I-24
In einer alten Hauptstadt[1] lebte [einst] eine schlechte Frau (omina 婦). Ihre Herkunft[2] ist unbekannt. Sie hegte keinerlei kindliche Pietät (孝) in ihrem Herzen und achtete ihre Mutter nicht. An einem Fastentag (sainichi 斎日) hatte die Mutter keinen Reis gekocht. Damit sie ihre Fastenspeise (saijiki 斎食) einnehmen könne, begab sie sich also zu ihrer Tochter, um sie um Reis zu bitten. Die Tochter aber sagte: „Mein Mann und ich wollen noch unsere [eigene] Fastenspeise essen. Ansonsten ist nichts da, was ich der Mutter geben könnte.“[3] Die Mutter aber hatte noch ein kleines Kind bei sich. Sie nahm es auf den Rücken und begab sich wieder nach Hause. Wie sie sich hinlegte und auf die Straße sah, da erblickte sie ein Bündel mit gekochtem Reis, das jemand dort zurück gelassen hatte. Sie hob es auf und stillte ihren Hunger. Dann begab sie sich erschöpft in ihr Schlafgemach. Mitten in der Nacht pochte jemand an ihre Türe und sagte: „Deine Tochter schreit: ‚Nadeln stechen in meiner Brust! Ich werde sterben!‘ Du musst hingehen und nach ihr sehen!“ Die Mutter aber schlief vor Erschöpfung so fest, dass sie nicht gehen und der Tochter helfen[4] konnte. So starb die Tochter schließlich, ohne dass sie sich noch einmal gesehen hätten.
Hätte sie doch der Mutter vor ihrem Tod noch ihren Teil abgegeben, anstatt zu sterben, ohne kindliche Pietät (孝養) geübt zu haben!
Hintergrund
- Zeit: vor Nara-Zeit?
- Ort: Kinai Region?
- Personen: anonyme Frau, anonyme Mutter
Ursache und Wirkung
Tochter übt keine kindliche Pietät, stirbt unter Schmerzen
Anmerkungen
Man erfährt von der Sitte der Fastentage. Laut Nakamura (136, A. 3) hielten buddhistische Laien an solchen Tagen zusätzlich zu den fünf buddhistischen [Laiengebote]n auch drei Mönchsgebote ein, v.a. das Fastengebot nach Mittag. Die Fastenspeise entsprach einem vegetarischen Mahl, wie es auch in buddhistischen Zeremonien als Opfergabe verwendet wurde.
Bemerkenswert ist auch, dass die [kindliche Pietät] bzw. Kindesliebe eigentlich zu den klassischen Tugenden der konfuzianischen Ethik zählt, hier aber vollinhaltlich in den Wertekanon des Buddhismus und der Karma-Theorie integriert ist.
Wie die Schlussbemerkung anzeigt, geht der Autor nicht unbedingt davon aus, dass die Tochter nicht gestorben wäre, hätte sie sich pietätvoll verhalten. Eher besteht ihre Bestrafung darin, dass ihr Tod wesentlich weniger „schlimmes Karma“ mit sich gebracht hätte, hätte sie der Mutter Pietät erwiesen. Auch die Tatsache, dass die Mutter der Tochter nicht beistehen konnte, geht natürlich auf deren pietätloses Verhalten zurück. Die Mutter hingegen erweist sich als fromme Buddhistin und wird dafür mit Nahrung belohnt.
Materialien
{{{pdf}}}
Kategorie: Pietät