Geschichte/Neo-Konfuzianismus: Unterschied zwischen den Versionen

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Für die Edo-zeitlichen Gelehrten stellten die Kategorien öffentlich und privat den Ausgangspunkt einer fundamentalen Kritik an den hergebrachten Formen des Buddhismus dar, weil dieser sich zu wenig um das gesellschaftliche Gemeinwohl kümmern würde. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Kritik war die zunehmende Ablehnung esoterisch-buddhistischer Wissensvermittlung: Geheimlehren, die nur mündlich von Meister zu Schüler weitergegeben werden durften, galten den Konfuzianern als etwas „Privates“ oder „Eigennütziges“, das abzulehnen war. Religiöse Wahrheiten sollten der Öffentlichkeit dienen und allgemein zugänglich sein. Die damals weit verbreiteten Formen des esoterischen Buddhismus wurden aus der Sicht der konfuzianischen Kritik zum Inbegriff eigennütziger Geheimniskrämerei.
  
Während der Buddhismus der frühen {{glossar:edo}}-Zeit immer stärker zu einem Vollzugsorgan der staatlichen Verwaltung wurde, erwachte innerhalb der intellektuellen Avantgarde ein neues Interesse am Konfuzianismus einerseits und an der Idee eines eigenständigen japanischen Shinto andererseits. China, das durch die Abschließungspolitik ({{Glossar:Sakoku}}) der Tokugawa in unerreichbare Ferne gerückt war, wurde von vielen Gelehrten als zivilisatorisches Leitbild wiederentdeckt, während andere in der mythischen Vergangenheit Japans nach einem idealen Gesellschaftsmodell suchten. Gemeinsam war beiden Strömungen, dass sie dem Buddhismus grundsätzlich kritisch gegenüber standen, auch wenn viele Intellektuelle ihre Kenntnisse in buddhistischen Klöstern erworben hatten oder gar als buddhistische Mönche tätig waren.
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== Die Entdeckung der Geschichte ==
  
Unter den Einflüssen aus China übte v.a. der sog. Neo-Konfuzianismus in Gestalt der Lehren des chinesischen Philosophen {{glossar:zhuxi}} (auch Chu Hsi, 1130–1200, jap. Shushi) eine große Anziehungskraft auf die intellektuelle Avantgarde der frühen Edo-Zeit aus. Im Gegensatz zum klassischen Konfuzianismus, der ja im wesentlichen eine Philosophie der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten darstellt und sich daher vor allem auf das Diesseits bezieht, beschäftigte sich Zhu Xi auch mit Fragen des Übernatürlichen und der Religion und entwickelte ein Erklärungsmodell des Kosmos, das viele Berührungspunkte mit dem Buddhismus aufweist. Zugleich bediente er sich aber auch klassischer konfuzianischer Konzepte, vor allem der Kategorien „öffentlich ({{glossar:kou|''kō, ōyake''}}) = gemeinnützig“ und „privat ({{glossar:shi|''shi'', ''watakushi''}}) = eigennützig“. Unter konfuzianischen Gesichtspunkten ist nur das von Wert, was dem allgemeinen Wohl der Öffentlichkeit dient, „öffentlich“ ist somit gleichbedeutend „gut“. Sämtliche private Interessen werden dagegen potentiell schädlich für Gesellschaft und Staat aufgefasst und werden entsprechend negativ bewertet.
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Ein weiterer Reiz lag für die Intellektuellen der Edo-Zeit in der konfuzianischen Geschichtsphilosophie. Schon Konfuzius hatte den Sinn von Geschichte darin gesehen, der Gegenwart einen „Spiegel“ vorzuhalten. Einerseits fand er in der Geschichte Vorbilder einer guten Herrschaft, andererseits aber auch abschreckende Beispiele. Konfuzius benützte Geschichte mit einem Wort als didaktisches Mittel, um die gegenwärtige Politik zu kritisieren oder zu loben. Spätere Konfuzianer folgten ihm darin. Manche kritisierten ihre Herrscher, andere boten sich als Ideologen an, um deren Herrschaft zu legitimieren.  
  
