Geschichte/Neo-Konfuzianismus: Unterschied zwischen den Versionen

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Unter den Ein·flüssen aus China übte v.a. der soge·nannte Neo-Kon·fuzia·nis·mus in Ge·stalt der Lehren des chine·si·schen Philo·sophen {{glossar:zhuxi}} (auch Chu Hsi, 1130–1200, jap. Shushi) eine große An·ziehungs·kraft auf die intel·lektu·elle Avant·garde der frühen Edo-Zeit aus. Im Gegensatz zum klas·sischen Kon·fuzi·anis·mus, der ja im wesent·lichen eine Philo·sophie der staats·bürger·lichen Rechte und Pflich·ten dar·stellt und sich daher vor allem auf das Dies·seits be·zieht, be·schäftigte sich Zhu Xi auch mit Fra·gen des Über·natür·lichen und der Religion und ent·wickel·te ein Erklä·rungs·modell des Kos·mos, das viele Be·rüh·rungs·punkte mit dem Bud·dhis·mus auf·weist. Zu·gleich be·diente er sich aber auch klas·sischer kon·fuziani·scher Kon·zepte, vor allem der Kate·gorien „öffentlich“ ({{glossar:kou|''kō, ōyake''}})  und  „privat“ ({{glossar:shi|''shi'', ''watakushi''}}). Dieser Gegen·satz kann auch durch die Be·griffe „gemein·nützig“ und „eigen·nützig“ aus·ge·drückt werden und ent·hält eine ein·deuti·ge Wer·tung zu·guns·ten des „Öffent·lichen“. Unter kon·fuzia·nischen Gesichts·punk·ten ist nur das von Wert, was dem all·gemei·nen Wohl der Öffent·lich·keit dient, „öffent·lich“ ist somit gleich·be·deu·tend mit „gut“. Sämt·liche private Interes·sen werden da·ge·gen poten·tiell schäd·lich für Gesell·schaft und Staat auf·ge·fasst und werden ent·sprechend negativ be·wertet.
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Unter den Einflüssen aus China übte v.a. der sogenannte Neo-Konfuzianismus in Gestalt der Lehren des chinesischen Philosophen {{g|zhuxi}} (auch Chu Hsi, 1130–1200, jap. Shushi) eine große Anziehungskraft auf die intellektuelle Avantgarde der frühen Edo-Zeit aus. Im Gegensatz zum klassischen Konfuzianismus, der ja im wesentlichen eine Philosophie der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten darstellt und sich daher vor allem auf das Diesseits bezieht, beschäftigte sich Zhu Xi auch mit Fragen des Übernatürlichen und der Religion und entwickelte ein Erklärungsmodell des Kosmos, das viele Berührungspunkte mit dem Buddhismus aufweist. Zugleich bediente er sich aber auch klassischer konfuzianischer Konzepte, vor allem der Kategorien „öffentlich“ ({{g|kou|''kō, ōyake''}})  und  „privat“ ({{g|shi|''shi'', ''watakushi''}}). Dieser Gegensatz kann auch durch die Begriffe „gemeinnützig“ und „eigennützig“ ausgedrückt werden und enthält eine eindeutige Wertung zugunsten des „Öffentlichen“. Unter konfuzianischen Gesichtspunkten ist nur das von Wert, was dem allgemeinen Wohl der Öffentlichkeit dient, „öffentlich“ ist somit gleichbedeutend mit „gut“. Sämtliche private Interessen werden dagegen potentiell schädlich für Gesellschaft und Staat aufgefasst und werden entsprechend negativ bewertet.
  
