Grundbegriffe/Stereotype: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 15. Juli 2022, 21:39 Uhr
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Das Thema japanische Religion ist u.a. deshalb wichtig, weil es immer wieder herangezogen wird, um die gesamte japanische Gesellschaft zu erklären. Daraus haben sich in der Allgemeinheit einige stereotype Ansichten über Japan und seine Religionen gebildet, die oft allzu einfachen Erklärungsmustern folgen. Im folgenden habe ich drei häufige stereotype Erklärungen etwas plakativ und überspitzt zusammengefasst. In der nachfolgenden Besprechung wird erläutert, wie es zu dem Stereotyp kam und was daran problematisch ist.
Stereotype
Zen
Japanischer Buddhismus ist Zen. Zen war die Religion der Samurai [bushi (jap.) 武士 Krieger, Samurai] und hat damit die gesamte japanische Kultur geprägt. Wer die japanische Kultur verstehen will, muss Zen verstehen, wer Zen nicht versteht, kennt Japan nicht. Zen ist durch Meditation erworbene Selbsterkenntnis und Selbstdisziplin. Zen ist gleichbedeutend mit dem Weg der Krieger (Bushidō [Bushidō (jap.) 武士道 Verhaltenskodex bzw. Philosophie des japanischen Militäradels; wtl. Der Weg des Kriegers]). Zen ist gleichbedeutend mit Teezeremonie [chadō (jap.) 茶道 wtl. „Teeweg“; Teezeremonie; auch sadō, sa no yu; Ritual um den Konsum von Tee, das aus der buddhistischen Klosterkultur (v.a. Zen-Klöster) stammt und im späten Mittelalter in die Kultur der Eliten übernommen wurde], Ikebana [Ikebana (jap.) 生け花 Die traditionelle japanische Kunst des Blumenarrangierens.] und den japanischen Kampfsportarten (Budō [Budō (jap.) 武道 Oberbegriff für alle japanischen Kampfkünste; wtl. Weg des Krieges]), erklärt aber auch die japanische Arbeitsdisziplin und damit die japanische Wirtschaftskompetenz.
Shintō
Japanische Religion ist Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami], der Weg der Götter. Shintō ist die Wurzel der japanischen Kultur. Wer die japanische Kultur verstehen will, muss Shintō verstehen, wer Shintō nicht versteht, kennt Japan nicht. Shintō ist in seiner Essenz seit Urzeiten gleich geblieben. Shintō bewahrt die Urverbundenheit mit der Natur. Wenn im heutigen Japan nicht immer Harmonie zwischen Mensch und Natur herrscht, so deshalb, weil sich die verwestlichte japanische Gesellschaft nicht oder nur ungenügend ihrer shintōistischen Wurzeln besinnt.
Konfuzianismus
Die japanische Gesellschaft ist vom Konfuzianismus geprägt. Der Konfuzianismus [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten] war die Staatsideologie der Tokugawa [Tokugawa (jap.) 徳川 Kriegerdynastie, die während der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603–1867) das Amt des Militärmachthabers (Shōgun) inne hatte.]-Zeit und bestimmte damit das feudale Rechtssystem, das in Japan heute noch fortwirkt. Konfuzianismus lehrt Disziplin und Gehorsamkeit. Das Hierarchiedenken, die Arbeitsmoral und der schwach entwickelte Individualismus der Japaner sind dem Konfuzianismus zuzuschreiben.
Zum Stereotyp „Zen“
Vorlage:Sidebox3 Zen [Zen (jap.) 禅 chin. Chan, wtl. Meditation; Zen Buddhismus] ist unter dem Namen Chan [Chan (chin.) 禅 jap. Zen, wtl. Meditation; chin. Bez. des Zen Buddhismus] („Meditation“) in China entstanden, breitete sich ab dem dreizehnten Jahrhundert in Japan aus und wurde bald zu einer der offiziell anerkannten Richtungen (shūha [shūha (jap.) 宗派 rel. Schule oder Sekte, Glaubensgemeinschaft]) des japanischen Buddhismus. Zen-Mönche waren vor allem im vierzehten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert an zahlreichen kulturellen Innovationen beteiligt. Dazu gehören Tee-Zeremonie, Architektur und Gartenarchitektur (s. dazu auch Zen im Kapitel „Geschichte“). Bis hierher stimmt das allgemeine Stereotyp.
