida (der in späteren Bildern durch den Gott von Kashima ersetzt werden wird), den Erdbeben-Wels und eine Geisha [Geisha (jap.) 芸者 japanische Unterhaltungskünstlerin, die traditionelle japanische Künste darbietet; wtl. „Person der Künste“; der Begriff war urspr. geschlechtsneutral, wurde also auch auf Männer angewendet]. Wie beim ken-Spiel üblich ist jeder von ihnen einem überlegen, dem anderen unterlegen: Amida ist stärker als namazu, namazu ist stärker als Geisha, Geisha ist stärker als Amida, was vielleicht als Seitenhieb auf den Buddhismus zu verstehen ist. Große buddhistische Tempel boten nämlich Ende der Edo-Zeit stets auch Vergnügungs- und Freudenvierteln Platz — so auch der Zenkō-ji in Nagano.
Erdbeben-ken
Das Bild zeigt den Donnergott, den Wels und das Feuer, die von einem Wirten mit Sake [Sake (jap.) 酒 Reiswein] verköstigt werden. Die von den Figuren eingenommenen Gesten gehen auf das sogenannte „Fuchs-ken“ (kitsune [kitsune (jap.) 狐 Fuchs; Botentier der Gottheit Inari]-ken) zurück: Der Fuchs (erhobene Hände = Gespenstergeste) verzaubert den Bürgermeister, der Bürgermeister (Hände auf den Oberschenkeln) kommandiert den Jäger, der Jäger (angedeutetes Gewehr) erschießt den Fuchs. Auf dieser Abbildung entspricht also der Wels dem Fuchs, der Donner dem Bürgermeister und das Feuer dem Jäger: die drei Kräfte heben sich wechselseitig auf.5 Der dem Bild eingeschriebene Liedtext schließt mit dem Satz: „Jetzt wird die Welt Stück für Stück wieder heil, kommt und macht Geld!“6
Drei Figuren im Rausch
Ein Reicher, eine Geisha [Geisha (jap.) 芸者 japanische Unterhaltungskünstlerin, die traditionelle japanische Künste darbietet; wtl. „Person der Künste“; der Begriff war urspr. geschlechtsneutral, wurde also auch auf Männer angewendet] und ein Handwerker verzehren zusammen einen Wels. Der Text besagt: „Der Reiche, ein zorniger Trinker; der Handwerker, ein fröhlicher Trinker; die Geisha, eine weinende Trinkerin.“ Noch einmal wird hier satirisch auf die vom Erdbeben betroffenen Berufsgruppen angespielt. In der Darstellung nehmen die drei Figuren wieder die Haltungen des ken-Spiels an.
Wieso ein Wels? Vom Propheten zum Monster und zurück
Der Wels ist eine artenreiche Spezies von Fischen, die eines gemeinsam haben: Sie halten sich vorwiegend am Grund von Gewässern auf und sind daher selten zu sehen. Schon in alter Zeit wurde es als Zeichen von bevorstehender Gefahr gedeutet, wenn Welse an der Oberfläche von Gewässern gesichtet wurden. Tatsächlich scheinen Welse besonders sensibel auf seismische, thermische und elektrostatische Veränderungen ihrer Umgebung zu reagieren. So wurde der Wels zunächst zu einem positiven Künder von Erdbeben. Doch wurde der Prophet offenbar mit der Zeit als Verursacher der Gefahr, die er ankündigte, angesehen. Dabei kam eine klassische chinesische Vorstellung ins Spiel, die einen unterirdischen Drachen (ryū [ryū (jap.) 竜/龍 Drache; schlangenähnliches imaginäres Tier mit großer Affinität zum Wasser]) als Verursacher von Erdbeben ansah. Dieser Drache wurde offenbar Anfang der Edo-Zeit in der Region um den Biwa See erstmals als Wels umgedeutet. Von dort breitete sich die Vorstellung entlang der Tōkaidō-Route in den Osten des Landes aus.7