Für die Edo-zeitlichen Gelehrten stellten die Kategorien öffentlich und privat den Ausgangspunkt einer fundamentalen Kritik an den hergebrachten Formen des Buddhismus dar. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Kritik war die zunehmende Ablehnung esoterisch-buddhistischer Wissensvermittlung: Geheimlehren, die nur mündlich von Meister zu Schüler weitergegeben werden durften, galten den Konfuzianern als etwas „Privates“ oder „Eigennütziges“, das abzulehnen war. Religiöse Wahrheiten sollten der Öffentlichkeit dienen und allgemein zugänglich sein. Die damals weit verbreiteten Formen des esoterischen Buddhismus wurden aus der Sicht der konfuzianischen Kritik zum Inbegriff eigennütziger Geheimniskrämerei.
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In jedem Fall musste die Geschichte zunächst in einer Weise präsentiert werden, dass sich aus ihr Gutes und Schlechtes herauslesen ließ. Konfuzianische Historiker sahen sich daher nicht als neutrale Berichterstatter oder objektive Chronisten, sondern erachteten es als ihre Aufgabe, die Prinzipien einer guten Politik aus der Geschichte heraus zu destillieren. Dieses Ziel verfolgte u.a. auch {{g|simaqian}}, der Anfang der {{g|han}}-Zeit die erste umfassende Geschichte Chinas schrieb und damit stilprägend wirkte.
  
Andererseits fühlten sich viele Intellektuelle zum Shinto hingezogen, da der Neo-Konfuzianismus allein weder ihre spirituellen Bedürfnisse noch ihre Suche nach einer nationalen Identität befriedigen konnte. Die durch den [[Geschichte:Shinto_Mittelalter | Yoshida Shinto]] bereits seit Ende des 15. Jhs propagierte Idee eines reinen Shinto, der weder von chinesischen noch von indischen Gedanken getrübt sei, fiel in der frühen Edo-Zeit auf fruchtbaren Boden und begann, auch außerhalb des Einflussbereichs der Yoshida Priester Früchte zu treiben. Obwohl von der Grundhaltung her xenophob und daher auch gegen China gerichtet, sahen shintoistische Erneuerer der frühen Edo-Zeit im Buddhimus ihren Hauptgegner und sympathisierten daher mit der Buddhismuskritik der Konfuzianer. Umgekehrt entwickelten die namhaftesten Vertreter des japanischen Neo-Konfuzianismus wie {{glossar:hayashirazan}} (1583-1657) und {{glossar:yamazakiansai}} (1618-1682) jeweils auch ihre eigenen Visionen einer shintoistischen Lehre.
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Somit bildete sich also eine anti-buddhistische Front aus neo-konfuzianischen Intellektuellen und Shinto-Priestern, die immer wieder von einzelnen Feudalherren unterstützt wurde. In einzelnen Daimyaten wurde sogar das [[Geschichte:Terauke | ''terauke'' System]], also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Tempel, durch eine Art ''jinja-uke'', also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Schrein ersetzt. Zu den prominentesten Förderern der shinto-konfuzianischen Reformideen zählten Hoshina Masayuki (1611-72), Daimyō von Aizu und Regent des Shogun Ietsuna, oder Tokugawa Mitsukuni (1628-1700), Daimyō von Mito und Mäzen der neo-konfuzianischen Mito-Schule.
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== Das nationale Erbe ==
  
