Grimms Märchen in Japan

Aus Kamigraphie
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Märchen Japan.jpg
Grimms Märchen auf Japanisch[Abb. 1]
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ThemengruppeErzählung (Mythos, Legende, Märchen, etc.)
Schlagworte Brüder Grimm, Märchen, Japan
Diese Seite entstand im Kontext des Seminars Kamigraphie:Glücksgötter.

Die Märchen[1] der Brüder Grimm[2], auch bekannt als Grimms Märchen, sind die meist übersetzte und am häufigsten gelesene Märchensammlung der Welt. Die berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ wurden von 1812 bis 1858 herausgegeben. Die Gebrüder Grimm betrachteten die Märchen nicht als literarische Werke, sondern als mündlich überliefertes Volksgut, welches in Wirklichkeit dem gebildeten Bürgertum als Erziehungsinstrument diente. So nutzten Mütter und Großmütter diese Kinder- und Hausmärchen als sogenannte „Vorlesebücher“, um den Kindern spielerisch bestimmte Eigenschaften und Handlungsweisen näher zu bringen. Des Weiteren wurde so auch vermittelt, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden. Im außereuropäischen Raum gewinnen sie ebenfalls an Bedeutung, wobei die Übersetzungen häufig in Richtung eines moralisch-belehrenden Tons geändert werden. Auch in Japan sind die Märchen der Gebrüder Grimm in Kinderbüchern beliebt und verbreitet, jedoch hat die Originalausgabe weniger Bedeutung bzw. ist sie weniger bekannt. 1887 sind erstmals einzelne Märchen der Brüder Grimm ins Japanische übersetzt worden und seit 1924 ist eine Gesamtausgabe aller Märchen erhältlich. Anzumerken ist, dass es einen Unterschied zwischen den Übersetzungen für Erwachsene und jenen für Kinder gibt. Während die Erwachsenenausgaben den originalgetreuen Ausgaben entsprechen, stehen in den Kinderausgaben erzieherische Absichten und gesellschaftlich-kulturelle Wertvorstellungen im Vordergrund. Hierbei kam es sozusagen zu einer „Japanisierung“ der Grimmschen Märchen in Kinderbüchern, um sie so den japanischen Vorstellungen anzupassen. Die wichtigsten Aspekte der Veränderungen in den japanischen Fassungen beruhen auf der Moralerziehung, welche die Normen der japanischen Gesellschaft, wie z.B. konfuzianische Vorstellungen von Loyalität und Pietät, widerspiegeln.

Wenig bekannt ist, dass im Jahre 1861, als die erste aus 36 Gesandten bestehende Delegation der japanischen Modernisierer nach Europa gesandt wurde, einige dieser auch die Brüder Grimm in Berlin besuchten und diese somit bereits in Japan bekannt waren. Die Geschichten jedoch wurden lange Zeit zensiert. Nichtsdestotrotz versuchten die Brüder Grimm, wenn auch nur in sehr geringem Ausmaß, japanisches Kulturgut im internationalen Geist einer Entwicklung des Volksgutes in ihre Überlegungen und Geschichten mit einzubeziehen (wie man beispielsweise an einer ihrer Geschichten sehen kann, in der sich ein Verweis auf ein japanisches Insekt findet). Die erste Übersetzung der Grimmschen Märchen mit dem Titel Seiyō koji shinsen sōwa („Westliche alte Götter- und Einsiedlergeschichten“) wurde 1887 von dem Priester Suga Ryōhō angefertigt, welcher sich besonders für die pädagogische Philosophie interessierte. Somit stand die Einführung der Märchen ursprünglich mit der konservativen Erziehungsrichtung in Japan in Zusammenhang. Da jene Zeit von verschärfter Zensur und bestimmten Moralvorstellungen geprägt war, passte Suga die Inhalte der Märchen entsprechend der Bedürfnisse der Gesellschaft, bzw. des Staates, an.

