Mythen/Daemonen/Beule: Unterschied zwischen den Versionen

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{{fl|A}}ussehen und Verhalten der japani·schen Dämonen ({{g|oni}}) finden sich in einem alten Mär·chen be·schrie·ben, das heute unter dem Titel {{g|Kobutorijiisan}} („Der Alte, dem die Beule ge·nom·men wurde“)  in Japan weit·hin be·kannt ist. Auch im Westen fand die Geschichte bereits Ende des 19. Jahr·hun·derts unter dem Namen „The Old Man and the Devils“ Verbreitung. Die fol·gende Fas·sung ist eine Über·setzung der ältes·ten be·kann·ten Ver·sion aus  dem {{g|Ujishuuimonogatari}} (13. Jahr·hun·dert).<!--
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Aussehen und Verhalten der japanischen Dämonen ({{g|oni}}) finden sich in einem alten Märchen beschrieben, das heute unter dem Titel {{g|Kobutorijiisan}} („Der Alte, dem die Beule genommen wurde“)  in Japan weithin bekannt ist. Auch im Westen fand die Geschichte bereits Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Namen „The Old Man and the Devils“ Verbreitung.<!--
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''Uji shūi monogatari'', Band 1, Erzählung 3. Das ''Uji shūi monogatari'' („Ausgewählte Erzählungen [des Dainagon] von Uji“) wurde auch ins Englische (D. E. Mills, 1970) und Französi·sche (René Sieffert, 1986) übersetzt. Das Märchen selbst wurde in einer verein·fachten Version erstmals 1886 von {{gb|Hepburnjamescurtis}} ins Englische übertragen und von {{gb|Kobayashieitaku}} illustriert (s. dazu auch Guth 2008).
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Es war einmal ein alter Mann, der hatte an der rechten Backe eine Beule, so groß wie eine reife Mandarine. Daher mied er den Umgang mit Menschen. Um sein Auskommen zu finden ging er in die Berge und sammelte Brennholz. Einmal zog ein Unwetter auf, sodass er nicht heimkehren konnte und die Nacht wohl oder übel in den Bergen zubringen musste. Kein anderer Holzsammler war zugegen und der Alte bekam große Angst. So kroch er in einen hohlen Baum und blieb dort geduckt sitzen, ohne ein Auge zu zu tun. Da hörte er plötzlich Stimmen von vielen Menschen, die von weit her näher kamen. Erleichtert seufzte er auf, denn nun war er nicht mehr ganz allein in den Bergen. Doch als er aus seinem Versteck hervor lugte, sah er Geister<!--
Es war einmal ein alter Mann, der hatte an der rechten Backe eine Beule, so groß wie eine reife Mandarine. Daher mied er den Umgang mit Menschen. Um sein Aus·kommen zu finden ging er in die Berge und sammelte Brenn·holz. Einmal zog ein Un·wetter auf, sodass er nicht heim·kehren konnte und die Nacht wohl oder übel in den Bergen zubringen musste. Kein anderer Holz·sammler war zugegen und der Alte bekam große Angst. So kroch er in einen hohlen Baum und blieb dort geduckt sitzen, ohne ein Auge zu zu tun. Da hörte er plötz·lich Stimmen von vielen Menschen, die von weit her näher kamen. Er·leich·tert seufzte er auf, denn nun war er nicht mehr ganz allein in den Bergen. Doch als er aus seinem Versteck hervor lugte, sah er Geister<!--
 
 
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''Monodomo''. ''Mono'' wird hier in der alten Bedeutung von „Geist“, „Gespenst“ verwendet. Vgl. ''mono no ke''.
 
''Monodomo''. ''Mono'' wird hier in der alten Bedeutung von „Geist“, „Gespenst“ verwendet. Vgl. ''mono no ke''.
 
