Abe no Seimei in der Setsuwa-Literatur

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Der erste Geschichtenkomplex um Abe no Seimei: Die setsuwa-Textgruppe

Der Begriff setsuwa 説話 oder setsuwa bungaku 説話文学 bezeichnet eine japanische Gattung kurzer Prosatexte, die in verschiedenen Werken der späten Heian- (784-1185) und Kamakura-Zeit (1185–1333) überliefert sind. Die Protagonisten der Geschichten, die sich meist um ein merkwürdiges, erzählenswertes Ereignis drehen, lassen sich häufig auf historische Personen zurückführen. Gleichzeitig spielen Magie, übernatürliche Vorgänge und anderweltliche Wesen eine wichtige Rolle. Am Schluss erfolgt oft ein Kommentar, der eine Moral anbringt oder eine Lehre aus der Geschichte zieht. Die Herkunft der Erzählungen lässt sich nicht immer klären, denn einige setsuwa sind anonym verfasst , oder die Autorenschaft ist unklar. Für manche wird der Ursprung in mündlicher Überlieferung angenommen, für viele lassen sich schriftliche Prätexte nachweisen. Manchmal gibt es mehrere Varianten einer Geschichte in verschiedenen Sammlungen. Ebenso wie die Umstände der Niederschrift und Kompilation häufig unklar sind, gibt es nur ungenügende Quellen darüber, wie die setsuwa zu ihrer Entstehungszeit rezipiert wurden, wer sie wem erzählte, predigte oder vorlas oder ob sie gelesen wurden und welche Bevölkerungsschichten sie erreichten.

Viele setsuwa sind buddhistischen Inhaltes und dienen wahrscheinlich der Verbreitung der buddhistischen Lehre in Predigten. Sie gehen häufig auf indische oder chinesische Prätexte und Materialien zurück. Andere behandeln vorwiegend säkulare Themen; hier finden sich Wandermönche, buddhistische Priester und onmyōji, die magische Kräfte anwenden. Oft werden die Geschichten mit viel Witz erzählt und es wird nicht immer die Überlegenheit der jeweiligen Lehre herausgestellt. [1]

Etwa ab 1120, gut 100 Jahre nach Seimeis Tod, findet sich in den setsuwa der erste Geschichtenkomplex um Abe no Seimei. Hier werden ihm zum ersten Mal übermenschliche, magische Kräfte zugeschrieben, die sich nicht mehr direkt auf die offiziellen Aufgaben der historischen Person zurückführen lassen. [2] Die Seimei-setsuwa gehören zu den japanischen Geschichten vorwiegend weltlichen Inhalts und ihre Ursprünge sind im Einzelnen nicht geklärt. Neben dem Konjaku monogatari-shū 今昔物語集 erscheint Seimei in den setsuwa-Sammlungen Uji shūi monogatari 宇治拾遺物語, im Kojidan 古事談, im Zoku-Kojidan 続古事談 und im Kokon Chomonshū 古今著聞集. [3]

Die Entdeckung von Seimeis magischen Fähigkeiten: Seimei und sein Lehrer Kamo no Tadayuki

In der ersten Seimei-Geschichte des Konjaku monogatari-shū 今昔物語集 wird Seimeis Verhältnis zu den oni 鬼 aufgegriffen. Als junger Schüler des Kamo no Tadayuki 賀茂忠行 lässt Seimei seine besondere Begabung als onmyōji 陰陽師 erkennen, da er fähig ist, die für andere unsichtbaren oni zu sehen. Die Episode trägt den Titel: Wie Abe no Seimei von Tadayuki seine Kunst erlernte.

Bei einem nächtlichen Ausflug in den Süden der Hauptstadt folgt Seimei dem Wagen mit seinem schlafenden Lehrer, Kamo no Tadayuki.

„Plötzlich sah Seimei, wie furchterregende Dämonen [onidomo 鬼共] von vorn auf ihren Wagen zukamen. Er erschrak und lief zum Wagen, um seinen Herren zu wecken. Als Tadayuki die Dämonen erblickte, die Seimei ihm zeigte, war er sofort hellwach und als er sah, wie sie sich ihnen näherten, wendete er magische Künste an, um sich und seine Begleiter vor den oni zu verbergen. So gelang es ihnen zu entkommen.“

Seit dieser Nacht bevorzugt Tadayuki Seimei vor allen anderen Schülern und lehrt ihn sein ganzes Können, „wie wenn man Wasser aus einer Flasche in ein anderes Gefäß gießt, ohne dass ein Tropfen zurückbleibt“. So wird Seimei ein berühmter onmyōji, den die Mächtigen zu sich rufen.

Komine 1993-1999, S. 411-414

Dies ist die früheste literarische Darstellung einer Begegnung Seimeis mit Dämonen. Seimei zeichnet sich hier durch seine Gabe, die unsichtbaren Wesen sehen zu können, aus. Dämonen oder Geister, die als unsichtbar galten, mit eigenen Augen sehen zu können, wird im Konjaku also als eine besondere Fähigkeit beschrieben, die man normalerweise nach langer Übung erreichte. Sie kommt besonderen onmyōji zu, jedoch nicht Seimei allein. Auch Kamo no Tadayukis Sohn Kamo no Yasunori 賀茂保憲 (917-977) war dazu in der Lage. Dass Seimei wie auch Yasunori diese Gabe bereits als Kinder besaßen, stellt sie im Konjaku als besonders geeignet für die Tätigkeit eines onmyōji dar und wird als Motivation dafür angegeben, dass ihr Lehrer Tadayuki sein Wissen an beide weitergibt. Laut Theile, könnte es sich dabei um eine hyakki yagyō 百鬼夜行, eine „Nächtliche Prozession“ bzw. „Parade der hundert Dämonen“ handeln. [4]

  1. vgl. Li 2009:28-30
  2. Theile 2013:95
  3. Theile 2013:98
  4. Theile 2013:101