Die Einschränkung
Zen kann nicht losgelöst vom chinesischen Chan verstanden werden. Chan bildete sich ab dem 8. Jh. in China heraus und kann allgemein als Versuch gedeutet werden, den indischen Buddhismus mit autochthonen chinesischen Konzepten zu versöhnen. Insofern gibt es ein starkes sino-zentristisches Element im Chan. Dennoch waren Chan-Mönche, wie der Buddhismus insgesamt, in China zeitweise Repressionen ausgesetzt und fanden Exil in Japan. Sie brachten diverse kulturelle Neuerungen mit, u.a. das Teetrinken, das zunächst tatsächlich in Zen-Klöstern im Zusammenhang mit meditativen Praktiken gepflegt wurde. Außerhalb der Klöster kam der Tee erst mit dem Sammeln von wertvollem chinesischen Teegeschirr in Mode. Aus dieser Sammelleidenschaft entwickelte sich die japanische Tee-Zeremonie, in der das rituelle Bewundern der (mittlerweile japanisierten) Tee-Utensilien bis heute einen wichtigen Bestandteil darstellt.
Zen-Mönche entwickelten sich in der Muromachi [Muromachi (jap.) 室町 Stadtteil in Kyōto; Sitz des Ashikaga Shōgunats 1336–1573 (= Muromachi-Zeit)]-Zeit (1336–1573) immer mehr zu Experten chinesischer Bildung. Sie lehrten den Shōgun und seinen Hof weniger Buddhismus und Meditation, sondern konfuzianische Klassiker und chinesische Lyrik. Ihr Einfluss erstreckte sich jedoch nur auf eine kleine Elite. Die Meditation, der Zen seinen Namen verdankt, wurde vor allem im Sōtō [Sōtō-shū (jap.) 曹洞宗 Schule des Zen-Buddhismus] Zen hochgehalten. Diese Richtung stellte zunächst nur eine marginalisierte Sekte dar, die hauptsächlich in den Provinzen aktiv war und sich erst in späterer Zeit zur stärksten Zen Gruppierung entwickelte.
Insgesamt gehörte die Mehrheit der Samurai der Jōdo-shū [Jōdo-shū (jap.) 浄土宗 Schule des Amida-Buddhismus], der Schule vom Reinen Land, an. Auch heute wird Zen in Japan vom Buddhismus des Reinen Landes zahlenmäßig überflügelt. Zen ist also nicht die stärkste Richtung des japanischen Buddhismus. Aber auch jene Japaner, die dem Zen Buddhismus angehören, praktizieren nur selten die Versenkung in paradoxe Rätsel (kōan [kōan (jap.) 公案 Koan, paradoxes Zen-Rätsel]) oder die strenge Meditation, für die Zen im Westen bekannt ist. Ebenso wie andere japanische Buddhisten suchen sie ihren Tempel vor allem deshalb regelmäßig auf, weil er ihre Familiengräber betreut. Im modernen japanischen Alltag unterscheidet sich Zen also nur unwesentlich von anderen buddhistischen Richtungen und tritt in erster Linie als religiöser Dienstleister im Bereich des Begräbniskults in Erscheinung.
Zen ist nicht nur in China, sondern beispielsweise auch in Korea weit verbreitet. Dort war er unter dem Namen Seon [Seon (kor.) 禅/선 koreanische Variante des Zen (Chin. Chan) Buddhismus] lange Zeit eine von nur zwei offiziell anerkannten buddhistischen Richtungen. Seon ist somit für den koreanischen Buddhismus typischer als Zen für den japanischen.