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-->aller Arten und Formen: Die einen waren rot und hatten blaue Sachen an, die anderen waren schwarz und hatten rotes Tuch als Lendenschurz umgebunden. Manche hatten nur ein Auge, andere keinen Mund, wieder andere ließen sich mit Worten gar nicht beschreiben. Als sich etwa hundert solcher Wesen versammelt hatten, entfachten sie ein Feuer so hell wie die Sonne, gerade vor dem Baum unseres Alten, und setzten sich im Kreis darum herum. Es war schier unglaublich.   
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Ein Oni, der der Anführer zu sein schien, übernahm den Vor·sitz. Links und rechts von ihm setzten sich unzählige weitere Oni der Reihe nach nieder. Jeder einzelne von ihnen war von unbe·schreib·lichem Aussehen, doch wie sie {{g|Sake}} tranken und sich ver·gnüg·ten entsprach ganz der Welt der Menschen. Flasche um Flasche wurde geöffnet und der Anführer der Oni  hatte bereits einen gehörigen Rausch. Da stand ein junger Oni am Ende der einen Reihe auf, hielt einen Teller hoch, näherte sich unter unver·ständ·lichem Gestammel dem Ehrensitz und voll·führte dabei die tollsten Verren·kungen. Der Anführer hob den Becher mit der Linken und lehnte sich lachend zurück, ganz so wie es die Menschen tun. Der junge Oni begann zu tanzen. Auch andere Oni kamen einer nach dem anderen vom unteren Ende der Reihe tanzend heran. Manche tanzten gut, andere schlecht. Der Alte aber traute seinen Augen kaum. Da hörte  er den Anführer sagen: „Eure Tänze heute Nacht sind wie immer ausge·zeichnet. Doch wie wär's, wenn ihr mir etwas ganz Beson·deres bieten würdet?“ Bei diesen Worten spürte der Alte — ergriff ein Geist von ihm Besitz oder lenkten Götter und {{s|Buddha}}s seine Gedanken?  — ein Verlangen, hinaus·zu·laufen und selbst zu tanzen, doch er besann sich sogleich eines Besseren. Als die Oni aber begannen, Musik zu machen, die immer lauter an sein Ohr drang, da dachte er bei sich: „Was immer geschieht, ich muss hinaus und tanzen, koste es auch mein Leben.“ Die Kappe<!--
 
 
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-->bis zur Nase ins Gesicht geschoben, die Axt am Gürtel baumelnd, stürzte er aus seinem hohlen Baum und tanzte vor den Anführer. Die Oni sprangen alle auf und riefen: „Wer ist das?“ Doch der Alte reckte sich und krümmte sich im Tanz, drehte sich, wendete sich, stieß betrunkene Laute aus und tanzte rund um ihren Kreis herum.<!--
 
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Der·artige Tänze scheinen in alter Zeit beliebt gewesen zu sein. Auch im {{gb|Tsurezuregusa}} werden alte Mönche, die sich auf die Dar·bietung grotesker Tänze spezialisieren, (tadelnd) erwähnt.
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Derartige Tänze scheinen in alter Zeit beliebt gewesen zu sein. Auch im {{gb|Tsurezuregusa}} werden alte Mönche, die sich auf die Darbietung grotesker Tänze spezialisieren, (tadelnd) erwähnt.
 
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-->Die Oni aber waren, von ihrem Anführer angefangen, hellauf begeistert.
  