Für die Edo-zeit·lichen Ge·lehrten stellten die Kate·gorien öffent·lich und privat den Aus·gangs·punkt einer funda·men·talen Kritik an den her·ge·brachten Formen des Bud·dhis·mus dar, weil dieser sich zu wenig um das gesell·schaft·liche Gemein·wohl küm·mern würde. Eine un·mittel·bare Konse·quenz dieser Kritik war die zuneh·mende Ableh·nung eso·terisch-buddhis·tischer Wis·sens·vermitt·lung: Geheim·lehren, die nur münd·lich von Meister zu Schüler weiter·ge·geben werden durften, galten den Kon·fuzia·nern als etwas „Privates“ oder „Eigen·nütziges“, das ab·zu·lehnen war. Reli·giöse Wahr·heiten sollten der Öf·fent·lich·keit dienen und all·ge·mein zu·gäng·lich sein. Die da·mals weit ver·brei·teten For·men des eso·teri·schen Bud·dhis·mus wurden aus der Sicht der kon·fuzia·nischen Kritik zum In·begriff eigen·nütziger Ge·heim·nis·krämerei.
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Für die Edo-zeitlichen Gelehrten stellten die Kategorien öffentlich und privat den Ausgangspunkt einer fundamentalen Kritik an den hergebrachten Formen des Buddhismus dar, weil dieser sich zu wenig um das gesellschaftliche Gemeinwohl kümmern würde. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Kritik war die zunehmende Ablehnung esoterisch-buddhistischer Wissensvermittlung: Geheimlehren, die nur mündlich von Meister zu Schüler weitergegeben werden durften, galten den Konfuzianern als etwas „Privates“ oder „Eigennütziges“, das abzulehnen war. Religiöse Wahrheiten sollten der Öffentlichkeit dienen und allgemein zugänglich sein. Die damals weit verbreiteten Formen des esoterischen Buddhismus wurden aus der Sicht der konfuzianischen Kritik zum Inbegriff eigennütziger Geheimniskrämerei.
  
 
== Die Entdeckung der Geschichte ==
 
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Ein weiterer Reiz lag für die Intel·lektu·ellen der Edo-Zeit in der konfu·ziani·schen Ge·schichts·philo·sophie. Schon Kon·fuzius hatte den Sinn von Geschichte darin gesehen, der Gegen·wart einen „Spiegel“ vorzu·halten. Einer·seits fand er in der Geschichte Vor·bilder einer guten Herr·schaft, anderer·seits aber auch ab·schrecken·de Bei·spiele. Kon·fuzius benützte Geschichte mit einem Wort als didak·tisches Mittel, um die gegen·wärtige Politik zu kriti·sieren oder zu loben. Spätere Kon·fuzianer folgten ihm darin. Manche kriti·sierten ihre Herr·scher, andere boten sich als Ideo·logen an, um deren Herr·schaft zu legitimieren.  
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Ein weiterer Reiz lag für die Intellektuellen der Edo-Zeit in der konfuzianischen Geschichtsphilosophie. Schon Konfuzius hatte den Sinn von Geschichte darin gesehen, der Gegenwart einen „Spiegel“ vorzuhalten. Einerseits fand er in der Geschichte Vorbilder einer guten Herrschaft, andererseits aber auch abschreckende Beispiele. Konfuzius benützte Geschichte mit einem Wort als didaktisches Mittel, um die gegenwärtige Politik zu kritisieren oder zu loben. Spätere Konfuzianer folgten ihm darin. Manche kritisierten ihre Herrscher, andere boten sich als Ideologen an, um deren Herrschaft zu legitimieren.  
  
In jedem Fall musste die Geschichte zunächst in einer Weise präsen·tiert werden, dass sich aus ihr Gutes und Schlechtes heraus·lesen ließ. Konfu·zianische Histori·ker sahen sich daher nicht als neutrale Be·richter·statter oder objek·tive Chronisten, sondern erach·teten es als ihre Aufgabe, die Prinzi·pien einer guten Politik aus der Geschichte heraus zu des·til·lieren. Dieses Ziel ver·folgte u.a. auch {{glossar:simaqian}}, der Anfang der Han-Zeit die erste umfas·sende Geschichte Chinas schrieb und damit stil·prägend wirkte.   
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In jedem Fall musste die Geschichte zunächst in einer Weise präsentiert werden, dass sich aus ihr Gutes und Schlechtes herauslesen ließ. Konfuzianische Historiker sahen sich daher nicht als neutrale Berichterstatter oder objektive Chronisten, sondern erachteten es als ihre Aufgabe, die Prinzipien einer guten Politik aus der Geschichte heraus zu destillieren. Dieses Ziel verfolgte u.a. auch {{g|simaqian}}, der Anfang der {{g|han}}-Zeit die erste umfassende Geschichte Chinas schrieb und damit stilprägend wirkte.   
  