Dennoch kann man meiner Ansicht nach nicht sagen, dass der Neo-Konfuzianismus die offizielle Staatsideologie der Tokugawa darstellte, wie in der älteren Fachliteratur häufig angenommen. In religiösen Fragen machte sich das Shogunat eine politische Linie zu eigen, die einerseits autoritär, andererseits aber pragmatisch und eklektizistisch war: Buddhismus ja, aber in „gezähmter Form“. Dazu wo immer brauchbar auch Konfuzianismus und Shinto. In dieser ideologischen Unbestimmtheit liegt wahrscheinlich der größte Unterschied der Tokugawa Religionspolitik zu den zeitgleichen Entwicklungen in Europa. Obwohl da wie dort ähnliche, d.h. inquisitorische Methoden der ideologischen Kontrolle eingesetzt wurden, gründete diese Kontrolle im Fall des Christentums auf einer rigiden Dogmatik, im Fall Japan hingegen auf einem pragmatisch erstellten Katalog verbotener Lehren. Es gab natürlich dogmatische neo-konfuzianische Staatsdenker, doch ihre Theorien waren lediglich so etwas wie ein intellektuelles Experimentierfeld der frühen Edo-Zeit, das die tatsächliche religiöse und religionspolitische Praxis nur am Rande betraf.
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Mit der Betonung der eigenen Vergangenheit kamen aber auch Elemente ins Spiel, die die japanischen Konfuzianisten von China entfremdeten, da sie ja danach trachteten, Japan als eine China zumindest ebenbürtige Zivilisation darzustellen. Daher fühlten sich viele Intellektuelle zum aufkommenden Shintō hingezogen. Die durch den {{g|Yoshidashintou}} bereits seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts propagierte Idee eines „reinen Shintō“, der weder von chinesischen noch von indischen Gedanken getrübt sei, fiel in der frühen Edo-Zeit auf fruchtbaren Boden und begann auch außerhalb des Einflussbereichs der Yoshida Priester Früchte zu treiben. Obwohl von der Grundhaltung her xenophob und daher auch gegen China gerichtet, sahen shintōistische Erneuerer der frühen Edo-Zeit im Buddhismus ihren Hauptgegner und sympathisierten daher mit der Buddhismuskritik der Konfuzianer. Umgekehrt entwickelten die namhaftesten Vertreter des japanischen Neo-Konfuzianismus wie Hayashi Razan oder {{g|yamazakiansai}} (1618–1682) jeweils auch ihre eigenen Visionen einer shintōistischen Lehre.
  
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Somit bildete sich also eine anti-buddhistische Front aus neo-konfuzianischen Intellektuellen und Shintō-Priestern, die immer wieder von einzelnen Feudalherren unterstützt wurde. In einzelnen Daimyaten wurde sogar das [[Geschichte/Terauke | ''terauke'' System]], also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Tempel, durch eine Art {{g|shintouuke}}, also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Schrein ersetzt. Zu den prominentesten Förderern der shintō-konfuzianischen Reformideen zählten {{g|Hoshinamasayuki}} (1611–1672), Daimyō von Aizu und Regent des Shōgun Ietsuna, oder der bereits erwähnte Tokugawa Mitsukuni, der durch sein Geschichtsprojekt zum Mäzen der neo-konfuzianischen Mito-Schule wurde.
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Dennoch kann man meiner Ansicht nach nicht sagen, dass der Neo-Konfuzianismus die offizielle Staatsideologie der Tokugawa darstellte, wie in der älteren Fachliteratur häufig angenommen. In religiösen Fragen machte sich das Shōgunat eine politische Linie zu eigen, die einerseits autoritär, andererseits aber pragmatisch und eklektizistisch war: Buddhismus ja, aber in „gezähmter Form“. Dazu wo immer brauchbar auch Konfuzianismus und Shintō. In dieser ideologischen Unbestimmtheit liegt wahrscheinlich der größte Unterschied der Tokugawa Religionspolitik zu den zeitgleichen Entwicklungen in Europa. Obwohl da wie dort ähnliche, d.h. inquisitorische Methoden der ideologischen Kontrolle eingesetzt wurden, gründete diese Kontrolle im Fall des Christentums auf einer rigiden Dogmatik, im Fall Japan hingegen auf einem pragmatisch erstellten Katalog verbotener Lehren. Es gab natürlich dogmatische neo-konfuzianische Staatsdenker, doch ihre Theorien waren lediglich so etwas wie ein intellektuelles Experimentierfeld der frühen Edo-Zeit, das die tatsächliche religiöse und religionspolitische Praxis nur am Rande betraf.
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Aktuelle Version vom 10. November 2023, 15:31 Uhr