Da ergriff der Anführer das Wort und sagte: „Seit vielen Jahren ver·an·stalten wir nun solche Feiern, doch so etwas hat es noch nie gegeben. Von jetzt an, Alter, musst du immer bei unseren Festen dabei sein.“ Darauf erwiderte der Alte: „Selbst·ver·ständ·lich werde ich wieder kommen. Diesmal habe ich in der Eile die letzten Schritte ver·gessen, doch wenn Ihr sie sehen wollt, so werde ich mich in Ruhe darauf vorbereiten.“ — „Wohl gesprochen,“ ent·gegnete der Anführer, „komm nur auf jeden Fall wieder.“ Doch ein Oni, der als dritter neben ihm saß, meinte: „Es könnte wohl sein, dass der Alte nicht hält, was er verspricht. Wir sollten ein Pfand von ihm nehmen.“ — „So sei es,“  sagte der Anführer, „doch was wollen wir als Pfand nehmen?“ Darauf brachte jeder einen Vor·schlag, bis der Anführer meinte: „Wir sollten die Beule behalten, die dem Alten herunter·hängt. So eine Beule bringt Glück, sie wird ihm fehlen.“ Der Alte aber rief: „Nehmt mir die Augen, nehmt mir die Nase, aber lasst mir meine Beule! Es wäre zu schreck·lich sie zu verlieren, wo ich sie doch schon so viele Jahre besitze.“ Worauf der Anführer sagte: „So wert·voll ist sie für dich? Dann werden wir sie uns erst recht behalten.“ Ein anderer Oni trat vor, sagte „her damit,“ und drehte und zog an der Beule, ohne dass der Alte einen Schmerz spürte. Es dämmerte und die Vögel stimmten bereits ihren Gesang an, als die Oni den Alten mahnten, nur ja das nächste Mal wieder·zukom·men und heim·kehrten. Der Alte aber betas·tete sein Gesicht: Von der Beule, die so lange dort geses·sen hatte, fehlte jede Spur, sie war wie weg·ge·wischt. Da dachte er nicht weiter daran, Brennholz zu hacken und kehrte nach Hause zurück. „Was ist geschehen?“ fragte ihn seine Alte, worauf er ihr alles erzählte. „Ein Wunder!“ meinte sie.
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Da ergriff der Anführer das Wort und sagte: „Seit vielen Jahren veranstalten wir nun solche Feiern, doch so etwas hat es noch nie gegeben. Von jetzt an, Alter, musst du immer bei unseren Festen dabei sein.“ Darauf erwiderte der Alte: „Selbstverständlich werde ich wieder kommen. Diesmal habe ich in der Eile die letzten Schritte vergessen, doch wenn Ihr sie sehen wollt, so werde ich mich in Ruhe darauf vorbereiten.“ — „Wohl gesprochen,“ entgegnete der Anführer, „komm nur auf jeden Fall wieder.“ Doch ein Oni, der als dritter neben ihm saß, meinte: „Es könnte wohl sein, dass der Alte nicht hält, was er verspricht. Wir sollten ein Pfand von ihm nehmen.“ — „So sei es,“  sagte der Anführer, „doch was wollen wir als Pfand nehmen?“ Darauf brachte jeder einen Vorschlag, bis der Anführer meinte: „Wir sollten die Beule behalten, die dem Alten herunterhängt. So eine Beule bringt Glück, sie wird ihm fehlen.“ Der Alte aber rief: „Nehmt mir die Augen, nehmt mir die Nase, aber lasst mir meine Beule! Es wäre zu schrecklich sie zu verlieren, wo ich sie doch schon so viele Jahre besitze.“ Worauf der Anführer sagte: „So wertvoll ist sie für dich? Dann werden wir sie uns erst recht behalten.“ Ein anderer Oni trat vor, sagte „her damit,“ und drehte und zog an der Beule, ohne dass der Alte einen Schmerz spürte. Es dämmerte und die Vögel stimmten bereits ihren Gesang an, als die Oni den Alten mahnten, nur ja das nächste Mal wiederzukommen und heimkehrten. Der Alte aber betastete sein Gesicht: Von der Beule, die so lange dort gesessen hatte, fehlte jede Spur, sie war wie weggewischt. Da dachte er nicht weiter daran, Brennholz zu hacken und kehrte nach Hause zurück. „Was ist geschehen?“ fragte ihn seine Alte, worauf er ihr alles erzählte. „Ein Wunder!“ meinte sie.
 
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In der Nachbarschaft aber gab es einen anderen Alten, der hatte eine große Beule an der linken Backe. Als er sah, dass unser Alter keine Beule mehr hatte, sagte er: „Was habt Ihr angestellt, um Eure Beule loszuwerden? Gibt es irgendwo einen Arzt? Ihr müsst es mir sagen! Ich möchte meine Beule auch loswerden.“ — „Das war kein Arzt. Die Oni haben mir die Beule weggenommen.“ — „Dann sollen sie auch meine Beule entfernen.“ Und so erfragte er im einzelnen, wie sich alles zugetragen hatte.   
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In der Nach·bar·schaft aber gab es einen anderen Alten, der hatte eine große Beule an der linken Backe. Als er sah, dass unser Alter keine Beule mehr hatte, sagte er: „Was habt Ihr angestellt, um Eure Beule los·zu·werden? Gibt es irgend·wo einen Arzt? Ihr müsst es mir sagen! Ich möchte meine Beule auch los·werden.“ — „Das war kein Arzt. Die Oni haben mir die Beule weg·ge·nom·men.“ — „Dann sollen sie auch meine Beule ent·fernen.“ Und so erfragte er im ein·zel·nen, wie sich alles zuge·tragen hatte.   
 