Interessanterweise werden die zu Monstern (yōkai [yōkai (jap.) 妖怪 Fabelwesen, Geisterwesen, Gespenster]) gewordenen namazu in den Erdbebenbildern von 1855 sehr rasch wieder verniedlicht. Mit zunehmender Popularität erhalten die Welse immer humorvollere Züge, bis sie schließlich lediglich als liebenswerte Schlingel erscheinen. Diese Tendenz zur Verniedlichung lässt sich im übrigen bei vielen Geisterwesen beobachten, seien es nun Dämonen wie tengu [tengu (jap.) 天狗 wtl. Himmelshund; vogelartiger oder geflügelter Kobold, meist in den Bergen] und oni [oni (jap.) 鬼 Dämon, „Teufel“; in sino-japanischer Aussprache (ki) ein allgemeiner Ausdruck für Geister], magisch begabte Tiere wie kitsune [kitsune (jap.) 狐 Fuchs; Botentier der Gottheit Inari] und tanuki [tanuki (jap.) 狸 Tanuki; Marderhund] oder Figuren aus der Totenwelt wie der strenge Richter Enma [Enma (jap.) 閻魔 skt. Yama; König oder Richter der Unterwelt; auch Enra; meist als Enma-ten oder Enma-ō angesprochen] und die Hungergeister gaki [gaki (jap.) 餓鬼 Hungergeist; skt. preta]. Dieser Hang, dem Schrecklichen durch Humor den Stachel zu nehmen, scheint zwar in der Edo-Zeit besonders ausgeprägt gewesen zu sein, lässt sich jedoch viel weiter zurückverfolgen, nämlich bis zu den Schreinfesten, die seit der Heian-Zeit zur Besänftigung grollender Geister onryō [onryō (jap.) 怨霊 Rachegeist] abgehalten werden. Es geht in allen Fällen darum, sich mit der Gottheit (=Ursache) einer Katastrophe anzufreunden, sich vertraut zu machen und die Gottheit von ihren feindlichen Absichten abzubringen, indem sie in eine fröhliche, heile Welt eingebunden wird. Die Erdbebenbilder sind daher nicht (nur) als zynischer Ausdruck von Galgenhumor oder als politische Satire zu verstehen, sondern reihen sich wohl auch in eine lange religiöse Tradition ein, Unheil und Katastrophen durch rituell inszenierte Fröhlichkeit abzuwenden.
Das Bild beinhaltet viele der Motive, die in den voran gegangenen Darstellungen einzeln hervorgehoben sind. Es sind hier zwei Namazu zu sehen, die zwei unterschiedliche Beben in der Kantō Region (Shinano 1847 und Edo 1855) versinnbildlichen. Rechts oben die beiden Gottheiten, die nicht genug aufgepasst haben: Kashima und der Donnergott.
Verweise
Fußnoten
- ↑
Der kaname-Stein galt schon seit alter Zeit als Heiligtum des Kashima Schreins und findet sich u.a. im der frühesten japanischen Gedichtsammlung Manyōshū erwähnt. Die Beziehung zum Erdbeben-Wels ist aber sicher erst in der Edo-Zeit entstanden. Im übrigen gibt es auch in anderen Schreinen kaname-Steine, unter anderem im Katori Schrein, der nur wenige Kilometer vom Kashima Schrein entfernt liegt und als eine Art Zwilling desselben angesehen werden kann. Auch der Katori Schrein wurde in den Wels-Glauben integriert, doch ganz offensichtlich weniger erfolgreich als der Kashima Schrein.
- ↑ Smits 2006, S. 1051.
- ↑
Dennoch blieben Zweifel, was es mit dem Wels und dem Stein auf sich habe. 1664 versuchte der gelehrte Daimyō Tokugawa Mitsukuni, in dessen Domäne der Kashima Schrein damals lag, dem Geheimnis des Kashima Steins auf den Grund zu kommen, und ließ eine Grabung durchführen, die allerdings zu keinem Erfolg führte, weil die Grube sich auf mysteriöse Weise immer wieder mit Erde füllte. (Kanameishi Wikipedia, jap.)
