Mythen/Geister/Ubume: Unterschied zwischen den Versionen
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Besonders interessant ist das netzartige Gebilde im Hintergrund von Sekiens Darstellung. Es handelt sich um ein Stück Stoff, das an vier Pfählen knapp über dem Boden beziehungsweise über einem Gewässer aufgespannt ist. Dahinter ist ein hölzerner Grabstupa ({{g|sotoba}}) zu sehen. Es ist dies ein Hinweis auf das Ritual {{g|nagarekanjou}}, wtl. „fließende Begießung“, das in der Edo-Zeit bei ungewöhnlichen Todesfällen wie Mord, Selbstmord oder eben Tod im Kindbett praktiziert wurde. Auf das aufgespannte Tuch wurden buddhistische Sprüche (z.B. {{g|namuamidabutsu}}) geschrieben, doch es ging darum, dass die Schrift durch Flusswasser, Regen oder durch zufällige Passanten (für die mitunter ein Eimer und eine Kelle bereitstanden) weggewaschen wurde. Dies wurde als Zeichen angesehen, dass die besondere Verunreinigung ({{g|kegare}}), die durch den ungewöhnlichen Tod entstanden war, ausgelöscht worden sei.<ref>Ein westlicher Beobachter dokumentierte das Ritual noch in der späten Meiji-Zeit. Hinter dem aufgespannten Tuch war noch eine große Totentafel ({{gb|ihai}}) angebracht, auf der der buddhistische Totennamen der Verstorbenen verzeichnet war (Hartland 1902).</ref> Die Darstellung ritueller Utensilien deutet an, dass die Furcht vor der besonderen Verunreinigung durch Geburt und Tod — beides klassische Auslöser von ''kegare'' — die Inspiration und den religiösen Hintergrund für die Figur der ''ubume'' darstellte. Die Angst vor Verunreinigung schuf sich in den entsprechende Geistervorstellungen einen konkreten Ausdruck, wodurch es mitunter möglich wurde, dass sie parodistisch relativiert werden konnte (s. dazu den Essay {{showTitel|Essays/Horrorklassiker|anf=1}}). | Besonders interessant ist das netzartige Gebilde im Hintergrund von Sekiens Darstellung. Es handelt sich um ein Stück Stoff, das an vier Pfählen knapp über dem Boden beziehungsweise über einem Gewässer aufgespannt ist. Dahinter ist ein hölzerner Grabstupa ({{g|sotoba}}) zu sehen. Es ist dies ein Hinweis auf das Ritual {{g|nagarekanjou}}, wtl. „fließende Begießung“, das in der Edo-Zeit bei ungewöhnlichen Todesfällen wie Mord, Selbstmord oder eben Tod im Kindbett praktiziert wurde. Auf das aufgespannte Tuch wurden buddhistische Sprüche (z.B. {{g|namuamidabutsu}}) geschrieben, doch es ging darum, dass die Schrift durch Flusswasser, Regen oder durch zufällige Passanten (für die mitunter ein Eimer und eine Kelle bereitstanden) weggewaschen wurde. Dies wurde als Zeichen angesehen, dass die besondere Verunreinigung ({{g|kegare}}), die durch den ungewöhnlichen Tod entstanden war, ausgelöscht worden sei.<ref>Ein westlicher Beobachter dokumentierte das Ritual noch in der späten Meiji-Zeit. Hinter dem aufgespannten Tuch war noch eine große Totentafel ({{gb|ihai}}) angebracht, auf der der buddhistische Totennamen der Verstorbenen verzeichnet war (Hartland 1902).</ref> Die Darstellung ritueller Utensilien deutet an, dass die Furcht vor der besonderen Verunreinigung durch Geburt und Tod — beides klassische Auslöser von ''kegare'' — die Inspiration und den religiösen Hintergrund für die Figur der ''ubume'' darstellte. Die Angst vor Verunreinigung schuf sich in den entsprechende Geistervorstellungen einen konkreten Ausdruck, wodurch es mitunter möglich wurde, dass sie parodistisch relativiert werden konnte (s. dazu den Essay {{showTitel|Essays/Horrorklassiker|anf=1}}). |
Version vom 8. November 2021, 22:11 Uhr
Achtung: Sie sehen eine veraltete Version von https://religion-in-japan.univie.ac.at/Handbuch/Mythen/Geister/Ubume.
Frauen, die im Kindbett starben, verursachten in alter Zeit besondere Ängste angesichts des doppelten Todes von Mutter und Kind. Diese Ängste bezogen sich auf mögliche Rachegedanken solch unglücklicher Verstorbener und manifestierten sich in einer besonderen Form von Fabelwesen namens ubume [ubume (jap.) 産女 weiblicher Totengeist (yūrei); Geist einer im Kindbett verstorbenen Mutter], wtl. Geburtsfrau. Ubume sind typisch für Totengeister (yūrei [yūrei (jap.) 幽霊 Totengeist]), die trotz oder gerade wegen ihres unglücklichen Schicksals auf Erden zu unberechenbaren, oft rachedurstigen Bewohnern der unsichtbaren Welt mutieren.1
Gestalt und Kontext
Werk von Toriyama Sekien. Edo-Zeit. British Museum.