 
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Es ist daher kein Zufall, dass Anfang der Edo-Zeit eine Reihe monu·men·taler Ge·schichts·werke unter konfu·ziani·schem Ein·fluss ent·standen. So legte etwa der Hof-Kon·fu·zianer des Shōguns, {{g|Hayashigahou}} (1618–1680), im Jahr 1670 eine Ge·schich·te Japans ({{g|Honchoutsugan}}) in 310 Bänden (oder Fas·zikeln) vor, an der er und sein Vater, {{glossar:hayashirazan}} jahr·zehnte·lang im Auftrag des Shōgunats ge·arbei·tet hatten. Zur gleichen Zeit begann {{glossar:tokugawamitsukuni}}, der Daimyō von Mito, seine „Große Ge·schichte Japans“ ({{glossar:dainihonshi}}), ein noch um·fang·reiche·res Projekt, das 1720 in frag·men·tari·scher Form ver·öffent·licht, aber erst 1906, also nach etwa 250 Jahren, in Form von knapp 400 Bänden abge·schlos·sen wurde. In beiden Fällen folgten die Histo·riker chine·sischen Vor·bil·dern, indem sie sich strikt an den Re·gie·rungs·zeiten der Tennō und nicht etwa an den Herr·schafts·perio·den der Shōgune orien·tierten.
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Es ist daher kein Zufall, dass Anfang der Edo-Zeit eine Reihe monumentaler Geschichtswerke unter konfuzianischem Einfluss entstanden. So legte etwa der Hof-Konfuzianer des {{g|shougun}}, {{g|Hayashigahou}} (1618–1680), im Jahr 1670 eine Geschichte Japans ({{g|Honchoutsugan}}) in 310 Bänden (oder Faszikeln) vor, an der er und sein Vater, {{g|hayashirazan}} jahrzehntelang im Auftrag des Shōgunats gearbeitet hatten. Zur gleichen Zeit begann {{g|tokugawamitsukuni}}, der {{g|daimyou}} von Mito, seine „Große Geschichte Japans“ ({{g|dainihonshi}}), ein noch umfangreicheres Projekt, das 1720 in fragmentarischer Form veröffentlicht, aber erst 1906, also nach etwa 250 Jahren, in Form von knapp 400 Bänden abgeschlossen wurde. In beiden Fällen folgten die Historiker chinesischen Vorbildern, indem sie sich strikt an den Regierungszeiten der {{g|tennou}} und nicht etwa an den Herrschaftsperioden der Shōgune orientierten.
  
 
== Das nationale Erbe ==
 
== Das nationale Erbe ==
  
Mit der Be·tonung der eigenen Ver·gangen·heit kamen aber auch Ele·mente ins Spiel, die die japani·schen Kon·fuzia·nisten von China ent·frem·deten, da sie ja da·nach trach·teten, Japan als eine China zumin·dest eben·bürtige Zivili·sation darzu·stellen. Daher fühlten sich viele Intel·lektu·elle zum auf·kom·men·den Shintō hin·ge·zogen. Die durch den {{glossar:Yoshidashintou}} bereits seit Ende des fünf·zehn·ten Jahr·hun·derts propa·gierte Idee eines „reinen Shintō“, der weder von chine·sischen noch von indi·schen Gedan·ken getrübt sei, fiel in der frühen Edo-Zeit auf frucht·baren Boden und be·gann auch außer·halb des Einfluss·be·reichs der Yoshida Priester Früchte zu treiben. Obwohl von der Grund·haltung her xeno·phob und daher auch gegen China gerichtet, sahen shintō·istische Er·neuerer der frühen Edo-Zeit im Bud·dhis·mus ihren Haupt·gegner und sym·pathi·sierten daher mit der Bud·dhis·mus·kritik der Konfu·zianer. Umgekehrt entwickel·ten die nam·haftes·ten Ver·treter des japanischen Neo-Kon·fuzia·nismus wie Hayashi Razan oder {{glossar:yamazakiansai}} (1618–1682) jeweils auch ihre eigenen Visionen einer shintō·istischen Lehre.
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Mit der Betonung der eigenen Vergangenheit kamen aber auch Elemente ins Spiel, die die japanischen Konfuzianisten von China entfremdeten, da sie ja danach trachteten, Japan als eine China zumindest ebenbürtige Zivilisation darzustellen. Daher fühlten sich viele Intellektuelle zum aufkommenden Shintō hingezogen. Die durch den {{g|Yoshidashintou}} bereits seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts propagierte Idee eines „reinen Shintō“, der weder von chinesischen noch von indischen Gedanken getrübt sei, fiel in der frühen Edo-Zeit auf fruchtbaren Boden und begann auch außerhalb des Einflussbereichs der Yoshida Priester Früchte zu treiben. Obwohl von der Grundhaltung her xenophob und daher auch gegen China gerichtet, sahen shintōistische Erneuerer der frühen Edo-Zeit im Buddhismus ihren Hauptgegner und sympathisierten daher mit der Buddhismuskritik der Konfuzianer. Umgekehrt entwickelten die namhaftesten Vertreter des japanischen Neo-Konfuzianismus wie Hayashi Razan oder {{g|yamazakiansai}} (1618–1682) jeweils auch ihre eigenen Visionen einer shintōistischen Lehre.
  
