Goryō: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 18. Oktober 2021, 15:11 Uhr

Seiten-Infobox
Themengruppe Gottheiten (Götter, numinose Erscheinungen)
Name Goryō 御霊 („feindselige Seelen Verstorbener“)
Herkunft Mischung aus japanischem Volksglauben und vermutlich aus Elementen chinesischer und koreanischer Volkstraditionen
Funktion, Wirkkraft verursachen Unheil und Krankheit
Bemerkung wurden zunächst als bösartige, gefürchtete Rachegeister wahrgenommen, später fungieren sie auch als Beschützergeister
Diese Seite entstand im Kontext des Seminars Kamigraphie: Wintersemester 2011.

Goryō 御霊 sind feindselige Seelen Verstorbener, die Unheil und Krankheit verursachen. Oft handelt es sich dabei um Personen, die ihren Status und ihre Macht verloren haben und nach dem Tod auf Rache sinnen.

Entstehung und Entwicklung

Goryō 御霊 finden ihre erste Erwähnung im Nihon sandai jitsuroku 日本三代実録, wo von einem goryō-e 御霊会 berichtet wird, dass 863 vom Kaiserhof ausgetragen wurde.[1] Die Ursprünge der goryō lassen sich jedoch viel früher finden und werden bereits vor der Nara-Zeit vermutet.[2] Die Blütezeit der goryō Verehrung, auch goryō-shin 御霊神 Zeitalter genannt, beginnt Mitte des 8. und endet im 12. Jahrhundert.[3]

Die Entstehung des Glaubens an goryō ist nicht gänzlich geklärt, aber man kann davon ausgehen, dass er sich aus unterschiedlichen, bereits existierenden Glaubensvorstellungen entwickelt hat. Zum einen von aus Japan stammenden Volksglauben und Traditionen, aber auch aus Volkstraditionen die Einwanderer des Festlandes von China und Korea mitbrachten.[4] Klar zu erkennen ist dies bei der Betrachtung chinesischer Totenriten, wo bei Nichteinhaltung und Vollzug der korrekten Begräbnisriten der Geist eines Verstorbenen zu einem Rachegeist werden konnte.[5]

Diese unterschiedlichen Einflüsse und Volkstraditionen vereinten sich am Ende der Nara-, und Anfang der Heian-Zeit, welche durch Unruhen und politische Veränderung gekennzeichnet war. Gerade in Nara und Kyoto, spätere Zentren des goryō shinkō 御霊信仰, sah man einen großen Anstieg der Bevölkerung, das wiederum durch die daraus resultierenden engeren Platzverhältnisse zu einer schnelleren Verbreitung von Krankheiten führte.[6] Des Weiteren gab es in der Nara und Heian-Zeit bedingt durch politische Machtspiele der Führungsschicht eine Vielzahl an verärgerten Geistern, die es zu besänftigen galt.[7]

Zu ebendieser Zeit wurde das goryō-e von 863 ausgetragen. Es war 6 goryō gewidmet, allesamt Mitglieder der Führungsschicht und alle durch die politischen Machenschaften des Fujiwara Clans ums Leben gekommen.[8]

Der Fujiwara-Clan enteignete den goryō shinko für seine eigenen Zwecke, um die Bevölkerung dadurch besser kontrollieren zu können. Während es bereits vor der Nara-Zeit Epidemie-Götter und krankheitsauslösende Geister gab, wurden erst in der späten Nara-Zeit spezifische Personen als Verursacher identifiziert. Die Identifizierung wurde wiederum von der Oberschicht vorgenommen und somit signalisiert, dass die Feinde der Fujiwara, lebend oder geisterhaft, auch die Feinde des Volkes waren.[9]

Der goryō Glaube, ursprünglich aus volkstümlichen Traditionen entstanden und von der Oberschicht für ihre Zwecke angepasst, verbreitete dieser sich unter den niederen Bevölkerungsschichten.[10] Auch, wenn das Ende der Nara-Zeit den Anfang des höfischen goryō Glaubens kennzeichnet, so gab es auch inoffizielle, private goryō-e die vom Volk abgehalten wurden, als Reaktion auf Notsituationen und Versuch, Abhilfe bei Katastrophen zu schaffen. Diese Volks-goryō-e hatten zudem nicht nur die Funktion, Epidemien und Desaster zu bekämpfen, sondern auch, um Kritik an der Regierung und der Führungsschicht zu üben. Man gab die Schuld rachsüchtigen, adeligen Geistern, die durch die politischen Machtspiele der Elite gestorben waren und aus diesem Grund einen tiefsitzenden Groll hegten. Dass dies als Kritik aufzufassen war, lässt sich auch daran erkennen, dass es Bemühungen der Regierung gab, private, vom Volk abgehaltene goryō-e zu verbieten und zu unterdrücken.[11]