Die spezifische Gestalt der ubume ist — wie viele andere Wesen des yōkai [yōkai (jap.) 妖怪 Fabelwesen, Geisterwesen, Gespenster]-Pantheons — unter anderem in einer Gespenster-Enzyklopädie des Gelehrten und Malers Toriyama Sekien [Toriyama Sekien (jap.) 鳥山石燕 1712–1788; Künstler und Gelehrter; vor allem bekannt für seine illustrierten Gespenster-Enzyklopädien] (Gazu hyakki yagyō [Gazu hyakki yagyō (jap.) 画図百鬼夜行 „Illustrierte Nacht-Parade der hundert Geister“; Bild-Enzyklopädie von Toriyama Sekien, 1776], 1776) graphisch fixiert worden. Man sieht die verzweifelt unherirrende Gestalt einer Frau, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet ein Baby schützend zur Brust hält. Da keine Füße zu sehen sind und die Gestalt knapp über dem Boden zu schweben scheint, ist klar: es handelt sich um einen Geist. Der Lendenschurz ist in farbigen Abbildungen häufig rot befleckt und enthält somit einen Hinweis auf Geburt (Blut) und Tod (weißes Totengewand). 2
Besonders interessant ist das netzartige Gebilde im Hintergrund von Sekiens Darstellung. Es handelt sich um ein Stück Stoff, das an vier Pfählen knapp über dem Boden beziehungsweise über einem Gewässer aufgespannt ist. Dahinter ist ein hölzerner Grabstupa (sotoba [sotoba (jap.) 卒塔婆 hölzerne Grabbeigabe; abgeleitet von skt. stupa, aus dem sich auch die sino-japanische „Pagode“ (tō) entwickelte]) zu sehen. Es ist dies ein Hinweis auf das Ritual nagare kanjō [nagare kanjō (jap.) 流灌頂 wtl. „fließende Übergießung“; Reinigungsritus; Ritus zur Entfernung von Todesbefleckung durch fließendes Wasser], wtl. „fließende Begießung“, das in der Edo-Zeit bei ungewöhnlichen Todesfällen wie Mord, Selbstmord oder eben Tod im Kindbett praktiziert wurde. Auf das aufgespannte Tuch wurden buddhistische Sprüche (z.B. namu amida butsu [namu amida butsu (jap.) 南無阿弥陀仏 in etwa: „Gelobt sei Buddha Amida“; Gebetsformel im Buddhismus des Reinen Landes]) geschrieben, doch es ging darum, dass die Schrift durch Flusswasser, Regen oder durch zufällige Passanten (für die mitunter ein Eimer und eine Kelle bereitstanden) weggewaschen wurde. Dies wurde als Zeichen angesehen, dass die besondere Verunreinigung (kegare [kegare (jap.) 穢れ rituelle Verunreinigung, Befleckung, Schande]), die durch den ungewöhnlichen Tod entstanden war, ausgelöscht worden sei.3 Die Darstellung ritueller Utensilien deutet an, dass die Furcht vor der besonderen Verunreinigung durch Geburt und Tod — beides klassische Auslöser von kegare — die Inspiration und den religiösen Hintergrund für die Figur der ubume darstellte. Die Angst vor Verunreinigung schuf sich in den entsprechende Geistervorstellungen einen konkreten Ausdruck, wodurch es mitunter möglich wurde, dass sie parodistisch relativiert werden konnte (s. dazu den Essay „Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit“).
Allerdings waren ubume vor der Edo-Zeit wahrscheinlich noch nicht landesweit bekannt. Lediglich in Kyūshū erzählte man sich, dass die ubume nächtliche Reisende bat, ihr das Kind abzunehmen. Wenn man das verweigerte und floh, würde man mit Flüchen und Krankheiten bestraft werden, wenn man aber mutig das Kind übernahm, würde sich dieses kurz darauf in Luft auflösen.4 In dieser Legende ist ein ähnliches Moment zu erkennen wie auf den meisten Darstellungen der ubume: Verzweiflung kann leicht in Raserei umschlagen.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit. British Museum.