Somit bildete sich also eine anti-bud·dhisti·sche Front aus neo-kon·fuziani·schen Intel·lektuel·len und Shintō-Priestern, die immer wieder von einzelnen Feudal·herren unter·stützt wurde. In einzelnen Dai·myaten wurde sogar das [[Geschichte/Terauke | ''terauke'' System]], also die Zwangs·mit·glied·schaft bei einem lokalen Tempel, durch eine Art ''jinja-uke'', also die Zwangs·mit·glied·schaft bei einem lokalen Schrein ersetzt. Zu den promi·nentes·ten För·derern der shintō-kon·fuziani·schen Reform·ideen zählten {{glossar:Hoshinamasayuki}} (1611–1672), Daimyō von Aizu und Regent des Shōgun Ietsuna, oder der bereits er·wähnte Toku·gawa Mitsu·kuni, der durch sein Ge·schichts·projekt zum Mäzen der neo-kon·fuzia·nischen Mito-Schule wurde.
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Somit bildete sich also eine anti-buddhistische Front aus neo-konfuzianischen Intellektuellen und Shintō-Priestern, die immer wieder von einzelnen Feudalherren unterstützt wurde. In einzelnen Daimyaten wurde sogar das [[Geschichte/Terauke | ''terauke'' System]], also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Tempel, durch eine Art {{g|shintouuke}}, also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Schrein ersetzt. Zu den prominentesten Förderern der shintō-konfuzianischen Reformideen zählten {{g|Hoshinamasayuki}} (1611–1672), Daimyō von Aizu und Regent des Shōgun Ietsuna, oder der bereits erwähnte Tokugawa Mitsukuni, der durch sein Geschichtsprojekt zum Mäzen der neo-konfuzianischen Mito-Schule wurde.
  
Den·noch kann man meiner An·sicht nach nicht sagen, dass der Neo-Kon·fuzia·nismus die offizielle Staats·ideologie der Tokugawa dar·stellte, wie in der älteren Fach·literatur häufig an·ge·nommen. In reli·giösen Fragen machte sich das Shōgunat eine politi·sche Linie zu eigen, die einer·seits autoritär, anderer·seits aber prag·matisch und eklek·tizis·tisch war: Bud·dhis·mus ja, aber in „gezähmter Form“. Dazu wo immer brauch·bar auch Kon·fuzianis·mus und Shintō. In dieser ideo·logi·schen Un·be·stimmt·heit liegt wahr·schein·lich der größte Unter·schied der Toku·gawa Religions·politik zu den zeit·gleichen Ent·wick·lungen in Europa. Obwohl da wie dort ähn·liche, d.h. inquisi·torische Methoden der ideo·logi·schen Kon·trolle ein·gesetzt wurden, grün·dete diese Kon·trolle im Fall des Chris·ten·tums auf einer rigiden Dog·matik, im Fall Japan hin·gegen auf einem pragma·tisch er·stellten Katalog ver·bote·ner Lehren. Es gab natür·lich dogma·tische neo-kon·fuzia·nische Staats·denker, doch ihre Theorien waren ledig·lich so etwas wie ein intel·lektuel·les Experi·mentier·feld der frühen Edo-Zeit, das die tat·säch·liche reli·giöse und reli·gions·politi·sche Praxis nur am Rande betraf.
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Dennoch kann man meiner Ansicht nach nicht sagen, dass der Neo-Konfuzianismus die offizielle Staatsideologie der Tokugawa darstellte, wie in der älteren Fachliteratur häufig angenommen. In religiösen Fragen machte sich das Shōgunat eine politische Linie zu eigen, die einerseits autoritär, andererseits aber pragmatisch und eklektizistisch war: Buddhismus ja, aber in „gezähmter Form“. Dazu wo immer brauchbar auch Konfuzianismus und Shintō. In dieser ideologischen Unbestimmtheit liegt wahrscheinlich der größte Unterschied der Tokugawa Religionspolitik zu den zeitgleichen Entwicklungen in Europa. Obwohl da wie dort ähnliche, d.h. inquisitorische Methoden der ideologischen Kontrolle eingesetzt wurden, gründete diese Kontrolle im Fall des Christentums auf einer rigiden Dogmatik, im Fall Japan hingegen auf einem pragmatisch erstellten Katalog verbotener Lehren. Es gab natürlich dogmatische neo-konfuzianische Staatsdenker, doch ihre Theorien waren lediglich so etwas wie ein intellektuelles Experimentierfeld der frühen Edo-Zeit, das die tatsächliche religiöse und religionspolitische Praxis nur am Rande betraf.
  