  
Nun begab sich der andere Alte, getreu den Worten des ersten, zu jenem hohlen Baum und wartete. Und wirklich kamen die Oni, wie er es ver·nom·men hatte, setzten sich in einen Kreis und unter·hielten sich beim Sake. Als nun einer fragte, ob der Alte wohl auch kommen würde, trat der andere Alte schlot·ternd vor Angst aus seinem Versteck hervor. „Da ist ja der Alte!“ riefen die Oni und der Anführer befahl: „Komm her und tanz mir was vor.“ Es fehlte ihm aber das Talent des ersten Alten und er bot eine so klägliche Vor·stel·lung, dass der Anführer sagte: „Diesmal hast du schlecht getanzt. Schlecht, schlecht und noch einmal schlecht. Gebt ihm die Beule zurück, die wir als Pfand be·halten haben.“ Da kam ein Oni vom unteren Ende der Reihe zu ihm, sagte: „Da hast du dein Pfand zurück,“ und klatschte ihm die Beule an die andere Backe. So hatte dieser Alte nun zwei Beulen in seinem Gesicht.   
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Nun begab sich der andere Alte, getreu den Worten des ersten, zu jenem hohlen Baum und wartete. Und wirklich kamen die Oni, wie er es vernommen hatte, setzten sich in einen Kreis und unterhielten sich beim Sake. Als nun einer fragte, ob der Alte wohl auch kommen würde, trat der andere Alte schlotternd vor Angst aus seinem Versteck hervor. „Da ist ja der Alte!“ riefen die Oni und der Anführer befahl: „Komm her und tanz mir was vor.“ Es fehlte ihm aber das Talent des ersten Alten und er bot eine so klägliche Vorstellung, dass der Anführer sagte: „Diesmal hast du schlecht getanzt. Schlecht, schlecht und noch einmal schlecht. Gebt ihm die Beule zurück, die wir als Pfand behalten haben.“ Da kam ein Oni vom unteren Ende der Reihe zu ihm, sagte: „Da hast du dein Pfand zurück,“ und klatschte ihm die Beule an die andere Backe. So hatte dieser Alte nun zwei Beulen in seinem Gesicht.   
 
Heißt es nicht, man soll nicht neidisch sein?
 
Heißt es nicht, man soll nicht neidisch sein?
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Übersetzung Bernhard Scheid, 2011. <br/>
 
Originaltextausgabe: Watanabe Tsunaya, Nishio Kōichi (Hg.), ''Uji shūi monogatari'' (Nihon koten bungaku taikei 27). Tokyo: Iwanami Shoten, 1960. 
 
 
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Originaltextausgabe: Watanabe Tsunaya, Nishio Kōichi (Hg.), ''Uji shūi monogatari'' (Nihon koten bungaku taikei 27). Tokyo: Iwanami Shoten, 1960. Englische Fassung D. E. Mills, 1970, französische Fassung René Sieffert, 1986.</ref> Übersetzung Bernhard Scheid </small></p>
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*[http://www2s.biglobe.ne.jp/~Taiju/1212_ujishui_01.htm Ujishūi online]
 
*[http://www2s.biglobe.ne.jp/~Taiju/1212_ujishui_01.htm Ujishūi online]

Aktuelle Version vom 31. August 2024, 17:24 Uhr

Der Alte und die Dämonen

Aussehen und Verhalten der japanischen Dämonen (oni [oni (jap.) Dämon, „Teufel“; in sino-japanischer Aussprache (ki) ein allgemeiner Ausdruck für Geister]) finden sich in einem alten Märchen beschrieben, das heute unter dem Titel Kobutori jīsan [Kobutori jīsan (jap.) 瘤取り爺さん „Der Alte, dem die Beule genommen wurde“; Märchen aus dem 13. Jh.] („Der Alte, dem die Beule genommen wurde“) in Japan weithin bekannt ist. Auch im Westen fand die Geschichte bereits Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Namen „The Old Man and the Devils“ Verbreitung.1 Die folgende Fassung ist eine Übersetzung der ältesten bekannten Version aus dem Uji shūi monogatari [Uji shūi monogatari (jap.) 宇治拾遺物語 „Geschichtenauslese [des Ratsherren] von Uji“ (13. Jh.); Sammlung von unterhaltsamen Geschichten und Anekdoten, viele aus dem Konjaku monogatari] (13. Jahrhundert). Hier wird der Schilderung der Oni ganz besondere Aufmerksamkeit zuteil.