Neo-Konfuzianismus und konfuzianischer Shintō

Während der Buddhismus der frühen Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-Zeit immer stärker zu einem Vollzugsorgan der staatlichen Verwaltung wurde, erwachte innerhalb der intellektuellen Avantgarde ein neues Interesse am Konfuzianismus [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten] einerseits und an der Idee eines eigenständigen japanischen Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami] andererseits. China, das durch die Abschließungspolitik (sakoku [sakoku (jap.) 鎖国 Abschließung des Landes in der Edo-Zeit, 1639–1853]) der Tokugawa [Tokugawa (jap.) 徳川 Kriegerdynastie, die während der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603–1867) das Amt des Militärmachthabers (Shōgun) inne hatte.] in unerreichbare Ferne gerückt war, wurde von vielen Gelehrten als zivilisatorisches Leitbild wiederentdeckt, während andere in der mythischen Vergangenheit Japans nach einem idealen Gesellschaftsmodell suchten. Gemeinsam war beiden Strömungen, dass sie dem Buddhismus grundsätzlich kritisch gegenüber standen, auch wenn viele Intellektuelle ihre Kenntnisse in buddhistischen Klöstern erworben hatten oder gar als buddhistische Mönche tätig waren.

Öffentlicher Nutzen

Zhuxi guoxu.jpg
1 Zhu Xi
Der chinesische Philosoph Zhu Xi (1130–1200), der maßgeblich für die Renaissance des Konfuzianismus (Neo-Konfuzianismus) in China und später auch in Japan verantwortlich ist, auf einem Portrait aus der Ming-Zeit. Das Portrait trägt die Inschrift „Portrait von Meister Wen Gong“ (Zhu Xis posthumer Ehrenname).
Werk von Guo Xu (1456–1532). China, Ming-Zeit. Baike.

Unter den Einflüssen aus China übte v.a. der sogenannte Neo-Konfuzianismus in Gestalt der Lehren des chinesischen Philosophen Zhu Xi [Zhu Xi (chin.) 朱熹 1130–1200; chin. Philosoph; Begründer des Neo-Konfuzianismus] (auch Chu Hsi, 1130–1200, jap. Shushi) eine große Anziehungskraft auf die intellektuelle Avantgarde der frühen Edo-Zeit aus. Im Gegensatz zum klassischen Konfuzianismus, der ja im wesentlichen eine Philosophie der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten darstellt und sich daher vor allem auf das Diesseits bezieht, beschäftigte sich Zhu Xi auch mit Fragen des Übernatürlichen und der Religion und entwickelte ein Erklärungsmodell des Kosmos, das viele Berührungspunkte mit dem Buddhismus aufweist. Zugleich bediente er sich aber auch klassischer konfuzianischer Konzepte, vor allem der Kategorien „öffentlich“ (kō, ōyake [ (jap.) „öffentlich“]) und „privat“ (shi, watakushi [shi (jap.) „privat“]). Dieser Gegensatz kann auch durch die Begriffe „gemeinnützig“ und „eigennützig“ ausgedrückt werden und enthält eine eindeutige Wertung zugunsten des „Öffentlichen“. Unter konfuzianischen Gesichtspunkten ist nur das von Wert, was dem allgemeinen Wohl der Öffentlichkeit dient, „öffentlich“ ist somit gleichbedeutend mit „gut“. Sämtliche private Interessen werden dagegen potentiell schädlich für Gesellschaft und Staat aufgefasst und werden entsprechend negativ bewertet.

Für die Edo-zeitlichen Gelehrten stellten die Kategorien öffentlich und privat den Ausgangspunkt einer fundamentalen Kritik an den hergebrachten Formen des Buddhismus dar, weil dieser sich zu wenig um das gesellschaftliche Gemeinwohl kümmern würde. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Kritik war die zunehmende Ablehnung esoterisch-buddhistischer Wissensvermittlung: Geheimlehren, die nur mündlich von Meister zu Schüler weitergegeben werden durften, galten den Konfuzianern als etwas „Privates“ oder „Eigennütziges“, das abzulehnen war. Religiöse Wahrheiten sollten der Öffentlichkeit dienen und allgemein zugänglich sein. Die damals weit verbreiteten Formen des esoterischen Buddhismus wurden aus der Sicht der konfuzianischen Kritik zum Inbegriff eigennütziger Geheimniskrämerei.