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Aktuelle Version vom 10. November 2023, 15:31 Uhr

Neo-Konfuzianismus und konfuzianischer Shintō

Während der Buddhismus der frühen Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-Zeit immer stärker zu einem Vollzugsorgan der staatlichen Verwaltung wurde, erwachte innerhalb der intellektuellen Avantgarde ein neues Interesse am Konfuzianismus [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten] einerseits und an der Idee eines eigenständigen japanischen Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami] andererseits. China, das durch die Abschließungspolitik (sakoku [sakoku (jap.) 鎖国 Abschließung des Landes in der Edo-Zeit, 1639–1853]) der Tokugawa [Tokugawa (jap.) 徳川 Kriegerdynastie, die während der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603–1867) das Amt des Militärmachthabers (Shōgun) inne hatte.] in unerreichbare Ferne gerückt war, wurde von vielen Gelehrten als zivilisatorisches Leitbild wiederentdeckt, während andere in der mythischen Vergangenheit Japans nach einem idealen Gesellschaftsmodell suchten. Gemeinsam war beiden Strömungen, dass sie dem Buddhismus grundsätzlich kritisch gegenüber standen, auch wenn viele Intellektuelle ihre Kenntnisse in buddhistischen Klöstern erworben hatten oder gar als buddhistische Mönche tätig waren.

Öffentlicher Nutzen

Zhuxi guoxu.jpg
1 Zhu Xi
Der chinesische Philosoph Zhu Xi (1130–1200), der maßgeblich für die Renaissance des Konfuzianismus (Neo-Konfuzianismus) in China und später auch in Japan verantwortlich ist, auf einem Portrait aus der Ming-Zeit. Das Portrait trägt die Inschrift „Portrait von Meister Wen Gong“ (Zhu Xis posthumer Ehrenname).
Werk von Guo Xu (1456–1532). China, Ming-Zeit. Baike.

Unter den Einflüssen aus China übte v.a. der sogenannte Neo-Konfuzianismus in Gestalt der Lehren des chinesischen Philosophen Zhu Xi [Zhu Xi (chin.) 朱熹 1130–1200; chin. Philosoph; Begründer des Neo-Konfuzianismus] (auch Chu Hsi, 1130–1200, jap. Shushi) eine große Anziehungskraft auf die intellektuelle Avantgarde der frühen Edo-Zeit aus. Im Gegensatz zum klassischen Konfuzianismus, der ja im wesentlichen eine Philosophie der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten darstellt und sich daher vor allem auf das Diesseits bezieht, beschäftigte sich Zhu Xi auch mit Fragen des Übernatürlichen und der Religion und entwickelte ein Erklärungsmodell des Kosmos, das viele Berührungspunkte mit dem Buddhismus aufweist. Zugleich bediente er sich aber auch klassischer konfuzianischer Konzepte, vor allem der Kategorien „öffentlich“ (kō, ōyake [ (jap.) „öffentlich“]) und „privat“ (shi, watakushi [shi (jap.) „privat“]). Dieser Gegensatz kann auch durch die Begriffe „gemeinnützig“ und „eigennützig“ ausgedrückt werden und enthält eine eindeutige Wertung zugunsten des „Öffentlichen“. Unter konfuzianischen Gesichtspunkten ist nur das von Wert, was dem allgemeinen Wohl der Öffentlichkeit dient, „öffentlich“ ist somit gleichbedeutend mit „gut“. Sämtliche private Interessen werden dagegen potentiell schädlich für Gesellschaft und Staat aufgefasst und werden entsprechend negativ bewertet.