Wie die Oni eine Beule entfernten

Kobutori2.jpg
1
Der Held des Märchens mit einer großen Beule an der Backe. Erste englischen Version des Märchens „The old man and the devils“ (Kobutori jīsan).
Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1889. Open Library.

Es war einmal ein alter Mann, der hatte an der rechten Backe eine Beule, so groß wie eine reife Mandarine. Daher mied er den Umgang mit Menschen. Um sein Auskommen zu finden ging er in die Berge und sammelte Brennholz. Einmal zog ein Unwetter auf, sodass er nicht heimkehren konnte und die Nacht wohl oder übel in den Bergen zubringen musste. Kein anderer Holzsammler war zugegen und der Alte bekam große Angst. So kroch er in einen hohlen Baum und blieb dort geduckt sitzen, ohne ein Auge zu zu tun. Da hörte er plötzlich Stimmen von vielen Menschen, die von weit her näher kamen. Erleichtert seufzte er auf, denn nun war er nicht mehr ganz allein in den Bergen. Doch als er aus seinem Versteck hervor lugte, sah er Geister2 aller Arten und Formen: Die einen waren rot und hatten blaue Sachen an, die anderen waren schwarz und hatten rotes Tuch als Lendenschurz umgebunden. Manche hatten nur ein Auge, andere keinen Mund, wieder andere ließen sich mit Worten gar nicht beschreiben. Als sich etwa hundert solcher Wesen versammelt hatten, entfachten sie ein Feuer so hell wie die Sonne, gerade vor dem Baum unseres Alten, und setzten sich im Kreis darum herum. Es war schier unglaublich.

Kobutori3.jpg
2
Ein oni als Anführer, und hinter ihm weitere Oni in einer langen Reihe.
Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1889. The British Museum.

Ein Oni, der der Anführer zu sein schien, übernahm den Vorsitz. Links und rechts von ihm setzten sich unzählige weitere Oni der Reihe nach nieder. Jeder einzelne von ihnen war von unbeschreiblichem Aussehen, doch wie sie Sake tranken und sich vergnügten entsprach ganz der Welt der Menschen. Flasche um Flasche wurde geöffnet und der Anführer der Oni hatte bereits einen gehörigen Rausch. Da stand ein junger Oni am Ende der einen Reihe auf, hielt einen Teller hoch, näherte sich unter unverständlichem Gestammel dem Ehrensitz und vollführte dabei die tollsten Verrenkungen. Der Anführer hob den Becher mit der Linken und lehnte sich lachend zurück, ganz so wie es die Menschen tun. Der junge Oni begann zu tanzen. Auch andere Oni kamen einer nach dem anderen vom unteren Ende der Reihe tanzend heran. Manche tanzten gut, andere schlecht. Der Alte aber traute seinen Augen kaum. Da hörte er den Anführer sagen: „Eure Tänze heute Nacht sind wie immer ausgezeichnet. Doch wie wär's, wenn ihr mir etwas ganz Besonderes bieten würdet?“ Bei diesen Worten spürte der Alte — ergriff ein Geist von ihm Besitz oder lenkten Götter und Buddhas seine Gedanken? — ein Verlangen, hinauszulaufen und selbst zu tanzen, doch er besann sich sogleich eines Besseren. Als die Oni aber begannen, Musik zu machen, die immer lauter an sein Ohr drang, da dachte er bei sich: „Was immer geschieht, ich muss hinaus und tanzen, koste es auch mein Leben.“ Die Kappe3 bis zur Nase ins Gesicht geschoben, die Axt am Gürtel baumelnd, stürzte er aus seinem hohlen Baum und tanzte vor den Anführer. Die Oni sprangen alle auf und riefen: „Wer ist das?“ Doch der Alte reckte sich und krümmte sich im Tanz, drehte sich, wendete sich, stieß betrunkene Laute aus und tanzte rund um ihren Kreis herum.4 Die Oni aber waren, von ihrem Anführer angefangen, hellauf begeistert.