Die japanische Version der Märchen

Die Abweichungen von der Originalausgabe betreffen vor allem folgende Eigenschaften und Werte:

  • Die Grausamkeit einiger Figuren wandelt sich in Mitleid und Güte, um das Herrscherbild positiv darzustellen – was in zahlreichen weiteren Situationen so gemacht wird.
  • Auch die Treue und Loyalität des japanischen Untertanen zu seinem Herrn wird stark betont, und vor dem Brechen dieser wird gewarnt.
  • Besonders interessant ist, dass das Wort „Kuss“ in der japanischen Ausgabe aus moralisch-ethischen Gründen getilgt wurde. Im Verlagsgesetz von 1893 steht geschrieben, dass Bilder oder Gemälde von Küssen oder Umarmungen zwischen einem Mann und einer Frau nicht veröffentlicht werden dürfen. Daher wurde aus dem Kuss zuerst eine Verlobung, denn entsprechend der traditionellen japanischen Verhaltensnormen muss man zuerst verlobt sein, bevor man sich küsst.

Diese Punkte sind nur einige Beispiele aus einer Erzählung, nämlich aus der Geschichte Der goldene Vogel. Anhand dieser Beispiele wurde eine Einteilung bezüglich der Unterschiede zwischen der Originalausgabe und der japanischen Übersetzung vorgenommen.

Die Abweichungen kann man im Großen und Ganzen in sechs verschiedene Kategorien einteilen:

  1. Religion und Philosophie
  2. Natürliche und soziale Umwelt
  3. Äußerungsweise durch die Sprache
  4. Standesvorurteile
  5. Moralische und pädagogische Absichten
  6. Einfluss aus dem Englischen

Religion und Philosophie

Da es sich bei dem Übersetzer um einen buddhistischen Priester handelte, nimmt man an, dass Ausdrücke des Christentums vermieden wurden, da einer der Gründe für die japanische Abschließungspolitik von 1639 der Schutz Japans gegen das aufstrebende Christentum war. Auch wenn das Verbot des Christentums 1873 offiziell aufgehoben wurde, waren die Vorbehalte gegenüber dieser Religion und deren Verbreitung immer noch in den Köpfen der Bevölkerung verankert. Der Übersetzer Suga war einerseits Buddhist der amidistischen Jōdo-Schule, und somit von christenfeindlichen Einstellungen beeinflusst, andererseits studierte er an der Keiō-Universität, dessen Gründer Yukichi Fukuzawa das Christentum vom Standpunkt des englischen Utilitarismus aus kritisierte. Des Weiteren wurde das Christentum von der japanischen Regierung nicht als Mittel zur Befestigung der jeweiligen Gesellschaftsordnung genutzt, da die Philosophie von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, nicht mit der patriarchalischen und nationalistischen Ideologie des Kaisertums, mit dem Kaiser als höchste Autorität des Staates, harmonisierte. Im Jahr 1890 wurde der kaiserliche Erlass über die Erziehung, kyōiku chokugo 教育勅語, herausgegeben, in dessen Mittelpunkt der Kaiser stand, und dessen pädagogisches Ziel die Treue gegenüber dem Herrn und der Pietät gegenüber den Eltern war. Diese Grundgedanken entstammen dem Konfuzianismus. In der japanischen Übersetzung der Märchen spiegelt sich diese geschichtliche, gesellschaftliche Situation wieder. Suga versucht daher Konzepte des Christentums, z.B. Heilige, den Teufel oder Dreifaltigkeit, zu vermeiden und die Religion nicht zu sehr zu betonen.