Für die Edo-zeitlichen Gelehrten stellten die Kategorien öffentlich und privat den Ausgangspunkt einer fundamentalen Kritik an den hergebrachten Formen des Buddhismus dar, weil dieser sich zu wenig um das gesellschaftliche Gemeinwohl kümmern würde. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Kritik war die zunehmende Ablehnung esoterisch-buddhistischer Wissensvermittlung: Geheimlehren, die nur mündlich von Meister zu Schüler weitergegeben werden durften, galten den Konfuzianern als etwas „Privates“ oder „Eigennütziges“, das abzulehnen war. Religiöse Wahrheiten sollten der Öffentlichkeit dienen und allgemein zugänglich sein. Die damals weit verbreiteten Formen des esoterischen Buddhismus wurden aus der Sicht der konfuzianischen Kritik zum Inbegriff eigennütziger Geheimniskrämerei.

Die Entdeckung der Geschichte

Ein weiterer Reiz lag für die Intellektuellen der Edo-Zeit in der konfuzianischen Geschichtsphilosophie. Schon Konfuzius hatte den Sinn von Geschichte darin gesehen, der Gegenwart einen „Spiegel“ vorzuhalten. Einerseits fand er in der Geschichte Vorbilder einer guten Herrschaft, andererseits aber auch abschreckende Beispiele. Konfuzius benützte Geschichte mit einem Wort als didaktisches Mittel, um die gegenwärtige Politik zu kritisieren oder zu loben. Spätere Konfuzianer folgten ihm darin. Manche kritisierten ihre Herrscher, andere boten sich als Ideologen an, um deren Herrschaft zu legitimieren.

In jedem Fall musste die Geschichte zunächst in einer Weise präsentiert werden, dass sich aus ihr Gutes und Schlechtes herauslesen ließ. Konfuzianische Historiker sahen sich daher nicht als neutrale Berichterstatter oder objektive Chronisten, sondern erachteten es als ihre Aufgabe, die Prinzipien einer guten Politik aus der Geschichte heraus zu destillieren. Dieses Ziel verfolgte u.a. auch Sima Qian [Sima Qian (chin.) 司馬遷 145?–86? v.u.Z.; Han-zeitlicher Historiker, Begründer der chinesischen Historiographie], der Anfang der han [han (jap.) lokales Feudalfürstentum, Spätmittelalter bis Edo-Zeit; auch Daimyat (Lehen eines Daimyō)]-Zeit die erste umfassende Geschichte Chinas schrieb und damit stilprägend wirkte.

Hayashi razan.jpg
2 Hayashi Razan
Der konfuzianische Gelehrte Hayashi Razan, Autor von Werken wie Honchō tsugan ( Geschichte Japans, 1670).
National Institute for Japanese Literature.

Es ist daher kein Zufall, dass Anfang der Edo-Zeit eine Reihe monumentaler Geschichtswerke unter konfuzianischem Einfluss entstanden. So legte etwa der Hof-Konfuzianer des Shōgun [Shōgun (jap.) 将軍 Shōgun; Titel der Militärherrscher aus dem Kriegeradel (bushi, Samurai)], Hayashi Gahō [Hayashi Gahō (jap.) 林鵞峰 1618–1680; neo-konfuzianischer Gelehrter und Hof-Konfuzianer des Tokugawa Shōgunats; Sohn von Hayashi Razan] (1618–1680), im Jahr 1670 eine Geschichte Japans (Honchō tsugan [Honchō tsugan (jap.) 本朝通鑑 Geschichte Japans von Hayashi Gahō und Hayashi Razan; 1670 fertiggestellt; 310 Bände]) in 310 Bänden (oder Faszikeln) vor, an der er und sein Vater, Hayashi Razan [Hayashi Razan (jap.) 林羅山 1583–1657; neo-konfuzianischer Gelehrter] jahrzehntelang im Auftrag des Shōgunats gearbeitet hatten. Zur gleichen Zeit begann Tokugawa Mitsukuni [Tokugawa Mitsukuni (jap.) 徳川光圀 1628–1701; Daimyō von Mito, konfuzianischer Gelehrter und Historiker], der Daimyō [Daimyō (jap.) 大名 Territorialfürst, Titel des Kriegeradels] von Mito, seine „Große Geschichte Japans“ (Dai Nihon-shi [Dai Nihon-shi (jap.) 大日本史 Gesamtdarstellung der japanischen Geschichte bis 1392 in 397 Bänden, verfasst zw. 1657 und 1906]), ein noch umfangreicheres Projekt, das 1720 in fragmentarischer Form veröffentlicht, aber erst 1906, also nach etwa 250 Jahren, in Form von knapp 400 Bänden abgeschlossen wurde. In beiden Fällen folgten die Historiker chinesischen Vorbildern, indem sie sich strikt an den Regierungszeiten der Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels] und nicht etwa an den Herrschaftsperioden der Shōgune orientierten.