Die Einschränkung der Einschränkung
Meditation und Irritation sind Praktiken und Taktiken, auf die man nicht nur im Zen, sondern allgemein im japanischen Buddhismus immer wieder stößt. Insofern kann die Beschäftigung mit Zen durchaus zu einem Verständnis japanischer Religiosität beitragen.
Zu den Kampfsportarten
Obwohl das bekannte Shaolin Kloster (Shaolin Si [Shaolin Si (chin.) 少林寺 Ursprungskloster des Shaolin-Ordens am Berg Song; Geburtsstätte des Chan Buddhismus]) in China ein Chan-Tempel ist, hat sich die Tradition des Kampfsports nicht generell im Chan/Zen durchgesetzt. Japanische Kampfsportarten sind in der Regel nicht in Zen-Klöstern entstanden und haben im übrigen in ihrer heutigen Form eine viel jüngere Tradition als allgemein angenommen. Ihre strengen Verhaltensvorschriften kann man, wenn man will, als Ausdruck einer allgemeinen Vorliebe für Rituale in Japan ansehen.
Zu Zen und Wirtschaft
Ein westlicher Manager nimmt vielleicht eher eine Zen-Schulung in Anspruch als ein japanischer. Aber das ist nur eine Vermutung.
Zum Stereotyp „Shintō“
Dass der moderne Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami] nur in Zusammenhang mit der Entwicklung des Buddhismus in Japan zu verstehen ist, wurde bereits in der Einführung zum Thema Shintō erwähnt, und ist eines der Kernthemen dieser Website. Zum Thema Natur soviel: Naturphänomene werden im Rahmen des Shintō in der Tat vergöttlicht und verehrt. Jeder Japanbesucher stößt früher oder später auf eindrucksvolle Baumriesen oder Felsen, die durch ein Götter-Seil (shimenawa [shimenawa (jap.) 注連縄 shintōistisches „Götter-Seil“; geschlagene Taue aus Reisstroh.]) als numinose Erscheinungen gekennzeichnet sind. Im Shintō ist es tatsächlich Tabu, Bäume zu fällen — allerdings nur innerhalb des Schreinareals.
Bildquelle: unbekannt.
Werk von Rolfe Horn. 2001. Rolfe Horn, 2001 (mit freundlicher Genehmigung).
Die Einschränkung
In Japan entwickelt man, so meine Behauptung, vor allem zu vereinzelten Gegenständen oder Orten in der Natur eine besondere religiöse Beziehung. Diese Tradition findet sich schon in der ältesten japanischen Dichtung. Die Natur als Ganzes ist dagegen angstbesetzt. Berge wurden und werden als Ort der Geister und Verstorbenen, als diesseitiger Bereich des Jenseits angesehen, manchmal auch als Eingang zur Hölle. Wer sich in die Berge begibt, muss daher von vorn herein mit religiöser Macht ausgestattet sein. Gleichzeitig verleiht der Aufenthalt in der freien Natur religiöse Macht (ein weltweites Phänomen), daher die Tradition der Bergasketen und Pilgerschaften zu heiligen Bergen, die jedoch nicht spezifisch shintōistisch sind. Der in Mitteleuropa verbreitete Naturgenuss in Form von Wandern hat sich zwar auch im modernen Japan durchgesetzt, ist im Vergleich zu den Alpen aber noch relativ unterentwickelt. Es ist deshalb auch gar nicht leicht, auf eigene Faust einen x-beliebigen Berg zu bewandern: Man findet meist gar keinen Weg. Nur wo Schreine oder Tempel bereits eine kulturelle Bresche in die Natur geschlagen haben, sind Wege und Besucher zu erwarten. Wird die prinzipiell unheimliche Natur mit kulturellen Mitteln gezähmt und ausgebeutet, bestehen dagegen keine traditionellen religiösen Bedenken (wie etwa in australischen oder indianischen Religionen). Der ambivalente Status Japans in globalen Umweltfragen ist ein weiteres Argument gegen ein besonderes, religiös motiviertes Ökologiebewusstsein, wie es manche Verfechter des Shintō für Japan in Anspruch nehmen.