- ↑ Diese Statue spielt auch im Zusammenhang mit Hideyoshi's Großem Buddha eine Rolle.
- ↑ Es gibt von diesem Motiv mehrere Versionen, aus denen deutlich wird, dass das Feuer mit seinen blonden Haaren auch auf die Europäer und Amerikaner anspielt, die zu diesem Zeitpunkt als militärische Gefahr empfunden wurden. Andere Namazue enthalten auch explizite Bezüge auf die gewaltsame Öffnung von Japans Häfen durch den amerikanischen Admiral Perry in den Jahren 1853–54.
- ↑ Kore kara dandan yo ga naori, kane mōkete, sā kinasē. (Miyata und Takada 1995, S. 324)
- ↑
Siehe Yōkai: Monsters, Giant Catfish, & Symbolic Representation in Popular Culture (Gregory Smits)
Internetquellen
Siehe auch Internetquellen
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Literatur
Siehe auch Literaturliste
Miyata Noboru 宮田登, Takada Mamoru 高田衛 (Hg.), Namazue: Shinsai to Nihon bunka 鯰絵―震災と日本文化. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995.
Sepp Linhart, Ken no bunkashi 拳の文化史. Tokyo: Kadokawa Shoten, 1998. [Kulturgeschichte des Ken-Spiels.]
Sepp Linhart, „Kawaraban: Enjoying the News when News was Forbidden“. In: Susanne Formanek und Sepp Linhart (Hg.), Written Texts – Visual Texts. Woodblock-printed Media from Premodern Japan. Amsterdam: Hotei Publishing, 2005, 231–250.
Gregory Smits, „Shaking up Japan: Edo Society and the 1855 Catfish Picture Prints“.
Journal of Social History 39/4 (2006), 1045–1078. (
Online.)
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite
- a b Die beiden Welse (namazu) in der Bildmitte tragen die Schriftzeichen für „Shinshū“ und „Edo“. Dies bezieht sich auf das sog. Zenkō-ji Erdbeben in Shinano (Shinshū, heute Nagano, 1847) und das Erdbeben in Edo (1855). Der groß geschriebene Text ist ein „Erdbeben-Abwehr-Lied“, in dem die neuen Freudenviertel, die nach dem Erdbeben errichtet wurden, gefeiert werden.
Ganz oben sieht man den verzweifelten Gott von Kashima Kashima Daimyōjin, darunter den Donnergott. Die meisten Bürger der Stadt sind wütend auf die namazu, manche aber zweifeln.
(Bilderläuterung: Literatur:Miyata Takada 1995, S. 266–267.)
Edo-Zeit, 1855. Tokyo Archive, Tōkyō Metropolitan Library.
- ^ Im oberen Teil des Bildes sieht man den „Schlussstein“ (kaname-ishi) des Schreins Kashima Jingū umgeben von einem Zaun und einem torii. Mit Hilfe dieses Steins, der weit ins Erdreich hinunterreichen soll, gelang es dem Gott von Kashima — dem Volksglauben der Edo-Zeit zufolge — den Erdbebenwels (namazu) im Erdinneren in Zaum zu halten.
Im unteren Bildteil sieht man den Gott von Kashima, der auch als Schwertgott bekannt ist, und den Wels in figurativer Gestalt. Rund um die beiden sind Werkzeuge und Geldmünzen zu sehen, welche den Wiederaufbau nach dem Erdbeben symbolisieren.
Edo-Zeit. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tōkyō: Ribun Shuppan, 1995, S. 105.
