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| Obwohl die Figur des Ryōgen schon zu Lebzeiten von zahlreichen Legenden umrankt war, ist der Kult des Gehörnten Meisters wahrscheinlich erst nach einigen Transformationen entstanden. Seine heutige Form scheint in besonderer Weise durch den Tendai-Mönch {{g|Tenkai}} (1536–1643) geprägt worden zu sein. Tenkai, der offenbar über hundert Jahre alt wurde und eine Karriere als Krieger gemacht haben soll, bevor er in den Mönchsstand eintrat, gestaltete als Berater von {{g|Tokugawaieyasu}} die religiösen Verhältnisse unter dem Tokugawa-Regime (1600–1867) entscheidend mit. Nach Ieyasus Tod wurde er mit dessen Bestattung und Vergöttlichung in {{g|Nikkou}} betraut. Schon zuvor veranlasste er u.a. die Restauration des Enryaku-ji, welcher im Zuge einer Vergeltungsaktion durch {{g|Odanobunaga}} im Jahre 1571 dem Erdboden gleich gemacht worden war. Erst unter Tenkai erholte sich der Tendai Buddhismus von diesem Schlag. Allerdings verlagerte sich der Schwerpunkt der Schule unter Tenkai von Kyōto in die neue Shogunats-Hauptstadt Edo, wo mit dem {{g|Kaneiji}} ein neues Zentrum des Tendai-Buddhismus entstand. Neben diesen organisatorischen Leistungen erlangte Tenkai im Volk auch durch andere Gesten Beliebtheit. So soll er in Ueno einen Kirschblütenbaum aus Yoshino (Nara) für die Bewohner Edos herbeibringen lassen (und damit für die berühmte Kirschenblütenschau in diesem Park verantwortlich sein). Auch die Lotos-Pflanzen im nahe gelegenen {{g|shinobazunoike|Shinobazu}}-Teich sollen auf Tenkai zurückgehen, der den Teich als Ort für die buddhistische Freilassungszeremonie von Tieren ({{g|houjoue}}) etablierte. Tenkai initiierte zudem den ersten Druck des buddhistischen Kanons in Japan. Diese Errungenschaften waren Anlass dafür, dass Tenkai, ähnlich wie Ryōgen, vom Kaiserhof postum den nur in seltensten Fällen verliehenen ''daishi''-Titel erhielt und daher auch als {{g|Jigendaishi}} bekannt ist. | | Obwohl die Figur des Ryōgen schon zu Lebzeiten von zahlreichen Legenden umrankt war, ist der Kult des Gehörnten Meisters wahrscheinlich erst nach einigen Transformationen entstanden. Seine heutige Form scheint in besonderer Weise durch den Tendai-Mönch {{g|Tenkai}} (1536–1643) geprägt worden zu sein. Tenkai, der offenbar über hundert Jahre alt wurde und eine Karriere als Krieger gemacht haben soll, bevor er in den Mönchsstand eintrat, gestaltete als Berater von {{g|Tokugawaieyasu}} die religiösen Verhältnisse unter dem Tokugawa-Regime (1600–1867) entscheidend mit. Nach Ieyasus Tod wurde er mit dessen Bestattung und Vergöttlichung in {{g|Nikkou}} betraut. Schon zuvor veranlasste er u.a. die Restauration des Enryaku-ji, welcher im Zuge einer Vergeltungsaktion durch {{g|Odanobunaga}} im Jahre 1571 dem Erdboden gleich gemacht worden war. Erst unter Tenkai erholte sich der Tendai Buddhismus von diesem Schlag. Allerdings verlagerte sich der Schwerpunkt der Schule unter Tenkai von Kyōto in die neue Shogunats-Hauptstadt Edo, wo mit dem {{g|Kaneiji}} ein neues Zentrum des Tendai-Buddhismus entstand. Neben diesen organisatorischen Leistungen erlangte Tenkai im Volk auch durch andere Gesten Beliebtheit. So soll er in Ueno einen Kirschblütenbaum aus Yoshino (Nara) für die Bewohner Edos herbeibringen lassen (und damit für die berühmte Kirschenblütenschau in diesem Park verantwortlich sein). Auch die Lotos-Pflanzen im nahe gelegenen {{g|shinobazunoike|Shinobazu}}-Teich sollen auf Tenkai zurückgehen, der den Teich als Ort für die buddhistische Freilassungszeremonie von Tieren ({{g|houjoue}}) etablierte. Tenkai initiierte zudem den ersten Druck des buddhistischen Kanons in Japan. Diese Errungenschaften waren Anlass dafür, dass Tenkai, ähnlich wie Ryōgen, vom Kaiserhof postum den nur in seltensten Fällen verliehenen ''daishi''-Titel erhielt und daher auch als {{g|Jigendaishi}} bekannt ist. |
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| Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich schließlich ein „Kult der beiden Großmeister“ ({{g|ryoudaishishinkou}}) feststellen, der vom Kan’ei-ji in Edo, also von Tenkais unmittelbaren Nachfolgern ausging. So hatte man zu dieser Zeit an jedem Monatsende einen Festtag zu Ehren er beiden Meister festgelegt, an welchem ihre Skulpturen in einer zeremoniellen Parade zu Tempeln in der ganzen Stadt getragen wurden. Mächtige Daimyō wetteiferten in ihrer Unterstützung dieses Kults, um den Umzug auch an Tempeln in ihren Stadtresidenzen vorbeikommen zu lassen und sicherten sich auf diese Weise das Wohlwollen lokaler Gemeinden. | | Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich schließlich ein „Kult der beiden Großmeister“ ({{g|ryoudaishishinkou}}) feststellen, der vom Kan’ei-ji in Edo, also von Tenkais unmittelbaren Nachfolgern ausging. So hatte man zu dieser Zeit an jedem Monatsende einen Festtag zu Ehren er beiden Meister festgelegt, an welchem ihre Skulpturen in einer zeremoniellen Parade zu Tempeln in der ganzen Stadt getragen wurden. Mächtige Daimyō wetteiferten in ihrer Unterstützung dieses Kults, um den Umzug auch an Tempeln in ihren Stadtresidenzen vorbeikommen zu lassen und sicherten sich auf diese Weise das Wohlwollen lokaler Gemeinden. |
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Feuer mit Feuer bekämpfen Der Gehörnte Meister und sein Kult
Der vorliegende Gast·bei·trag von Josko Kozic beruht auf einem Aufsatz des Autors für die OAG Notizen (...) und wurde in Zusammenarbeit mit dem Herausgeber von Religion-in-Japan für die Online Präsentation adaptiert.