Die Entdeckung der Geschichte

Ein weiterer Reiz lag für die Intellektuellen der Edo-Zeit in der konfuzianischen Geschichtsphilosophie. Schon Konfuzius hatte den Sinn von Geschichte darin gesehen, der Gegenwart einen „Spiegel“ vorzuhalten. Einerseits fand er in der Geschichte Vorbilder einer guten Herrschaft, andererseits aber auch abschreckende Beispiele. Konfuzius benützte Geschichte mit einem Wort als didaktisches Mittel, um die gegenwärtige Politik zu kritisieren oder zu loben. Spätere Konfuzianer folgten ihm darin. Manche kritisierten ihre Herrscher, andere boten sich als Ideologen an, um deren Herrschaft zu legitimieren.

In jedem Fall musste die Geschichte zunächst in einer Weise präsentiert werden, dass sich aus ihr Gutes und Schlechtes herauslesen ließ. Konfuzianische Historiker sahen sich daher nicht als neutrale Berichterstatter oder objektive Chronisten, sondern erachteten es als ihre Aufgabe, die Prinzipien einer guten Politik aus der Geschichte heraus zu destillieren. Dieses Ziel verfolgte u.a. auch Sima Qian [Sima Qian (chin.) 司馬遷 145?–86? v.u.Z.; Han-zeitlicher Historiker, Begründer der chinesischen Historiographie], der Anfang der han [han (jap.) lokales Feudalfürstentum, Spätmittelalter bis Edo-Zeit; auch Daimyat (Lehen eines Daimyō)]-Zeit die erste umfassende Geschichte Chinas schrieb und damit stilprägend wirkte.

Hayashi razan.jpg
2 Hayashi Razan
Der konfuzianische Gelehrte Hayashi Razan, Autor von Werken wie Honchō tsugan ( Geschichte Japans, 1670).
National Institute for Japanese Literature.

Es ist daher kein Zufall, dass Anfang der Edo-Zeit eine Reihe monumentaler Geschichtswerke unter konfuzianischem Einfluss entstanden. So legte etwa der Hof-Konfuzianer des Shōgun [Shōgun (jap.) 将軍 Shōgun; Titel der Militärherrscher aus dem Kriegeradel (bushi, Samurai)], Hayashi Gahō [Hayashi Gahō (jap.) 林鵞峰 1618–1680; neo-konfuzianischer Gelehrter und Hof-Konfuzianer des Tokugawa Shōgunats; Sohn von Hayashi Razan] (1618–1680), im Jahr 1670 eine Geschichte Japans (Honchō tsugan [Honchō tsugan (jap.) 本朝通鑑 Geschichte Japans von Hayashi Gahō und Hayashi Razan; 1670 fertiggestellt; 310 Bände]) in 310 Bänden (oder Faszikeln) vor, an der er und sein Vater, Hayashi Razan [Hayashi Razan (jap.) 林羅山 1583–1657; neo-konfuzianischer Gelehrter] jahrzehntelang im Auftrag des Shōgunats gearbeitet hatten. Zur gleichen Zeit begann Tokugawa Mitsukuni [Tokugawa Mitsukuni (jap.) 徳川光圀 1628–1701; Daimyō von Mito, konfuzianischer Gelehrter und Historiker], der Daimyō [Daimyō (jap.) 大名 Territorialfürst, Titel des Kriegeradels] von Mito, seine „Große Geschichte Japans“ (Dai Nihon-shi [Dai Nihon-shi (jap.) 大日本史 Gesamtdarstellung der japanischen Geschichte bis 1392 in 397 Bänden, verfasst zw. 1657 und 1906]), ein noch umfangreicheres Projekt, das 1720 in fragmentarischer Form veröffentlicht, aber erst 1906, also nach etwa 250 Jahren, in Form von knapp 400 Bänden abgeschlossen wurde. In beiden Fällen folgten die Historiker chinesischen Vorbildern, indem sie sich strikt an den Regierungszeiten der Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels] und nicht etwa an den Herrschaftsperioden der Shōgune orientierten.