- ^ Der Bildtext des namazue lautet:
Erdbebenschutz
Das Orakel des Kashima Ahnenschreins besagt: „Solange ich auf diesem Boden weile, soll kein Halm auf den Bergen, Flüssen, Gräsern und Bäume und kein Sandkorn an den Gestaden der blauen See Schaden nehmen, auch wenn die Erde bebt.“ Wer diesen Spruch morgens und abends sagt, wird ohne Fehl vor allen Übeln und Gefahren, vor Feuer, Wasser und Erdbeben gefeit sein. Und wer den Zettel, wo dies steht, an den Pfeilern in Ost und West, Süd und Nord anbringt, dessen Haus wird nicht einstürzen und nicht zerstört werden.
Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tōkyō: Ribun Shuppan, 1995, S. 110 und 262.
- ^ Oben: Der Erdbeben-Wels (namazu) und die Zerstörungen,
die er anrichtet.Bildmitte: Der Gott von Kashima reitet eilig herbei. Links der Donnergott.Unten: Der „Schlussstein“ (kaname-ishi) und der schlafende Gott Ebisu, der den Gott von Kashima vertreten sollte.//Obwohl Ebisu oft als lachender, jugendlicher Glücksgott dargestellt wird, gibt es auch Legenden, denen zufolge er alt und schwerhörig ist und aus diesem Grund den alljährlichen Aufruf an die Götter, sich im Oktober in Izumo zu versammeln, nicht hört (oder hören will). Er bleibt daher als „Haushüter-Gott“ (rusugami) in seiner Heimatregion. Doch auch diese Aufgabe erfüllte er im 10. Monat 1855, als der Erdbebenwels das große Ansei-Beben verursachte, nicht sorgfältig genug.
Edo-Zeit, 1844. Tokyo Archive, Tōkyō Metropolitan Library.
- ^ Der Erdbeben-Wels (namazu), der das Erdbeben von 1855 hervorgerufen hat, ist von einem Pfeil des Gottes Kashima Daimyōjin getroffen worden und begeht Selbstmord durch seppuku (harakiri). Im Hintergrund, unterhalb des Gottes, sind links die verstorbenen Opfer des Bebens, rechts die Geschädigten (Großhändler, Daimyōs, etc.) zu sehen. Aus dem Bauch des Welses strömt Geld (das offenbar den Armen zugute kommt).
Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995, S. 9. - ^ Welsbild (namazue, das das Erdbeben von 1855 thematisiert. Bildinhalt: Nachdem der Gott von Kashima, Kashima Daimyōjin, (Bildmitte) den Wels (namazu) wieder unter Kontrolle gebracht hat, tritt der Glücksgott Daikoku auf den Plan und lässt Geld regnen, das den einfachen Bauarbeitern zugute kommt. Der Text ist ein „Erdbeben-Abwehr-Lied“, welches besagt:
- Der Wassergott (Mizu-kami) hat uns das Leben gerettet, jetzt gehen wir zu den Huren (rokubu), wie schön!
Bilderläuterung: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tōkyō: Ribun Shuppan, 1995, S. 319–320.
Edo-Zeit, 1855. Tokyo Archive, Tōkyō Metropolitan Library.
- ^ Ein Erdbeben-Wels (namazu) schüttelt einen reichen Kaufmann, bis er Geld erbricht, um das sich die Armen raufen. Der Wels mahnt den Kaufmann, in Zukunft mehr Mitleid mit den Armen zu haben. Die Armen wiederum meinen, dass es besser ist, das Geld im Bordell auszugeben, da sowieso bald wieder ein Erdbeben kommt.
Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995, S. 225 und 299 (#90). - ^ Notdürftig maskierte Erdbeben-Welse (namazu) besichtigen ein Bordell und werden von den dortigen Damen an den Bärten herangezogen. Das Bild trägt den Titel „Unterkunft der Strapazen und Feuersbrünste“. Unter „Unterkunft“ oder „Leihwohnung“ (jap. karitaku) verstand man zu dieser Zeit billige Bordelle. Diese waren als Ersatz für das vom Erdbeben zerstörte Nobel-Freudenviertel Yoshiwara errichtet worden. Somit wurde dank des Erdbebens die Prostitution in Edo weiter verbreitet und allgemein erschwinglicher. Auch das ein „positiver“ Effekt für die ärmere Bevölkerung.