Achtung: Sie sehen eine veraltete Version von https://religion-in-japan.univie.ac.at/Handbuch/Essays/Tsuno_Daishi.
In den komplex verwobenen Glaubensvorstellungen des japanischen Buddhismus und des Shintō finden sich viele Beispiele für verehrte Figuren, die im Laufe ihrer Geschichte „die Seiten wechseln“, sowohl was ihre religiöse Zugehörigkeit als auch, was ihre moralische Bewertung betrifft. Dazu lassen sich auch Dämonen zählen, welche nach ihrer Bezwingung und Unterwerfung (meist durch die Hand von mächtigen Mönchen) zu Wächtern der buddhistischen Lehre (Dharma [Dharma (skt.) धर्म Gesetz (des Universums), Lehre (des Buddha) (jap. hō 法)]) und/oder zu Beschützern der Menschen vor Krankheit und Unheil werden. Als ein in ganz Japan prominenter Vertreter der letzteren Gruppe soll im folgenden Aufsatz der „Gehörnte Meister“ (Tsuno Daishi [Tsuno Daishi (jap.) 角大師 wtl. „gehörnter Großmeister“; Beinamen des Mönchs Ryōgen in seiner Gestalt als Dämon]) und sein Glaubenskult vorgestellt werden.
Ryōgen
Die komplexe Gestalt des Gehörnten Meisters stellt ein einzigartiges Beispiel für die Symbiose von Mensch und Dämon dar und zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie eigene Glaubensbewegungen hervorrief, die einst weite Verbreitung in Japan fanden und auch heute noch Spuren im religiösen Alltag hinterlassen. Ausgangspunkt war die Legende eines gewissen Tendai [Tendai-shū (jap.) 天台宗 Tendai-Schule, chin. Tiantai]-Mönchs namens Ryōgen [Ryōgen (jap.) 良源 912–985; 18. Abt (zasu) der Tendai-Schule; unter Namen wie Jie Daishi, Ganzan Daishi, Tsuno Daishi oder Mame Daishi auch als Schutzheiliger populär], der einen seuchenbringenden Dämon erfolgreich schlagen und vertreiben konnte, indem er zuvor selbst die Gestalt eines Dämons angenommen hatte. Es ist diese Gestalt, die als „Gehörnter Meister“ schließlich vergöttlicht wurde. Wie in diesem Artikel gezeigt wird, ist dieser Kult aber nicht zu erklären, wenn man nicht auch die historische Figur des Ryōgen, einschließlich seines politischen Einflusses und seines Charismas bei Klerus, Adel und Volk mit berücksichtigt.
Biographie
Ryōgen wurde im Jahre 912 in der Gemeinde Azai der Provinz Ōmi (heutige Stadt Nagahama in der Präfektur Shiga), am Standort des heutigen Gyokusen-ji [Gyokusen-ji (jap.) 玉泉寺 „Tempel der Juwelenquelle“; Tendai-Tempel am Biwa-See; gegründet um 980 von Ryōgen, der hier geboren wurde und auch den Hauptverehrungsgegenstand des Tempels darstellt] („Tempel der Juwel-Quelle“) geboren.1 Ryōgens Vater entstammte der chinesisch-stämmigen Familie Kozu, seine Mutter dem alten Mononobe [Mononobe (jap.) 物部 wtl. „Sippe der Dinge“; altjap. Klan, der gegen den Buddhismus eingestellt war]-Clan, doch scheint die Familie in eher bescheidenen Verhältnissen gelebt zu haben. Spätere Biographen versuchten, Ryōgen eine schillerndere Abstammung zuzuschreiben, sodass er bisweilen auch als ein Nachkömmling des Uda Tennō oder des Gelehrten und postum vergöttlichten Sugawara no Michizane [Sugawara no Michizane (jap.) 菅原道真 845–903, Heian-zeitl. Staatsmann und Gelehrter; posthum als Tenman Tenjin vergöttlicht, heute Gott der Gelehrsamkeit] ausgewiesen wird. Im Alter von 11 Jahren wurde Ryōgen im Tendai-Zentrum Enryaku-ji [Enryaku-ji (jap.) 延暦寺 Haupttempel des Hiei Klosterbergs] auf Berg Hiei [Hiei-zan (jap.) 比叡山 Klosterberg Hiei bei Kyōto, traditionelles Zentrum des Tendai Buddhismus] als Mönchsschüler aufgenommen und soll bereits in jungen Jahren durch seine beeindruckende Intelligenz und seine außergewöhnliche Redegewandtheit die Gunst der mächtigen Fujiwara [Fujiwara (jap.) 藤原 mächtigste Adelsfamilie im jap. Altertum] erworben haben. Er erlangte dank dieser Wertschätzung Positionen, die ansonsten nur Mitgliedern des Hochadels vorbehalten waren, und hielt u.a. Riten für das persönliche Wohl der kaiserlichen Familie und die Geburt eines Thronfolgers ab. 966 stieg er zum 18. Oberhaupt (zasu [zasu (jap.) 座主 Oberabt; höchstes Amt innerhalb des japanischen Tendai Buddhismus]) der Tendai-Schule auf. Mit 54 Jahren war er einer der jüngsten, die dieses Amt je innehatten.