Eine große Veränderung, die sich im 10. Jahrhundert beobachten lässt, ist die Beziehung der Menschen zu den goryō, ähnlich den ekijin 疫神 und anderen Göttern und Geistern. Von bösartigen, gefürchteten Rachegeistern, die es zu besänftigen galt, wurden sie zu quasi-Gottheiten goryō-shin, die als Beschützergeister fungierten.[12]

Auch heute noch werden Feste zu Ehren von goryō abgehalten, wie zum Beispiel das Gion Matsuri 祇園祭.

Bekannte Beispiele von goryō

Zu den berühmtesten Beispielen zählen Sugawara no Michizane 菅原道真 (845–903) und der Kronprinz Sawara Shinnō 早良親王 (750–785).

Sugawara no Michizane

Sugawara no Michizane war ein Gelehrter, Poet und Staatsmann, der einer Intrige zum Opfer fiel und daraufhin ins Exil geschickt wurde. Nach seinem Tod wurde Kyōto von einer Reihe von Katastrophen heimgesucht. Nachdem die Ursache dafür in seinem Rachegeist gefunden wurde, wurden ihm zwei Schreine gewidmet, in denen er noch heute als Tenman Tenjin 天満天神 (Schutzpatron der Gelehrsamkeit) verehrt wird.[13][14]

Sawara Shinnō

Sawara Shinnō war ein Kronprinz, der zu Zeiten von Kōnin Tennō 光仁天皇 und Kanmu Tennō 桓武天皇 lebte. 785 wurde er beschuldigt, Mittäter eines politischen Mordes an einem Getreuen des Tennō zu sein und zur Strafe ins Exil geschickt. Er starb allerdings aufgrund eines Hungerstreiks schon auf dem Weg dorthin. Später wurden ihm zahlreiche Racheakte (Todesfälle in der der kaiserlichen Familie, Naturkatastrophen, Epidemien) zugeschrieben und er wurde rituell rehabilitiert. Er ist einer der sechs goryō, die seit 863 kollektiv im Rahmen des goryō-e des Gion Schreins, heute Gion Matsuri des Yasaka Jinja 八坂神社, verehrt werden.

Goryō-e

Goryō-e 御霊会, wörtlich "buddhistische Rituale für verstorbene Geister", sind religiöse Rituale, bei denen goryō verehrt werden, in der Hoffnung darauf, diese und ihre Rachelust zu besänftigen. Diese Rituale vereinen zumeist Praktiken unterschiedlicher Provenienz, etwa Yin-Yang Magie, shamanistische Rituale, yamabushi 山伏 -Techniken oder Anrufung des Amida Buddha (nenbutsu 念仏).

Gion-Kult und Gion Goryō-e

Der Gion Kult hat seine Wurzeln im Glauben, dass Krankheiten und Epidemien durch Gottheiten verursacht werden (ekijin) und ferner auch Katastrophen wie Erdbeben durch verstorbene Geister, den goryō, verursacht werden. Der letztere Glaube entwickelte sich wohl aus importierter chinesischer Philosophie, der zufolge Geister von Verstorbenen zu bösen Geistern werden können, ohne die Durchführung der entsprechenden Beerdigungszeremonien.

Das goryō-e des Gion Kults wurde erstmals 863 im Shinsen-en vom Fujiwara Clan veranstaltet, um sechs goryō zu besänftigen, die alle ihren Tod durch die Taten des Fujiwara Clan fanden. Darunter befanden sich:

  • Sawara Shinnō: während er lebte, war er Kronprinz Sawara. Er wurde des Mordes an Fujiwara no Tanetsugu bezichtigt. Er wurde verbannt, starb aber am Weg ins Exil. Nachdem es Gerüchte über die Rachetaten seines Geistes gab, wurden zuerst Mönche entstand um ihn zu besänftigen. 800 wurde er schließlich posthum zu Sudō tennō ernannt.
  • Iyo Shinnō 伊予親王: Ein Kornprinz, der fälschlicherweise beschuldigt wurde, ein Komplott gegen die Fujiwara zu planen. Gemeinsam mit seiner Mutter Fujiwara no Yoshiko wurde er verbannt und sie begingen zusammen Selbstmord.
  • Fujiwara no Yoshiko 藤原喜子: Mutter des Iyo Shinnō. Sie gingen gemeinsam ins Exil und begangen Suizid.
  • Fujiwara no Hirotsugu 藤原広嗣: Ein Adeliger, der wegen der angeblichen Verwicklung in ein Komplett hingerichtet wurde.
  • Tachibana no Hayanari 橘逸勢: Er war in den Jōwa Zwischenfall von 842 impliziert und wurde dafür verbannt. Er starb auf den Weg ins Exil.
  • Bunya no Miyatamaro 文室宮田麻呂: Gemeinsam mit Händlern aus Silla war er in eine Rebellion involviert. Er verstarb im Exil.