Da ergriff der Anführer das Wort und sagte: „Seit vielen Jahren veranstalten wir nun solche Feiern, doch so etwas hat es noch nie gegeben. Von jetzt an, Alter, musst du immer bei unseren Festen dabei sein.“ Darauf erwiderte der Alte: „Selbstverständlich werde ich wieder kommen. Diesmal habe ich in der Eile die letzten Schritte vergessen, doch wenn Ihr sie sehen wollt, so werde ich mich in Ruhe darauf vorbereiten.“ — „Wohl gesprochen,“ entgegnete der Anführer, „komm nur auf jeden Fall wieder.“ Doch ein Oni, der als dritter neben ihm saß, meinte: „Es könnte wohl sein, dass der Alte nicht hält, was er verspricht. Wir sollten ein Pfand von ihm nehmen.“ — „So sei es,“ sagte der Anführer, „doch was wollen wir als Pfand nehmen?“ Darauf brachte jeder einen Vorschlag, bis der Anführer meinte: „Wir sollten die Beule behalten, die dem Alten herunterhängt. So eine Beule bringt Glück, sie wird ihm fehlen.“ Der Alte aber rief: „Nehmt mir die Augen, nehmt mir die Nase, aber lasst mir meine Beule! Es wäre zu schrecklich sie zu verlieren, wo ich sie doch schon so viele Jahre besitze.“ Worauf der Anführer sagte: „So wertvoll ist sie für dich? Dann werden wir sie uns erst recht behalten.“ Ein anderer Oni trat vor, sagte „her damit,“ und drehte und zog an der Beule, ohne dass der Alte einen Schmerz spürte. Es dämmerte und die Vögel stimmten bereits ihren Gesang an, als die Oni den Alten mahnten, nur ja das nächste Mal wiederzukommen und heimkehrten. Der Alte aber betastete sein Gesicht: Von der Beule, die so lange dort gesessen hatte, fehlte jede Spur, sie war wie weggewischt. Da dachte er nicht weiter daran, Brennholz zu hacken und kehrte nach Hause zurück. „Was ist geschehen?“ fragte ihn seine Alte, worauf er ihr alles erzählte. „Ein Wunder!“ meinte sie.

Kobutori4.jpg
3
Die oni nehmen die Beule des Alten als Pfand (Szene aus Kobutori jīsan).
Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1889. The British Museum.

In der Nachbarschaft aber gab es einen anderen Alten, der hatte eine große Beule an der linken Backe. Als er sah, dass unser Alter keine Beule mehr hatte, sagte er: „Was habt Ihr angestellt, um Eure Beule loszuwerden? Gibt es irgendwo einen Arzt? Ihr müsst es mir sagen! Ich möchte meine Beule auch loswerden.“ — „Das war kein Arzt. Die Oni haben mir die Beule weggenommen.“ — „Dann sollen sie auch meine Beule entfernen.“ Und so erfragte er im einzelnen, wie sich alles zugetragen hatte.

Nun begab sich der andere Alte, getreu den Worten des ersten, zu jenem hohlen Baum und wartete. Und wirklich kamen die Oni, wie er es vernommen hatte, setzten sich in einen Kreis und unterhielten sich beim Sake. Als nun einer fragte, ob der Alte wohl auch kommen würde, trat der andere Alte schlotternd vor Angst aus seinem Versteck hervor. „Da ist ja der Alte!“ riefen die Oni und der Anführer befahl: „Komm her und tanz mir was vor.“ Es fehlte ihm aber das Talent des ersten Alten und er bot eine so klägliche Vorstellung, dass der Anführer sagte: „Diesmal hast du schlecht getanzt. Schlecht, schlecht und noch einmal schlecht. Gebt ihm die Beule zurück, die wir als Pfand behalten haben.“ Da kam ein Oni vom unteren Ende der Reihe zu ihm, sagte: „Da hast du dein Pfand zurück,“ und klatschte ihm die Beule an die andere Backe. So hatte dieser Alte nun zwei Beulen in seinem Gesicht. Heißt es nicht, man soll nicht neidisch sein?