Der Enryaku-ji Klosterkomplex war zu Ryōgens Zeit von existenzbedrohenden Krisen bedroht: weite Teile der Anlage waren Opfer von Naturkatastrophen und Bränden geworden, während ein Schisma der Tendai-Schule zu häufigen, mitunter gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dem Erzrivalen Onjō-ji [Onjō-ji (jap.) 園城寺 auch Mii-dera 三井寺; Tendai-Tempel am Biwa-See, unweit des Hiei-zan; Haupttempel der sogenannten Tempel-Fraktion (jimon 寺門) des Tendai Buddhismus] (Mii-dera), einem Tempel am Fuße des Klosterberges, führte. In dieser Situation setzte sich Ryōgen zum einen tatkräftig für eine Restauration der zerstörten Tempel und Pagoden ein, trieb aber auch die theoretischen Studien im Bergkloster voran und schärfte die religiösen Disziplinen und Mönchsvorschriften. Dadurch stärkte er die Position des Klosters und die Zahl der Novizen stieg neuerlich an. Als Meister der Debatte, die damals in buddhistischen Kreisen häufig zwischen konkurrierenden Schulen gepflegt wurde, gelang es ihm, den Tendai Buddhismus bei Hof gegenüber den sogenannten Nara-Schulen in den Vordergrund zu rücken. Des Weiteren sorgte Ryōgen als erster für eine systematische militärische Verteidigung und gilt insofern als Begründer der bewaffneten Mönchsheere (sōhei [sōhei (jap.) 僧兵 Kriegermönch, Mönchssoldat]),2 die im Mittelalter an allen großen Tempeln und Klöstern Japans zu finden waren.
Ryōgens Karriere wurde schließlich durch Ernennungen zum Erzbischof (daisōzu [daisōzu (jap.) 大僧都 „Erzbischof“; führendes Amt in der landesweiten Klosterverwaltung (sōgō)], 975) und Kardinal (daisōjō [daisōjō (jap.) 大僧正 „Kardinal“; höchstes Amt in der landesweiten Klosterverwaltung (sōgō)], 981) gekrönt, vom Hof vergebene Ämter, die den Vorsitz über sämtliche buddhistischen Einrichtungen des Landes implizierten. Er starb im Alter von 74 und erhielt als besondere Auszeichnung vom kaiserlichen Hof postum den Namen Jie Daishi [Jie Daishi (jap.) 慈恵大師 posthumer Ehrentitel des Tendai-Mönchs Ryōgen] („Großer Meister der Mildtätigkeit“). Eine andere respektvolle Bezeichnung, die seine Leistung widerspiegelt, ist „Patriarch, der Berg Hiei neu erstehen ließ“.3 Weitere populäre Beinamen sind der bereits genannte Gehörnte Großmeister sowie „Großer Meister des Dritten Ersten“ (Ganzan Daishi [Ganzan Daishi (jap.) 元三大師 wtl. Meister des Dritten Ersten; respektvoller Beinamen des Ryōgen mit Bezug auf dessen Sterbedatum]), was auf seinen Todestag am dritten Tag im neuen Jahr Bezug nimmt. Diese Namen spiegeln bereits die Legenden um Ryōgens Person wider, die im folgenden Abschnitt behandelt werden.
Trotz des oft prunkvollen öffentlichen Wirkens, durch das sich Ryōgen auszeichnete, bestand er darauf, dass man ihm kein prächtiges Grab errichten solle, weshalb auch heute nur ein bescheidener Grabstein auf Berg Hiei an ihn erinnert. Das Grab lässt lediglich auf einen schon zu Lebzeiten vorhanden Hang zur Dämonologie schließen, da Ryōgen offenbar verlangte, dass man seine Überreste im Tempelbezirk Yokawa [Yokawa (jap.) 横川 trad. Tempelbezirk des Hiei-zan im Nordosten der Anlage], im nordöstlichsten Teil des Hiei-Komplexes bestatten solle. Diese Himmelsrichtung wird traditionellerweise als „Dämonentor“ (kimon [kimon (jap.) 鬼門 „Dämonentor“, Nord-Osten; nach alter Vorstellung die Richtung, aus der die Dämonen kommen]) bezeichnet, da von hier — alteigesessenen geomantischen Vorstellungen zufolge — die unheilvollsten Einflüsse herrühren sollen. Ähnlich wie der Enryaku-ji selbst im Nordosten von Kyōto die Hauptstadt vor Dämonen schützte, wollte Ryōgen dies offenbar seinerseits für den Tempel tun.