Das nationale Erbe

Mit der Betonung der eigenen Vergangenheit kamen aber auch Elemente ins Spiel, die die japanischen Konfuzianisten von China entfremdeten, da sie ja danach trachteten, Japan als eine China zumindest ebenbürtige Zivilisation darzustellen. Daher fühlten sich viele Intellektuelle zum aufkommenden Shintō hingezogen. Die durch den Yoshida Shintō [Yoshida Shintō (jap.) 吉田神道 mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo] bereits seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts propagierte Idee eines „reinen Shintō“, der weder von chinesischen noch von indischen Gedanken getrübt sei, fiel in der frühen Edo-Zeit auf fruchtbaren Boden und begann auch außerhalb des Einflussbereichs der Yoshida Priester Früchte zu treiben. Obwohl von der Grundhaltung her xenophob und daher auch gegen China gerichtet, sahen shintōistische Erneuerer der frühen Edo-Zeit im Buddhismus ihren Hauptgegner und sympathisierten daher mit der Buddhismuskritik der Konfuzianer. Umgekehrt entwickelten die namhaftesten Vertreter des japanischen Neo-Konfuzianismus wie Hayashi Razan oder Yamazaki Ansai [Yamazaki Ansai (jap.) 山崎闇斎 1618–1682; Neo-Konfuzianist und Shintō-Theologe] (1618–1682) jeweils auch ihre eigenen Visionen einer shintōistischen Lehre.

Somit bildete sich also eine anti-buddhistische Front aus neo-konfuzianischen Intellektuellen und Shintō-Priestern, die immer wieder von einzelnen Feudalherren unterstützt wurde. In einzelnen Daimyaten wurde sogar das terauke System, also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Tempel, durch eine Art shintō-uke [shintō-uke (jap.) 神道請 Glaubensüberprüfung durch Shintō-Schreine; Sonderform des terauke-Systems in der Edo-Zeit], also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Schrein ersetzt. Zu den prominentesten Förderern der shintō-konfuzianischen Reformideen zählten Hoshina Masayuki [Hoshina Masayuki (jap.) 保科正之 1611–1673; Daimyō von Aizu-han, Regent von Shōgun Tokugawa Ietsuna, konfuzianischer Gelehrter] (1611–1672), Daimyō von Aizu und Regent des Shōgun Ietsuna, oder der bereits erwähnte Tokugawa Mitsukuni, der durch sein Geschichtsprojekt zum Mäzen der neo-konfuzianischen Mito-Schule wurde.

Dennoch kann man meiner Ansicht nach nicht sagen, dass der Neo-Konfuzianismus die offizielle Staatsideologie der Tokugawa darstellte, wie in der älteren Fachliteratur häufig angenommen. In religiösen Fragen machte sich das Shōgunat eine politische Linie zu eigen, die einerseits autoritär, andererseits aber pragmatisch und eklektizistisch war: Buddhismus ja, aber in „gezähmter Form“. Dazu wo immer brauchbar auch Konfuzianismus und Shintō. In dieser ideologischen Unbestimmtheit liegt wahrscheinlich der größte Unterschied der Tokugawa Religionspolitik zu den zeitgleichen Entwicklungen in Europa. Obwohl da wie dort ähnliche, d.h. inquisitorische Methoden der ideologischen Kontrolle eingesetzt wurden, gründete diese Kontrolle im Fall des Christentums auf einer rigiden Dogmatik, im Fall Japan hingegen auf einem pragmatisch erstellten Katalog verbotener Lehren. Es gab natürlich dogmatische neo-konfuzianische Staatsdenker, doch ihre Theorien waren lediglich so etwas wie ein intellektuelles Experimentierfeld der frühen Edo-Zeit, das die tatsächliche religiöse und religionspolitische Praxis nur am Rande betraf.

Gelehrter hokkei.jpg
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Gelehrter beim nächtlichen Studium.
Werk von Totoya Hokkei. Edo-Zeit, 1822–1830. The British Museum.