Mit der Veranstaltung dieses goryō-e verfolgte der Fujiwara Clan das Ziel, die öffentlich Angst vor goryō im Generellen zu einer Angst vor diesen sechs speziellen Geistern zu transformieren, die alle als Feinde der Fujiwara galten. Durch diese Spezifikation der goryō sollte die Bevölkerung beginnen, den Feinden der Fujiwara ein antagonistisches und feindliche Charakter zuzuschreiben und folglich diese zu fürchten.[15]

Im Rahmen des goryō-e wurden Sutras rezitiert, es wurde chinesische sowie koreanische Hofmusik gespielt und dazu von Töchtern aristokratischer Familien getanzt. Zusätzlich wurde von der Bevölkerung frenetisch Musik gespielt und getanzt, wodurch bei den Teilnehmern die magische Energie entstand, die sie von Krankheiten und Unglück reinigen sollte.[16] Solch eine Energie ist allgemein ein wichtiger und üblicher Bestandteil japanischer matsuri祭, welche stets nach einer Vorstufe der Reinigung und Prozession in sich steigerndem dynamischen Tanz und Musik weiterführen, deren Höhepunkt ein „Eins werden“ mit den anwesenden kami 神 bedeutet.[17]

Goryō und Nenbutsu

Durch die Verbreitung der goryō veränderte sich der Glaube durch die unterschiedlichsten Einflüsse. Über die Jahre hinweg veränderte sich auch, wer goryō werden konnte. Anfangs waren es nur Adelige und Mitglieder der Führungsschicht, die ihre Rache aufgrund der erfahrenen Ungerechtigkeiten ausüben konnten. Beeinflusst durch die Vorstellungen des Buddhismus eröffnete sich die Möglichkeit, dass auch jemand aus dem Volk zu einem goryō werden könnte. Nur durch den Willen, besonders im Moment des Todes, sollte sich ein Leben nach dem Tod eröffnen können. Hori Ichirō sieht hier eine Verbindung zwischen dem Kult der goryō und des nenbutsu 念仏.[18] Hierbei liegt die Gemeinsamkeit in der Manifestation des Willens eines Menschen, der je nach Glauben zu einem Rachegeist wird, oder aber ins Reine Land des Amida Buddhas aufsteigen kann.[19]

Verweise

Verwandte Themen

Literatur

  • Ichirō Hori 1994
    Folk religion in Japan: Continuity and change. Chicago: Chicago UP 1994.
  • Neil McMullin 1988
    „On placating the gods and pacifying the populace: The case of the Gion "Goryō" cult.“ History of Religions 27/3 (1988), S. 270 - 293. (Exzerpt.)
  • Elizabeth Moriarty 1972
    „The communitarian aspects of Shintou matsuri.“ Asian Folklore Studies 31/2 (1972), S. 91-140. (Exzerpt.)
  • Bernhard Scheid 2012
    „Shinto shrines: Traditions and transformations.“ In: John Nelson, Inken Prohl (Hg.), Handbook of Contemporary Japanese Religions. Leiden: Brill 2012.

Internetquellen

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Fußnoten

  1. Warren 2014, S. 55
  2. McMullin1998, S. 273–274
  3. Hōri 1994, S. 72
  4. McMullin 1998, S. 273–274
  5. Hōri 1994, S. 42–43
  6. McMullin 1998, S. 285
  7. Warren 2014, S. 58
  8. McMullin 1998, S. 288
  9. McMullin 1998, S. 286–289
  10. McMullin 1998, S. 285
  11. McMullin 1998, S. 284–286
  12. McMullin1998, S. 292
  13. Scheid 2012
  14. S.a. Kitano tenjin engi emaki
  15. McMullin 1988, S. 289
  16. McMullin 1988, S. 289
  17. Moriarty 1972
  18. Anrufung des Amida Buddhas, Teil des Amida Buddhismus
  19. Hōri 1994, S. 116–117