Vom Mönch zum Beschützer in dämonischer Gestalt
Noch besser bekannt als Ryōgen selbst ist seine Manifestation als dämonische Figur, die auch heute noch in ganz Japan in Form von Papiertalismanen an Eingängen von Häusern und Tempeln zu finden ist. Wenn man von zahlreichen lokalen Sonderformen absieht, lassen sich hinsichtlich Namen und ikonographischer Gestaltung drei gängige Abbildungsmuster des Ganzan Daishi [Ganzan Daishi (jap.) 元三大師 wtl. Meister des Dritten Ersten; respektvoller Beinamen des Ryōgen mit Bezug auf dessen Sterbedatum] identifizieren:
- Tsuno Daishi [Tsuno Daishi (jap.) 角大師 wtl. „gehörnter Großmeister“; Beinamen des Mönchs Ryōgen in seiner Gestalt als Dämon] („Gehörnter Meister“), ein stilisierter Dämon mit Hörnern, mager, lächelnd bzw. mit weicheren Zügen dargestellt. Diese Ikonographie ist am häufigsten anzutreffen.
- Gōma Daishi [Gōma Daishi (jap.) 降魔大師 „Dämonenbezwingender Meister“; Beinamen des Tendai-Patriarchen Ryōgen] („Dämonenbezwingender Meister“) oder oni [oni (jap.) 鬼 Dämon, „Teufel“; in sino-japanischer Aussprache (ki) ein allgemeiner Ausdruck für Geister] Daishi („Dämonenmeister“), in der Darstellung sehr kräftig und finster, mit „Wunschperle“ (hōju [hōju (jap.) 宝珠 wtl. Schatzperle; auch nyoi no tama, „Perle, die jeden Wunsch erfüllt“; skt. cintamani; magische Perle, meist, aber nicht nur, im buddhistischen Kontext])4 auf dem Haupt und einem vajra [vajra (skt.) वज्र „Donnerkeil“, Ritualinstrument und Symbol des tantristischen/esoterischen Buddhismus (jap. kongō 金剛)]-Zepter in der Hand, meist kniend auf einem Podest dargestellt.
- Mame Daishi [Mame Daishi (jap.) 魔滅大師 „Dämonenvernichtender Meister“; Beinamen des Tendai-Patriarchen Ryōgen] („Dämonenvernichtender Meister“), 33 kleine Abbildungen des Ryōgen in menschlicher Mönchsgestalt.
Tsuno Daishi
984 wurde Kyōto (wie öfter in seiner Geschichte) von einer fürchterlichen Seuche heimgesucht. Der Überlieferung nach gelang es Ryōgen, die dafür verantwortliche Gottheit auf dem Berg Hiei vor sich Gestalt annehmen zu lassen. Daraufhin unterwarf er sie, indem er sie über seinen kleinen Finger in seinen eigenen Leib einsog. Dort wütete die Gottheit und verursachte Ryōgen Fieber und unheimliche Schmerzen, welche er allein mithilfe seiner übernatürlichen Dharma-Kraft (hōriki [hōriki (jap.) 法力 spirituelle Kraft, wtl. Dharma-Kraft]) aushalten konnte. Schließlich gelang es ihm, die Seuchengottheit in seinem Körper unschädlich zu machen und davonzujagen. Gleich danach rief er seine Schüler zu sich, ließ einen großen Spiegel aufstellen und versank vor diesem in tiefe Kontemplation. Mit großem Staunen erblickten die Schüler im Spiegel die Gestalt ihres Meisters, dem auf einmal Hörner auf dem Kopf gewachsen waren und der sich dann im Spiegelbild in einen knochigen Dämon verwandelte. Ein mit dem Pinsel besonders begabter Schüler fertigte eine handgezeichnete Kopie des dämonischen Spiegelbilds seines Meisters an. Von dieser Skizze ließ Ryōgen schließlich einen Holzschnitt erstellen. Er prophezeite, dass dieses Abbild allen Menschen dabei helfen werde, von Krankheit und Unheil verschont zu bleiben.