Edo-Zeit, wahrscheinlich 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tōkyō: Ribun Shuppan, 1995, S. 227 und 314. - ^ Dieses Bild zeigt, wie die Gottheit von Ise, hier als Pferd dargestellt, den Erdbebenwels (namazu) besiegt. Es entstand in der Folge des großen Erdbebens von 1855 (Ansei 2), das vor allem in Edo (Tōkyō) großen Schaden anrichtete. Der dem Bild eingeschriebene Text berichtet davon, dass die Gottheit von Ise im Zuge des Erbebens als weißes Pferd (uma) durch die Straßen der Stadt gallopierte und all jene, die zu ihr beteten, vor Unheil bewahrte. Zur gleichen Zeit erfreuten sich Wallfahrten nach Ise einer großen Beliebtheit. Es kündigte sich darin bereits eine neue Aufwertung des Tennō an, die schließlich im Jahr 1868 in Gestalt der Meiji-Restauration vollzogen wurde.
Edo-Zeit, 1855. National Diet Library. - ^ Das älteste erhaltene namazu-Motiv stellt eine Ken-Spiel-Situation dar. Von diesem Motiv gibt es einige Varianten, die alle von Utagawa Kuniteru 歌川国輝 (1808–1876) angefertigt wurden.
Hintergrund ist das Erdbeben im Tempel Zenkō-ji in Nagano (damals Shinano oder Shinshū) im Jahr 1847. Dieses Beben fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als der Tempel seine berühmte Amida-Statue ausstellte und damit zahlreiche Pilger aus dem ganzen Land anzog. Viele Pilger fielen dem Beben zum Opfer, doch der Tempel selbst blieb weitgehend unversehrt, was als Wunder des Amida angesehen wurde.
Das Bild zeigt den Buddha Amida (der in späteren Bildern durch den Gott von Kashima ersetzt werden wird), den Erdbeben-Wels und eine Geisha. Wie beim Ken-Spiel üblich ist jeder von ihnen einem überlegen, dem anderen unterlegen: Amida ist stärker als Namazu, Namazu ist stärker als Geisha, Geisha ist stärker als Amida, was vielleicht als Seitenhieb auf den Buddhismus zu verstehen ist. Große buddhistische Tempel boten nämlich Ende der Edo-Zeit stets auch Vergnügungs- und Freudenvierteln Platz — so auch der Zenkō-ji in Nagano.
Der Text enthält zum einen ein „Ken-Lied“, das humoristisch auf die Ereignisse Bezug nimmt, zum anderen eine Kurzdarstellung der Zerstörungen im Nachrichtenstil. Wie die meisten Welsbilder zählt auch dieses zum Genre der kawaraban, einer Art Zeitung der späten Edo-Zeit.
Bilderläuterung: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tōkyō: Ribun Shuppan, 1995, S. 240–41 (#2)
Werk von Utagawa Kuniteru (1808–1876). Edo-Zeit. Bildquelle: University of Tōkyō Library.
- ^ Das Bild illustriert ein Sprichwort der Edo-Zeit: „Die größten Gefahren sind: Erdbeben, Gewitter, Feuer — und Väter.“ Donnergott Raijin, Erdbeben-Wels (namazu) und Feuer spielen ken, der Vater bewirtet sie dabei.
Edo-Zeit. University of Tōkyō Library. - ^ Ein Reicher, eine Geisha und ein Handwerker verzehren zusammen einen Wels (namazu). Der Text besagt: Der Reiche, ein zorniger Trinker; der Handwerker, ein fröhlicher Trinker; die Geisha, eine weinende Trinkerin. Noch einmal wird hier satirisch auf die vom Erdbeben betroffenen Berufsgruppen angespielt. In der Darstellung nehmen die drei unbewusst Haltungen ein, die den Gesten des ken-Spiels ähneln.
Edo-Zeit. Bildquelle: University of Tōkyō Library.
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