Verweise

Literatur

Siehe auch Literaturliste

Klaus Kracht, Studien zur Geschichte des Denkens im Japan des 17. bis 19. Jahrhunderts: Chu-Hsi-konfuzianische Geist-Diskurse. Wiesbaden: Harrassowitz, 1986.
Peter Nosco (Hg.), Confucianism and Tokugawa Culture. Honolulu: University of Hawaii Press, 1997. [Erste Auflage Princeton 1984.]
Herman Ooms, Tokugawa Ideology: Early Constructs, 1570–1680. Princeton: Princeton University Press, 1985.
Bernhard Scheid, „Shinto as a Religion for the Warrior Class: The Case of Yoshikawa Koretaru“. Japanese Journal of Religious Studies 29/3–4 (2002), 299–324. (Online.)

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite

  1. ^ 
    Zhuxi guoxu.jpg
    Der chinesische Philosoph Zhu Xi (1130–1200), der maßgeblich für die Renaissance des Konfuzianismus (Neo-Konfuzianismus) in China und später auch in Japan verantwortlich ist, auf einem Portrait aus der Ming-Zeit. Das Portrait trägt die Inschrift „Portrait von Meister Wen Gong“ (Zhu Xis posthumer Ehrenname).
    Werk von Guo Xu (1456–1532). China, Ming-Zeit. Baike.
  2. ^ 
    Hayashi razan.jpg
    Der konfuzianische Gelehrte Hayashi Razan, Autor von Werken wie Honchō tsugan ( Geschichte Japans, 1670).
    National Institute for Japanese Literature.
  1. ^ 
    Gelehrter hokkei.jpg
    Gelehrter beim nächtlichen Studium.
    Werk von Totoya Hokkei. Edo-Zeit, 1822–1830. The British Museum.

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • Daimyō 大名 ^ Territorialfürst, Titel des Kriegeradels
  • Dai Nihon-shi 大日本史 ^ Gesamtdarstellung der japanischen Geschichte bis 1392 in 397 Bänden, verfasst zw. 1657 und 1906
  • Edo 江戸 ^ Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);
  • han^ lokales Feudalfürstentum, Spätmittelalter bis Edo-Zeit; auch Daimyat (Lehen eines Daimyō)
  • Hayashi Gahō 林鵞峰 ^ 1618–1680; neo-konfuzianischer Gelehrter und Hof-Konfuzianer des Tokugawa Shōgunats; Sohn von Hayashi Razan
  • Hayashi Razan 林羅山 ^ 1583–1657; neo-konfuzianischer Gelehrter
  • Honchō tsugan 本朝通鑑 ^ Geschichte Japans von Hayashi Gahō und Hayashi Razan; 1670 fertiggestellt; 310 Bände
  • Hoshina Masayuki 保科正之 ^ 1611–1673; Daimyō von Aizu-han, Regent von Shōgun Tokugawa Ietsuna, konfuzianischer Gelehrter
  • jukyō 儒教 ^ Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten
  • ^ „öffentlich“
  • sakoku 鎖国 ^ Abschließung des Landes in der Edo-Zeit, 1639–1853
  • shi^ „privat“
  • Shintō 神道 ^ Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami
  • shintō-uke 神道請 ^ Glaubensüberprüfung durch Shintō-Schreine; Sonderform des terauke-Systems in der Edo-Zeit
  • Shōgun 将軍 ^ Shōgun; Titel der Militärherrscher aus dem Kriegeradel (bushi, Samurai)
  • Sima Qian (chin.) 司馬遷 ^ 145?–86? v.u.Z.; Han-zeitlicher Historiker, Begründer der chinesischen Historiographie
  • Tennō 天皇 ^ jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels
  • Tokugawa 徳川 ^ Kriegerdynastie, die während der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603–1867) das Amt des Militärmachthabers (Shōgun) inne hatte.
  • Tokugawa Mitsukuni 徳川光圀 ^ 1628–1701; Daimyō von Mito, konfuzianischer Gelehrter und Historiker
  • Yamazaki Ansai 山崎闇斎 ^ 1618–1682; Neo-Konfuzianist und Shintō-Theologe
  • Yoshida Shintō 吉田神道 ^ mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo
  • Zhu Xi (chin.) 朱熹 ^ 1130–1200; chin. Philosoph; Begründer des Neo-Konfuzianismus