Gōma Daishi
Ryōgens Manifestationen als Gōma Daishi geht auf eine andere, ähnlich originelle Legende zurück. So soll sich Ryōgens Ruf am kaiserlichen Hofe nicht allein auf seine tugendhaften Qualitäten, sondern auch auf seine männliche Attraktivität gegründet haben. Diese war so betörend, dass Ryōgen sich vor weiblichen Verehrerinnen unkenntlich machen musste, indem er eine Dämonenmaske aufsetzte. Außerdem soll er sich bei Banketten sogar komplett in einen Dämon verwandelt haben. Die von ihm aufgesetzte Maske wurde als „Dämonenbezwingermaske“ (gōma-men [gōma-men (jap.) 降魔面 dämonenbezwingende Maske] 降魔面) bezeichnet und wird heute als Schatz im von Ryōgen persönlich gegründeten Tempel Rozan-ji [Rozan-ji (jap.) 廬山寺 Tendai-Tempel, gegründet 938 von Ryōgen für den Bedarf der kaiserlichen Familie, später u.a. von Murasaki Shikibu, der Autorin des Genji monogatari, bewohnt] in Kyōto gehütet. Jährlich am 3. Februar, wenn das setsubun [setsubun (jap.) 節分 „Trennung der Jahreszeiten“; trad. letzter Tag einer der vier Jahreszeiten; heute meist letzter Tag des Winters (3. Februar)]-Fest stattfindet, wird diese gemeinsam mit zwei weiteren von Ryōgens Ritualgegenständen, einem einzackigen und dreizackigen Vajra-Zepter zu diesem besonderen Anlass ausgestellt.
Mame Daishi und die Verbindung zu Kannon
Die Bezeichnung Mame Daishi [Mame Daishi (jap.) 魔滅大師 „Dämonenvernichtender Meister“; Beinamen des Tendai-Patriarchen Ryōgen] enthält ein bewusstes Wortspiel: obwohl mame hier den Zeichen nach das „Ausmerzen von Dämonen“ bedeutet, ist es auch das japanische Wort für „Bohne“. Bohnen werden ihrerseits wiederum beim setsubun [setsubun (jap.) 節分 „Trennung der Jahreszeiten“; trad. letzter Tag einer der vier Jahreszeiten; heute meist letzter Tag des Winters (3. Februar)]-Fest auf Dämonen-Maskenträger geworfen, um damit die von ihnen dargestellten Unholde auszutreiben. In der Tat ist der Heilige in dieser Ikonographie auf die Form einer Bohne reduziert.
Die Zahl 33 in der Darstellung des Mame Daishi bezieht sich darauf, dass Ryōgen bereits zu Lebzeiten einen gottgleichen Ruf erlangte und sogar als Inkarnation (keshin [keshin (jap.) 化身 Manifestation (meist einer buddhistischen Wesenheit); wtl. „verwandelter Körper“]) des Bodhisattva Kannon [Kannon (jap.) 観音 auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt] verstanden wurde. Wie das Lotos Sutra (bzw. das von diesem abgeleitete Kannon Sūtra) im Detail darlegt, besitzt Kannon die Fähigkeit, sich in 33 Manifestationen zu verwandeln, weshalb diese Zahl auch in anderen Zusammenhängen stets auf Kannon verweist (vgl. Sanjūsangen-dō [Sanjūsangen-dō (jap.) 三十三間堂 33 Klafter Halle; Kannon-Tempelhalle in Kyōto; offizieller buddhistischer Tempelname: Rengeō-in]).
Folgende Legende bekräftigt diesen Zusammenhang: Ein Bauer der Provinz Kawachi (heute im südlichen Teil Ōsakas) kam einst zum Gebet auf Berg Hiei in den Bezirk Yokawa (also zu Ryōgens Grab). Da heftiger Regen einsetzte, musste er im Tempel zu übernachten, wo ihn ein Mönch dazu bewegte, dem „großen Meister“ (Ryōgen) zu Ehren ein Gebet zu sprechen. Der Bauer machte sich nämlich große Sorgen um seinen frisch bearbeiteten Acker, der durch den heftigen Regen in Gefahr stand. Als der Bauer jedoch am nächsten Morgen nach Hause eilte, bemerkte er, dass inmitten aller überfluteten Felder nur seines verschont geblieben war. Den Aussagen seiner Nachbarn zufolge waren in dem Augenblick des Unwetters 30 Jünglinge aufgetaucht und hatten das Feld vor einer Überflutung geschützt. Diese Geste der Barmherzigkeit bestätigte die Vermutung von Ryōgens Anhängern und Adepten, dass er eine Inkarnation Kannons, des Bodhisattvas der Gnade und Barmherzigkeit, sei.
Weitere Charakteristika
Neben den Assoziation mit Dämonen und Kannon hat die Mame Daishi Ikonographie eine weitere, spezifische Ausgestaltung. Bei genauerer Betrachtung fällt nämlich auf, dass die Augenbrauen der 33 Mönche ungewöhnlich lang dargestellt sind. Diese lang gewachsenen Augenbrauen sind ein Charakteristikum der Arhats [Arhat (skt.) अर्हत् buddhistische Heiligenfigur; höchste Stufe des Menschseins vor dem Austritt aus dem Geburtenkreislauf (jap. rakan)] und reihen Ryōgen somit in dieses Ensemble buddhistischer Heiliger mit ein. Man erkennt allerdings auch auf Gemälden, die den Mönch Ryōgen zu Lebzeiten abbilden, dass er offenbar mit tatsächlich dieser Eigenheit ausgestattet war. Den Überlieferungen zufolge konzentrierte sich in Ryōgens Brauen seine asketische, übermenschliche Kraft. Diese soll so stark gewesen sein, dass beim Versuch, die Brauen zu zupfen, die Finger von diesen durch eine magische Wirkung abprallten.5
Schließlich fand der Kult um Ryōgen auch Eingang in die Zirkel der Mönchsgelehrten (gakuryo [gakuryo (jap.) 学侶 Mönchsgelehrter]), die ihr Wissen in rituellen Debattierrunden untereinander austauschten. Während dieser Debattiertreffen war es Brauch, eine Statue des Ganzan Daishi aufzustellen. Dies dürfte als Referenz an die legendäre rhetorischen Begabung des Tendai-Oberhaupts zu verstehen sein.