Das nationale Erbe

Mit der Betonung der eigenen Vergangenheit kamen aber auch Elemente ins Spiel, die die japanischen Konfuzianisten von China entfremdeten, da sie ja danach trachteten, Japan als eine China zumindest ebenbürtige Zivilisation darzustellen. Daher fühlten sich viele Intellektuelle zum aufkommenden Shintō hingezogen. Die durch den Yoshida Shintō [Yoshida Shintō (jap.) 吉田神道 mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo] bereits seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts propagierte Idee eines „reinen Shintō“, der weder von chinesischen noch von indischen Gedanken getrübt sei, fiel in der frühen Edo-Zeit auf fruchtbaren Boden und begann auch außerhalb des Einflussbereichs der Yoshida Priester Früchte zu treiben. Obwohl von der Grundhaltung her xenophob und daher auch gegen China gerichtet, sahen shintōistische Erneuerer der frühen Edo-Zeit im Buddhismus ihren Hauptgegner und sympathisierten daher mit der Buddhismuskritik der Konfuzianer. Umgekehrt entwickelten die namhaftesten Vertreter des japanischen Neo-Konfuzianismus wie Hayashi Razan oder Yamazaki Ansai [Yamazaki Ansai (jap.) 山崎闇斎 1618–1682; Neo-Konfuzianist und Shintō-Theologe] (1618–1682) jeweils auch ihre eigenen Visionen einer shintōistischen Lehre.

Somit bildete sich also eine anti-buddhistische Front aus neo-konfuzianischen Intellektuellen und Shintō-Priestern, die immer wieder von einzelnen Feudalherren unterstützt wurde. In einzelnen Daimyaten wurde sogar das terauke System, also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Tempel, durch eine Art shintō-uke [shintō-uke (jap.) 神道請 Glaubensüberprüfung durch Shintō-Schreine; Sonderform des terauke-Systems in der Edo-Zeit], also die Zwangsmitgliedschaft bei einem lokalen Schrein ersetzt. Zu den prominentesten Förderern der shintō-konfuzianischen Reformideen zählten Hoshina Masayuki [Hoshina Masayuki (jap.) 保科正之 1611–1673; Daimyō von Aizu-han, Regent von Shōgun Tokugawa Ietsuna, konfuzianischer Gelehrter] (1611–1672), Daimyō von Aizu und Regent des Shōgun Ietsuna, oder der bereits erwähnte Tokugawa Mitsukuni, der durch sein Geschichtsprojekt zum Mäzen der neo-konfuzianischen Mito-Schule wurde.

Dennoch kann man meiner Ansicht nach nicht sagen, dass der Neo-Konfuzianismus die offizielle Staatsideologie der Tokugawa darstellte, wie in der älteren Fachliteratur häufig angenommen. In religiösen Fragen machte sich das Shōgunat eine politische Linie zu eigen, die einerseits autoritär, andererseits aber pragmatisch und eklektizistisch war: Buddhismus ja, aber in „gezähmter Form“. Dazu wo immer brauchbar auch Konfuzianismus und Shintō. In dieser ideologischen Unbestimmtheit liegt wahrscheinlich der größte Unterschied der Tokugawa Religionspolitik zu den zeitgleichen Entwicklungen in Europa. Obwohl da wie dort ähnliche, d.h. inquisitorische Methoden der ideologischen Kontrolle eingesetzt wurden, gründete diese Kontrolle im Fall des Christentums auf einer rigiden Dogmatik, im Fall Japan hingegen auf einem pragmatisch erstellten Katalog verbotener Lehren. Es gab natürlich dogmatische neo-konfuzianische Staatsdenker, doch ihre Theorien waren lediglich so etwas wie ein intellektuelles Experimentierfeld der frühen Edo-Zeit, das die tatsächliche religiöse und religionspolitische Praxis nur am Rande betraf.

Gelehrter hokkei.jpg
3
Gelehrter beim nächtlichen Studium.
Werk von Totoya Hokkei. Edo-Zeit, 1822–1830. The British Museum.