Natürliche und soziale Umwelt

Die natürliche Umwelt, also die Lage der beiden Länder, ist sehr verschieden und daher ist es nicht verwunderlich, dass Verweise und Ausdrücke sich voneinander unterscheiden, da beispielsweise bestimmte Pflanzen oder Tieren nicht in Japan bekannt sind. So findet man in der japanischen Version Korallenbäume, Perlenfrüchte, Reiswein und Kirschblütenzweige. Was das Essen betrifft, so besteht es aus Delikatessen aus dem Meer und dem Gebirge und nimmt einen anderen Stellenwert ein als in der Originalausgabe. Auch bei der Kleidung kann man die Tendenz erkennen, das Westliche nicht sofort zu übernehmen, sondern entweder durch etwas in Japan Bekanntes, wie beispielsweise einen Kimono zu ersetzen, oder das westliche zu „Japanisieren“ und etwas Neues zu erschaffen. Auch die Verhaltensweisen der Figuren in den Märchen sind der japanischen Etikette angepasst. So verbeugt sich Aschenputtel, die in der japanischen Version als „Rußputtel“ bezeichnet wird, vor dem Tanzen oder auch der Königshof, welcher sich wundert, dass eine so junge und hübsche Dame alleine reist. Der Begriff „Tanzfest“ war in Japan ebenfalls nicht gebräuchlich, da unter japanischem Tanzen entweder ein typischer traditioneller Kunsttanz (nihon buyō 日本舞踊) verstanden wurde, den ein Tänzer oder eine Tänzerin im Haus vor vielen Zusehern zeigt, oder ein Volkstanz im Freien (bon odori 盆踊り), bei dem jeder mittanzen kann.

Äußerungsweise durch die Sprache

In Japan gibt es bestimmte ästhetische Symbole, die häufig in der Literatur verwendet wurden. Der Vollmond nimmt beispielsweise eine besondere Stellung ein. Er wird als etwas Vollkommenes empfunden, auch als die vollkommene Schönheit einer Frau. Raben hingegen sind Boten von Unglück, da sie Totenfleisch fressen. In der japanischen Version der Märchen wird der Rabe immer durch einen Schwan ersetzt, der für Reinheit steht, um so die ästhetischen Normen der Japaner zu wahren. Auch Tugenden spielen eine große Rolle, wie jene, dass man seine Gefühle möglichst nicht äußert, sondern für sich behält. Diese Tugend wurde besonders von den bushi 武士 verkörpert. Suga versucht in seiner Übersetzung diese Tugenden einfließen zu lassen. Eigenlob findet man in der japanischen Kultur selten, denn Bescheidenheit ist hoch angesehen, besonders gegenüber älteren und höher gestellten Menschen. Deshalb verwendet man, wenn man mit diesen spricht, die sogenannte Höflichkeitssprache und wenn man über sich selber spricht, eine bescheidene Sprachform. Auch in der japanischen Version der Märchen trifft man oft auf diese zwei Sprachformen, insbesondere aber auf die bescheidene Form, wodurch es ab und zu zu weitschweifigen Ausdrücken kommt, da die sprachlichen Umgangsformen gewahrt werden.

Standesvorurteile

Vor der Meiji-Restauration (meiji ishin 明治維新, 1868) teilte sich die Bevölkerung in die vier Stände shi (Schwert-Adel/Samurai), (Landbauern), (Handwerker) und shō (Kaufleute), was als Vier-Stände-System shinōkōshō 士農工商 bezeichnet wurde, und einen wesentlichen Grundpfeiler des Tokugawa-Shogunats (1600–1868) darstellte. Außerhalb dieser Klassen standen das sogenannte „niedere Volk“, zu denen Tänzerinnen, Dirnen und Gaukler gehörten, sowie die eta 穢多 („Unreinen“) z.B. Gerber, und die hinin 非人 („Nicht-Menschen“). Im Jahr 1873 wurden die Standesunterschiede rechtlich beseitigt und nur der Adel durfte noch gewisse Vorrechte behalten. Doch im Bewusstsein der Bevölkerung lebten die Stände noch weiter und zeichneten sich besonders bei Eheschließungen ab, da es Menschen aus den „unteren Klassen“ nur unter großen Schwierigkeiten gelang in die „obere Klasse“ einzuheiraten. Auch in den Märchen spiegelte sich diese Verhaltensweise wieder und somit konnte kein armes Mädchen einen König heiraten. Suga bezieht sich immer wieder darauf, dass ein Mädchen aus gutem Hause kommt und deshalb eine Heirat unproblematisch ist, da beide derselben Klasse angehören. Somit ist es, anders als in der Originalversion, auch in den japanischen Märchen nicht möglich, die bestehenden Standesunterschiede zu überschreiten.