Tenkai und der Glaube an „Zwei Meister“
Obwohl die Figur des Ryōgen schon zu Lebzeiten von zahlreichen Legenden umrankt war, ist der Kult des Gehörnten Meisters wahrscheinlich erst nach einigen Transformationen entstanden. Seine heutige Form scheint in besonderer Weise durch den Tendai-Mönch Tenkai [Tenkai (jap.) 天海 1536?–1634; Abt und Reformer des Tendai Buddhismus, religiöser Berater des Tokugawa Shōgunats; auch: Nankōbō Tenkai; Jigen Daishi] (1536–1643) geprägt worden zu sein. Tenkai, der offenbar über hundert Jahre alt wurde und eine Karriere als Krieger gemacht haben soll, bevor er in den Mönchsstand eintrat, gestaltete als Berater von Tokugawa Ieyasu [Tokugawa Ieyasu (jap.) 徳川家康 1543–1616; Begründer des Tokugawa Shogunats; Reichseiniger] die religiösen Verhältnisse unter dem Tokugawa-Regime (1600–1867) entscheidend mit. Nach Ieyasus Tod wurde er mit dessen Bestattung und Vergöttlichung in Nikkō [Nikkō (jap.) 日光 Tempel-Schreinanlage im Norden der Kantō-Ebene, Präf. Tochigi; beherbergt u.a. den Tōshō-gū Schrein] betraut. Schon zuvor veranlasste er u.a. die Restauration des Enryaku-ji, welcher im Zuge einer Vergeltungsaktion durch Oda Nobunaga [Oda Nobunaga (jap.) 織田信長 1534–1582, Kriegsfürst, Reichseiniger] im Jahre 1571 dem Erdboden gleich gemacht worden war. Erst unter Tenkai erholte sich der Tendai Buddhismus von diesem Schlag. Allerdings verlagerte sich der Schwerpunkt der Schule unter Tenkai von Kyōto in die neue Shogunats-Hauptstadt Edo, wo mit dem Kan’ei-ji [Kan’ei-ji (jap.) 寛永寺 Tendai-Tempel in Tōkyō; in der Edo-Zeit Zentrum des Tendai Buddhismus in der Kantō Region, gegr. 1625 (Kan’ei 2)] ein neues Zentrum des Tendai-Buddhismus entstand. Neben diesen organisatorischen Leistungen erlangte Tenkai im Volk auch durch andere Gesten Beliebtheit. So soll er in Ueno einen Kirschblütenbaum aus Yoshino (Nara) für die Bewohner Edos herbeibringen lassen (und damit für die berühmte Kirschenblütenschau in diesem Park verantwortlich sein). Auch die Lotos-Pflanzen im nahe gelegenen Shinobazu [Shinobazu no ike (jap.) 不忍池 Berühmter Teich im Ueno-Park in Tōkyō]-Teich sollen auf Tenkai zurückgehen, der den Teich als Ort für die buddhistische Freilassungszeremonie von Tieren (hōjō-e [hōjō-e (jap.) 放生会 Rituelle Freilassung von gefangenen Tieren]) etablierte. Tenkai initiierte zudem den ersten Druck des buddhistischen Kanons in Japan. Diese Errungenschaften waren Anlass dafür, dass Tenkai, ähnlich wie Ryōgen, vom Kaiserhof postum den nur in seltensten Fällen verliehenen daishi-Titel erhielt und daher auch als Jigen Daishi [Jigen Daishi (jap.) 慈眼大師 Ehrentitel des Tendai-Abts Tenkai] bekannt ist.
Tenkai lässt sich nicht nur hinsichtlich seines organisatorischen Genies mit Ryōgen vergleichen, er praktizierte offenbar auch einen persönlichen Ryōgen-Kult und mag sogar, bewusst oder unbewusst, seine Ernennung zum Daishi schon zu Lebzeiten in Anlehnung an Ryōgen vorbereitet haben. Unter anderem wurde er damit beauftragt, eine Bittzeremonie zu vollziehen, um die Geburt eines Nachfolgers für Tokugawa Iemitsu [Tokugawa Iemitsu (jap.) 徳川家光 3. Tokugawa Shōgun (1604–1651), r. 1623–1651] zu erwirken. Zu diesem Anlass stellte Tenkai eine Skulptur des Jiei Daishi (Ryōgen) auf und richtete das Wunschgebet an diesen. Der Grund dafür lag wohl darin, dass auch Ryōgen für ein ähnliches Ritual zu seinen Lebzeiten bekannt war. Tenkais Gebet fand schließlich in Gestalt des vierten Tokugawa Shogunen, Ietsuna, Erhörung.