Verweise

Literatur

Siehe auch Literaturliste

Klaus Kracht, Studien zur Geschichte des Denkens im Japan des 17. bis 19. Jahrhunderts: Chu-Hsi-konfuzianische Geist-Diskurse. Wiesbaden: Harrassowitz, 1986.
Peter Nosco (Hg.), Confucianism and Tokugawa Culture. Honolulu: University of Hawaii Press, 1997. [Erste Auflage Princeton 1984.]
Herman Ooms, Tokugawa Ideology: Early Constructs, 1570–1680. Princeton: Princeton University Press, 1985.
Bernhard Scheid, „Shinto as a Religion for the Warrior Class: The Case of Yoshikawa Koretaru“. Japanese Journal of Religious Studies 29/3–4 (2002), 299–324. (Online.)

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite

  1. ^ 
    Zhuxi guoxu.jpg
    Der chinesische Philosoph Zhu Xi (1130–1200), der maßgeblich für die Renaissance des Konfuzianismus (Neo-Konfuzianismus) in China und später auch in Japan verantwortlich ist, auf einem Portrait aus der Ming-Zeit. Das Portrait trägt die Inschrift „Portrait von Meister Wen Gong“ (Zhu Xis posthumer Ehrenname).
    Werk von Guo Xu (1456–1532). China, Ming-Zeit. Baike.
  2. ^ 
    Hayashi razan.jpg
    Der konfuzianische Gelehrte Hayashi Razan, Autor von Werken wie Honchō tsugan ( Geschichte Japans, 1670).
    National Institute for Japanese Literature.
  1. ^ 
    Gelehrter hokkei.jpg
    Gelehrter beim nächtlichen Studium.
    Werk von Totoya Hokkei. Edo-Zeit, 1822–1830. The British Museum.

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • Daimyō 大名 ^ Territorialfürst, Titel des Kriegeradels
  • Dai Nihon-shi 大日本史 ^ Gesamtdarstellung der japanischen Geschichte bis 1392 in 397 Bänden, verfasst zw. 1657 und 1906
  • Edo 江戸 ^ Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);
  • han^ lokales Feudalfürstentum, Spätmittelalter bis Edo-Zeit; auch Daimyat (Lehen eines Daimyō)
  • Hayashi Gahō 林鵞峰 ^ 1618–1680; neo-konfuzianischer Gelehrter und Hof-Konfuzianer des Tokugawa Shōgunats; Sohn von Hayashi Razan
  • Hayashi Razan 林羅山 ^ 1583–1657; neo-konfuzianischer Gelehrter
  • Honchō tsugan 本朝通鑑 ^ Geschichte Japans von Hayashi Gahō und Hayashi Razan; 1670 fertiggestellt; 310 Bände
  • Hoshina Masayuki 保科正之 ^ 1611–1673; Daimyō von Aizu-han, Regent von Shōgun Tokugawa Ietsuna, konfuzianischer Gelehrter
  • jukyō 儒教 ^ Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten
  • ^ „öffentlich“
  • sakoku 鎖国 ^ Abschließung des Landes in der Edo-Zeit, 1639–1853
  • shi^ „privat“
  • Shintō 神道 ^ Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami
  • shintō-uke 神道請 ^ Glaubensüberprüfung durch Shintō-Schreine; Sonderform des terauke-Systems in der Edo-Zeit
  • Shōgun 将軍 ^ Shōgun; Titel der Militärherrscher aus dem Kriegeradel (bushi, Samurai)
  • Sima Qian (chin.) 司馬遷 ^ 145?–86? v.u.Z.; Han-zeitlicher Historiker, Begründer der chinesischen Historiographie
  • Tennō 天皇 ^ jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels
  • Tokugawa 徳川 ^ Kriegerdynastie, die während der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603–1867) das Amt des Militärmachthabers (Shōgun) inne hatte.
  • Tokugawa Mitsukuni 徳川光圀 ^ 1628–1701; Daimyō von Mito, konfuzianischer Gelehrter und Historiker
  • Yamazaki Ansai 山崎闇斎 ^ 1618–1682; Neo-Konfuzianist und Shintō-Theologe
  • Yoshida Shintō 吉田神道 ^ mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo
  • Zhu Xi (chin.) 朱熹 ^ 1130–1200; chin. Philosoph; Begründer des Neo-Konfuzianismus