Moralische und pädagogische Absichten

In der ersten japanischen Übersetzung sind die moralisch-belehrenden Absichten Sugas sehr deutlich zu erkennen. Besonderer Wert wird auf Treue gegenüber den Herren und Pietät gegenüber den Eltern gelegt. Diese Tugenden werden vom Kaiser, der sowohl Herr als auch Vater seines Volkes ist, gefordert und die Dankbarkeit ihm gegenüber spielt ebenso eine besondere Rolle, wodurch in den Märchen auch nie Undankbarkeit vorkommt. Oft findet man auch eine Art Idealbild, z.B. wenn eine Figur auch die kleinsten Wesen der Erde respektiert und ruhig, nachdenklich, genügsam, belesen und weise veranlagt ist. Wie bereits erwähnt, tritt in den Märchen oft Mitleid an die Stelle von grausamen Episoden, oder diese werden ganz weggelassen. Damit berücksichtigt Suga sowohl die Normen bezüglich der Kindererziehung, als auch die Wünsche der japanischen Eltern. Des Weiteren gibt es auch Abweichungen bei der Darstellung von Sexualität. Ausdrücke wie „Kuss“ oder „im selben Zimmer schlafen“ wurden ebenfalls in weniger verfängliche Worte umgeschrieben, um dem Verlagsgesetz von 1893 zu entsprechen. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt die Darstellung des japanischen Familienlebens, welche von der konfuzianischen Lehre beherrscht wurde und auf Ordnung im Staat und der Familie Wert legt. Der Vater ist der Hausherr, steht an der Spitze des Hauses und entscheidet über alles Wichtige. Die Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern ist sehr eng und Grausamkeiten zwischen diesen werden in den japanischen Märchen nicht dargestellt. Des Weiteren unterscheidet sich auch die Heirat, denn in Japan ist dies eine Angelegenheit zwischen zwei bedeutenden Familien. Die Stellung der Familie der zukünftigen Braut entscheidet über die möglichen Heiratsoptionen und so können in einem Märchen nie unbedeutende Mädchen als potenzielle Heiratskandidatinnen für den jungen Adeligen in Frage kommen.

Einfluss aus dem Englischen

Da die japanische Übersetzung Sugas auf einer englischen Übersetzung der deutschen Märchen basiert, ist es nicht verwunderlich, dass in den Geschichten des Öfteren englische Begriffe vorkommen, wie beispielsweise englische Namen (James, Richard, William) oder Bezeichnung für Kleidung (shirts, waistcoat, eveningcoat). Da die japanische Übersetzung mit keinem Wort erwähnt, dass es sich hierbei um Märchen der Gebrüder Grimm handelt, kann auch angenommen werden, dass das Buch englische Märchen enthält. Sugas Ziel war es, den japanischen Kindern exotische Geschichten aus Europa vorzustellen, die aber gleichzeitig moralisch-belehrend waren. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass es dem japanischen Volk egal war, ob es sich nun um deutsche oder englische Märchen handelte, da das Wissen über den Westen zu jener Zeit noch sehr begrenzt war.

Verweise

Literatur

  • David Braun 1885
    Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich 1885.
  • Yoshiko Noguchi 1977
    Rezeption der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in Japan. Marburg: Mauersberger 1977.

Fußnoten

  1. Diese Seite stützt sich auf das Buch Rezeption der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in Japan von Yoshiko Noguchi aus dem Jahr 1977.
  2. Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786–1859) Grimm, Sprachwissenschaftler und Sammler von Märchen

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:

  1. Märchen Japan.jpg
    Grimms Märchen in Japan Buchcover. 19. Jh. (?)
    Bild © Kawaii ehon. (Letzter Zugriff: 2021/8/24)
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