Einschränkung der Einschränkung
Weder im Shintō noch im Buddhismus gibt es ein „Macht euch die Erde untertan.“1
Zum Stereotyp „Konfuzianismus“
Da es kaum konfuzianische Tempel und keine konfuzianischen Priester gibt, scheint der Konfuzianismus (jukyō [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten]) im heutigen Japan so gut wie gar keine Rolle zu spielen. Tatsächlich ist es jedoch richtig, dass der vormoderne japanische Staat und seine Gesetzessprechung von konfuzianischen Prinzipien geprägt waren. Darüber hinaus hat Japan schon vor der Übernahme des Buddhismus zahlreiche religiöse Formen und Inhalte aus China importiert. Vieles davon wird manchmal als „konfuzianisch“, manchmal als „daoistisch“ bezeichnet, obwohl beide Zuordnungen streng genommen problematisch sind. Beispielsweise im Fall der Lehre: In China setzen sowohl Konfuzianismus als auch Daoismus [Dōkyō (jap.) 道教 Daoismus, wtl. Lehre des Weges, chin. Daojiao; philosophisch-rel. Strömung Chinas; s.a. dō] die Yin Yang Lehre selbstverständlich voraus. In Japan wiederum wird sie sowohl von Buddhisten als auch von Shintōisten befolgt und als integraler Bestandteil ihrer Religion aufgefasst.
Konfuzianismus im engeren Sinne ist weniger eine Religion als eine Lehre der sozialen Ethik, die v.a. das Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan und die Hierarchie in der Familie betrifft. Das Ideal der kindlichen Pietät ist das in Japan am weitesten verbreitete Gebot des Konfuzianismus — es wurde allerdings hauptsächlich durch den Buddhismus vertreten. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gehörte die Lektüre konfuzianischer Klassiker zum Bildungsgut der japanischen Oberschicht und übte einen Einfluss aus, der vielleicht mit dem Griechisch- und Lateinunterricht in Europa zu vergleichen ist. Dass das japanische Verhalten in Gruppen und der Umgang mit Hierarchien allein aus dem Konfuzianismus erklärbar ist, scheint mir dennoch unwahrscheinlich.
Was Disziplin und Anpassungsdruck in der japanischen Gesellschaft betrifft, so sind diese vielleicht nur auf andere Bereiche verteilt, als man es im Westen gewohnt ist. Wer länger in Japan lebt, wird immer wieder überrascht, dass Leute spontan aus sich herausgehen, wo man es am wenigsten erwarten würde. So gibt es gerade auf dem Gebiet der Religion zahlreiche Anlässe, wo unkonventionelle Verhaltensmuster erlaubt oder sogar gefordert sind. (Siehe dazu beispielsweise Kap. „Religion und Alltag“, Feste).
Verweise
Fußnoten
- ↑ Bekanntes Zitat aus der biblischen Schöpfungsgeschichte (Genesis 1/28), das von heutigen Theologen allerdings gern anders übersetzt wird.
Bilder
- ^ Der über 700 Jahre alte Baum im Areal des Tsurugaoka Hachiman-gū wird durch ein shimenawa als heiliger Baum (shinboku) gekennzeichnet. Leider fiel im März 2010 einem Taifun zum Opfer.
Bildquelle: unbekannt.
- ^ Die vermählten Felsen von Ise. Berühmtestes, wenn auch nicht einziges Beispiel von markanten Felsformationen, die durch shimenawa verbunden sind und meist als „Mann-Frau-Felsen“ (meotoiwa) bezeichnet werden.
Werk von Rolfe Horn. 2001. Rolfe Horn, 2001 (mit freundlicher Genehmigung).
Glossar
- Shaolin Si (chin.) 少林寺 ^ Ursprungskloster des Shaolin-Ordens am Berg Song; Geburtsstätte des Chan Buddhismus