Uji shūi monogatari, Band 1, Erzählung 3,5 Übersetzung Bernhard Scheid


Die Bilder entstammen einer englischsprachigen Nacherzählung des Märchens aus dem Jahr 1886 durch den britischen Missionar James Curtis Hepburn [Hepburn, James Curtis (west.) 1815–1911; amerikanischer Missionar und Pionier der Japanforschung; entwickelte die heute noch gebräuchliche Hepburn-Umschrift des Japanischen] illustriert von Kobayashi Eitaku [Kobayashi Eitaku (jap.) 小林永濯 1843–1890; Meiji-zeitlicher Maler; auch Sensai Eitaku].

Kobutori.jpg
4
Erste englische Version des Märchens „The old man and the devils“ (Kobutori jīsan).
Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1886. The British Museum.

Verweise

Fußnoten

  1. Das Märchen wurde erstmals 1886 von James Curtis Hepburn ins Englische übertragen und von Kobayashi Eitaku illustriert (s. dazu auch Guth 2008).
  2. Monodomo. Mono wird hier in der alten Bedeutung von „Geist“, „Gespenst“ verwendet. Vgl. mono no ke.
  3. eboshi, traditionelle Kopfbedeckung aus schwarzem Papier.
  4. Derartige Tänze scheinen in alter Zeit beliebt gewesen zu sein. Auch im Tsurezuregusa werden alte Mönche, die sich auf die Darbietung grotesker Tänze spezialisieren, (tadelnd) erwähnt.
  5. Originaltextausgabe: Watanabe Tsunaya, Nishio Kōichi (Hg.), Uji shūi monogatari (Nihon koten bungaku taikei 27). Tokyo: Iwanami Shoten, 1960. Englische Fassung D. E. Mills, 1970, französische Fassung René Sieffert, 1986.

Internetquellen

Siehe auch Internetquellen

  • Ujishūi online
  • The Old Man and the Devils 1. Übertragung ins Englische durch James Hepburn, illustriert von Kobayashi Eitaku, herausgegeben von Hasegawa Takejirō als Band 7 der Reihe Japanese Fairy Tales für den Verlag Kōbunsha. Mehrere Ausgaben ab 1886.
  • The Old Man and the Devils 1. Übertragung ins Englische, Ausgabe 1889 (Open Library)


Letzte Überprüfung der Linkadressen: Jul. 2020

Literatur

Siehe auch Literaturliste

Christine Guth, „Hasegawa's Fairy Tales: Toying with Japan“. RES: Anthropology and Aesthetics 53/54 (2008), 266–81. (Online.)

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite

  1. ^ 
    Kobutori2.jpg
    Der Held des Märchens mit einer großen Beule an der Backe. Erste englischen Version des Märchens „The old man and the devils“ (Kobutori jīsan).
    Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1889. Open Library.
  2. ^ 
    Kobutori3.jpg
    Ein oni als Anführer, und hinter ihm weitere Oni in einer langen Reihe.
    Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1889. The British Museum.
  1. ^ 
    Kobutori4.jpg
    Die oni nehmen die Beule des Alten als Pfand (Szene aus Kobutori jīsan).
    Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1889. The British Museum.
  2. ^ 
    Kobutori.jpg
    Erste englische Version des Märchens „The old man and the devils“ (Kobutori jīsan).
    Werk von Kobayashi Eitaku. Meiji-Zeit, 1886. The British Museum.

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • Hepburn, James Curtis (west.) ^ 1815–1911; amerikanischer Missionar und Pionier der Japanforschung; entwickelte die heute noch gebräuchliche Hepburn-Umschrift des Japanischen
  • Kobayashi Eitaku 小林永濯 ^ 1843–1890; Meiji-zeitlicher Maler; auch Sensai Eitaku
  • Kobutori jīsan 瘤取り爺さん ^ „Der Alte, dem die Beule genommen wurde“; Märchen aus dem 13. Jh.
  • oni^ Dämon, „Teufel“; in sino-japanischer Aussprache (ki) ein allgemeiner Ausdruck für Geister
  • Uji shūi monogatari 宇治拾遺物語 ^ „Geschichtenauslese [des Ratsherren] von Uji“ (13. Jh.); Sammlung von unterhaltsamen Geschichten und Anekdoten, viele aus dem Konjaku monogatari