Chinesische Vorlagen
In China ist schon seit dem fünften Jahrhundert ein mit der ubume verwandtes Geisterwesen namens guhuo niao [guhuo niao (chin.) 姑獲鳥 wtl. Vogel der stehlenden Schwiegermutter; chin. Geisterwesen; jap. ubume] (wtl. Vogel der stehlenden Stiefmutter) dokumentiert, welches sowohl als Vogel als auch Frau erscheinen kann. Das naturgeschichtliche Lexikon Bencao gangmu [Bencao gangmu (chin.) 本草綱目 „Kompendium von [medizinischen] Pflanzen“; chin. naturwissenschaftl. Enzyklopädie von Li Shizhen, 1578; jap. Honzō kōmoku] (Verzeichnis von [medizinischen] Pflanzen, jap. Honzō kōmoku) aus dem Jahr 1578 erklärt, dass es sich um die verwandelte Seele einer im Kindbett verstorbenen Frau handelt. Stets auf der Suche nach Kindern, die es eigentlich selbst aufziehen möchte, kann dieses Wesen auch zum Verursacher von Kinderkrankheiten werden.5 In Japan wurde der guhuo niao-Vogel durch den konfuzianischen Gelehrten Hayashi Razan [Hayashi Razan (jap.) 林羅山 1583–1657; neo-konfuzianischer Gelehrter] mit der getrennt davon existierenden Vorstellung der ubume identifiziert. Andere Autoren schlossen sich diesem Gedanken an, sodass sich der chinesische Gespenstervogel als alternative Schreibung einbürgerte und einige der nun auch in Japan aufkommenden Bildenzyklopädien die ubume in Vogelform darstellten.
Künstler und Gelehrte der Edo-Zeit zogen von da an sowohl japanische als auch chinesische Quellen zur spezifischen Ausgestaltung des ubume yōkai heran. Vereinzelt finden sich auch Mischformen von Frau und Vogel, quasi weibliche Pendants der vogelartigen tengu [tengu (jap.) 天狗 wtl. Himmelshund; vogelartiger oder geflügelter Kobold, meist in den Bergen].
Verweise
Verwandte Themen
Fußnoten
- ↑ Die vorliegende Seite beruht in erster Linie auf einem Artikel von Yasui Manami (2020), Professorin am renommierten Nichibunken (International Research Center for Japanese Studies) in Kyōto, einem Zentrum der yōkai-Forschung.
- ↑ Eine Edo-zeitliche Gespenster-Enzyklopädie beruft sich auf eine Vorlage von Kanō Motonobu (1476–1559), diese ist jedoch nicht mehr erhalten.
- ↑ Ein westlicher Beobachter dokumentierte das Ritual noch in der späten Meiji-Zeit. Hinter dem aufgespannten Tuch war noch eine große Totentafel (ihai) angebracht, auf der der buddhistische Totennamen der Verstorbenen verzeichnet war (Hartland 1902).
- ↑ Aus der Enzyklopädie Wakan sansai zue (1712), nach Yasui 2020, S. 102.
- ↑ Yasui 2020, S. 100.
Literatur
Bilder
- ^ Geist einer verstorbenen Mutter (ubume) in einer Edo-zeitlichen Gespenster-Enzyklopädie von Toriyama Sekien.
Werk von Toriyama Sekien. Edo-Zeit. British Museum.
- ^ Der Held Urabe no Suetake wird vom Totengeist einer im Kindbett verstorbenen Frau (ubume) gebeten, ihr Kind zu halten. Illustration einer Legende aus dem Konjaku monogatari.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit. British Museum.
Glossar
- Bencao gangmu (chin.) 本草綱目 ^ „Kompendium von [medizinischen] Pflanzen“; chin. naturwissenschaftl. Enzyklopädie von Li Shizhen, 1578; jap. Honzō kōmoku
- chi no ike 血の池 ^ Blutsee; für Frauen vorbehaltener Bereich der buddhistischen Hölle
- Gazu hyakki yagyō 画図百鬼夜行 ^ „Illustrierte Nacht-Parade der hundert Geister“; Bild-Enzyklopädie von Toriyama Sekien, 1776
- Hayashi Razan 林羅山 ^ 1583–1657; neo-konfuzianischer Gelehrter
- Konjaku monogatari 今昔物語 ^ „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext
- Minamoto no Yorimitsu 源頼光 ^ 948–1021, auch Minamoto Raikō; Krieger aus der Dynastie der Minamoto; zusammen mit seinen vier Vasallen, die auch als Shi-Tennō bezeichnet werden, ist er Held zahlreicher Legenden
- nagare kanjō 流灌頂 ^ wtl. „fließende Übergießung“; Reinigungsritus; Ritus zur Entfernung von Todesbefleckung durch fließendes Wasser
- namu amida butsu 南無阿弥陀仏 ^ in etwa: „Gelobt sei Buddha Amida“; Gebetsformel im Buddhismus des Reinen Landes
- namu myōhō renge kyō 南無妙法蓮華経 ^ „Lobpreis dem Lotos Sutra“; Gebetsformel des Nichiren Buddhismus
- Toriyama Sekien 鳥山石燕 ^ 1712–1788; Künstler und Gelehrter; vor allem bekannt für seine illustrierten Gespenster-Enzyklopädien
- Urabe no Suetake 卜部季武 ^ 950?–1022; Heian-zeitlicher Krieger (Vasall des Minamoto no Yorimitsu) und Held zahlreicher Legenden
- Wakan sansai zue 和漢三才図会 ^ „Illustrierte [Enzyklopädie] der Drei Sphären [= Himmel, Erde, Mensch] in China und Japan“ von Terajima Ryōan, 1712; basiert auf dem chinesischen Sancai tuhui