Ryō-daishi shinkō
Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich schließlich ein „Kult der beiden Großmeister“ (ryōdaishi shinkō [ryōdaishi shinkō (jap.) 両大師信仰 Verehrung der „beiden Meister“, Ryōgen und Tenkai]) feststellen, der vom Kan’ei-ji in Edo, also von Tenkais unmittelbaren Nachfolgern ausging. So hatte man zu dieser Zeit an jedem Monatsende einen Festtag zu Ehren er beiden Meister festgelegt, an welchem ihre Skulpturen in einer zeremoniellen Parade zu Tempeln in der ganzen Stadt getragen wurden. Mächtige Daimyō wetteiferten in ihrer Unterstützung dieses Kults, um den Umzug auch an Tempeln in ihren Stadtresidenzen vorbeikommen zu lassen und sicherten sich auf diese Weise das Wohlwollen lokaler Gemeinden.
Die eingangs zitierten Legenden, auf die sich die heutige Darstellung des Gehörnten Meisters stützen, lassen sich zwar schon im japanischen Mittelalter nachweisen, ihre Kodifizierung, Popularisierung und ikonographische Standardisierung dürfte aber unmittelbar mit dem Glauben an die „beiden Großmeister“ im Edo-zeitlichen Tendai-Buddhismus verknüpft sein. Auch die hier gezeigte illustrierte Biographie Ryōgens, das Ganzan Daishi engi emaki [Ganzan Daishi engi emaki (jap.) 元三大師縁起絵巻 Illustrierte Erzählung des Ganzan Daishi (Ryōgen); Edo-zeitliche Bildrolle von Sumiyoshi Gukei (1631–1705)], entstammt der von Tenkai und seinen Schülern begründeten Ryōgen-Verehrung.
Orakelwesen
Ryōgen wurde im Verlauf dieser Popularisierung auch die Rolle des „Erfinders“ der in Japan heute allgegenwärtigen Orakelpapiere (o-mikuji [o-mikuji (jap.) 御籤/おみくじ Glückslos, Glücksorakel; auch mikuji]) zugesprochen. So finden sich einige Schriften, in welchem die einzelnen Orakelbotschaften erklärt werden.6 Auch hier wird ein Bezug zwischen Ryōgen und Kannon hergestellt, da man in diesen Schriften behauptet, die ersten Orakelbotschaften entstammten den Aufzeichnungen einer Inkarnation Kannons aus China. Durch die nächste Inkarnation als Mönch Ryōgen seien diese nach Japan gelangt. Tatsächlich sollen aber auch die Orakel ihre größte Verbreitung im Volk unter Tenkai erlebt haben. Auch zu diesem Zusammenhang erzählt eine Legende, dass Ryōgen höchstpersönlich in einem Traum Tenkais erschien und ihm den Auftrag erteilte, zum Berg Togakushi-yama [Togakushi-yama (jap.) 戸隠山 Berg und religiöses Zentrum in der Provinz Nagano] (im heutigen Nagano) zu reisen, um dort vor der lokalen Gottheit aufbewahrte, „wundersame“ Orakelpapiere zu holen und vor einer Statue des Ganzan Daishi darzubringen, damit dieser den Menschen ihr Glück und Unglück vorhersagen kann.
Neben diversen anderen, Ryōgen geweihten Tempeln dürfte der Orakelkult um seine Person am allerdeutlichsten am Ort seiner religiösen Herkunft, nämlich dem Tempel Enryaku-ji und seiner entlegenen Anlage Yokawa zu spüren sein. Neben Ryōgens Grab steht dort nämlich auch die Ganzan Daishi-dō [Ganzan Daishi-dō (jap.) 元三大師堂 Halle des Ganzan Daishi (Ryōgen) im Tempelbezirk Yokawa auf Berg Hiei; offiziell Shikidō 四季堂, Halle der vier Jahreszeiten], eine Tempelhalle, die Ryōgen persönlich gewidmet ist. Dort existiert bis heute eine besondere Form des Orakels, bei welcher die fragende Person nicht — wie sonst üblich — ihr eigenes Los zieht und sowohl Botschaft als auch Deutung auf diesem abliest. In Yokawa ziehen die Mönche nach einer intensiven Besprechung über die Fragestellung von sich aus ein Los und erläutern dessen Bedeutung im Anschluss der fragenden Person mündlich im Detail. Dabei bestehen die Mönche darauf, dass es sich bei dem Inhalt nicht um reine Zukunftsprognosen oder Aussagen über Glück und Unglück handelt, sondern der fragenden Person als richtungsweisender Kompass bei entscheidenden Lebensfragen dienen soll.
Conclusio
Bei Ryōgens Manifestationen handelt es sich letztlich um Transformationen eines ehemals tatsächlich existenten religiösen Akteurs, dessen Charisma einen landesweit bekannten und nach wie vor präsenten Glaubenskult hervorrief. Dieser Kult vereint mehrere, scheinbar gegensätzliche Aspekte in sich:
- der tugendhaften Erzbischof und „Erneuerer“ von Berg Hiei
- der dämonenabwehrende Meister, der selbst als Dämon auftritt
- die Inkarnation Kannons
- der bi-theistische Verehrung von Tenkai und Ryōgen
Neben Ryōgen und seinen unmittelbaren Schülern und Hagiographen hat vor allem der Mönch Tenkai durch seine persönliche Identifikation mit diesem Vorgänger für eine vereinheitlichte, neue Struktur des Ryōgen-Kults innerhalb der Tendai-Schule gesorgt und so die Weichen für eine weit verbreitete Popularisierung Ryōgens gestellt, die sich zeitweilig zu einer eigenen religiösen Strömung entwickelte. Obwohl diese Popularität im Zuge der Modernisierung Japans zweifellos Rückschläge erfuhr, werben gerade in allerjüngster Zeit, im Zuge der Corona-Pandemie 2020/21 wieder viele Tempel und Schreine mit krankheitsabwehrenden Papiertalismanen, welche den Gehörnten Meister zeigen. Dieses Phänomen zeigt, wie tief verankert der Glaubenskult um Ryōgen noch heute ist und dass es sich bei dieser religiösen Figur um eine immer noch relevante, im Bewusstsein seiner Gläubigen existente und wirkmächtige Entität handelt.
Verweise
Fußnoten
- ↑ Sein Leben ist uns aus der relativ zeitnahen Biographie Jie daisōjō-den 慈恵大僧正伝 (1031 mit einem Zusatz aus 1032) sowie aus späteren, stärker hagiographisch geprägten Werken wie dem Jie daishi-den 慈恵大師伝 (1469) bekannt.
- ↑ Dies ist allerdings nur in späteren Biographien zu finden und dürfte wohl eine Vereinfachung der Geschichte der Mönchssoldaten darstellen, da diese zu Ryōgens Zeit noch nicht integraler Bestandteil des Klosterwesens waren (Groner 2002, S. 293)
- ↑ Hiei-zan chūkō no so 比叡山 中興の祖).
- ↑ Häufiges Motiv in der buddhistischen Ikonographie, hier vielleicht eine Anspielung auf die Verbindung des Gehörnten Meisters mit Kannon (s.u.).
- ↑ Fukui 2020, S. 6.
- ↑ Beispielsweise das Ganzan daishi mikuji shoshō 元三大師御籤諸抄 (1895).
Internetquellen
Siehe auch Internetquellen
Literatur
Siehe auch Literaturliste
Paul Groner, Ryōgen and Mount Hiei: Japanese Tendai in the Tenth Century. Honolulu: University of Hawaii Press, 2002.
- Fukui Chie (2020): Ekishin yamaiyoke gofu ni egakareta Ganzan daishi Ryōgen 疫神病除け護符に描かれた元三大師良源. Hikone: Sunrise
- Kozic, Josko, Japans gelebte Religiosität am Beispiel der Popularisierung apotropäischer Gottheiten und Figuren in Zeiten der Covid-19-Pandemie. OAG Notizen...
- Suzuki Kenkō 鈴木堅弘, „Ganzan Daishi engi emaki kara miru ryōdaishi shinkō: Kinsei Tendai kōsō eden no seiritsu to Tenkai no ikō“ 《元三大師縁起絵巻》からみるポリティクスと両大師信仰: 近世天台高僧絵伝の成立と天海の意向. Journal of Kyoto Seika University京都精華大学紀要, 52 (2018), S. 2–29.
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite
- ^ Der Mönch Ryōgen, (aka. Ganzan Daishi, 912–985) in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen: Als Mönch und als Dämon (mit dem hier nicht angeführten Namen) Tsuno Daishi.
Das Bild ist eine Art Glückslos (o-mikuji). Der beigefügte Text lautet:
- Ganzan Daishi war eigentlich eine Manifestation von Kannon mit dem Wunschjuwel. Daher müssen alle, die dieses Los ziehen, aus ganzem Herzen folgenden Spruch rezitieren.
- Mantra von Kannon mit dem Wunschjuwel: on harada handomei un / on handoma jindamani jinhara un
- (OM VARADA PADME HUM / OM PADMA CINTAMANI DŻWALA HUM)
Edo-Zeit. Wikimedia Commons.
- ^ Portrait-Statue des Tendai Mönchs Ryōgen.
1286. Bildquelle: Bernhard Scheid, flickr, 2024. - ^ Papiertalismane (o-fuda) aus Yokawa am Berg Hiei mit Abbildungen von Mame Daishi, Tsuno Daishi und Gōma Daishi.
Kyōto ikō, 2020 (Blog). - ^ Tsuno Daishi Plakat mit der Aufforderung, zu Corona-Zeiten beim Neujahrsbesuch des Tempels Abstand zu wahren.
AnnieK, 2021/1/3 (J-Blog).
- ^ Seltene Darstellung des „Gehörnten Großmeisters“ (Tsuno Daishi) als „realistischer“ oni. Die Wunschperle auf seinem Kopf identifiziert ihn als menschenfreundliche Schutzgottheit.
19. Jh. Tomoe Steineck, Martina Wernsdörfer, Raji Steineck, WegZeichen: Japanische Kult- und Pilgerbilder. Die Sammlung Wilfried Spinner (1854–1918). Zürich: VMZ (Ausstellungskatalog), Abb. 9 (mit freundlicher Genehmigung). - ^ Ganzan Daishi (Ryōgen) als Mame Daishi, „Bohnen Meister“ oder „Dämonenbezwinger“, in 33facher Ausfertigung.
Warakuweb, 2020. - ^ Der Tendai-Abt Tenkai zelebriert enen Ritus vor dem Bild seines Vorgängers aus der Heian-Zeit, Ryōgen.
Edo-Zeit. Tōkyō National Museum.
Glossar
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