Untaten des Susanoo

Aus Kamigraphie
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Dieser Artikel analisiert eine Episode des mythologischen Gottes Susanoo. Für einen Überblick dieser Mythen siehe: Susanoo no Mikoto.

Die Untaten des Susanoo — auch als ama-tsu-tsumi 天津罪, „Sünden des Himmels“ bekannt — bestehen aus einer Reihe von Sabotageakten gegen die landwirtschaftliche Produktion, aus der Entweihung von religiösen Stätten, sowie aus Grausamkeiten und Gewaltakten gegenüber Mensch und Tier. Die mythologischen Untaten vollziehen sich allerdings in den Himmlischen Gefilden (Takama no hara), genauer im Palast der Sonnengottheit Amaterasu, und stellen den Anlass dafür da, dass sich Amaterasu in die himmlische Felsenhöhle zurückzieht und die Welt sich verdunkelt.

Susanoos Vergehen tauchen in den Mythen allerdings mehrfach und in verschiedenen Varianten auf. Sie werden außerdem im Ritus der „Großen Purifikation“ (Ōharae) erwähnt, einem Ritus, der ursprünglich jedes Jahr unter Beteiligung des Tennō durchgeführt wurde und pauschal sämtliche „Verunreinigungen“ des Landes austreiben sollte.

Die Szene, in der Susanoo seine Untaten verübt, knüpft an jene Episode an, in der sich Susanoo gegen den Willen Amaterasus Zugang zu ihrem Palast verschafft hat. Sie wird in verschiedenen Varianten geschildert:

Mythologische Varianten

Die Untaten des Susanoo in den Kiki

Kojiki [1]

離天照大御神之營田之阿。埋其溝。亦其於聞看大嘗之殿。屎麻理散。[...]

轉天照大御神。坐忌服屋而。令織神御衣之時。穿其服屋之頂逆剥天斑馬剥而。所墮人時。天衣織女見驚而。於梭衝陰上而死

... [da] zerstörte er die Abtrennungen der von Ama-terasu-oho-mi-kami angelegten Reisfelder, schüttete die Gräben zu und verstreute dann Exkremente im Palast der Großen Erntefeier. [...]

Als Ama-terasu-oho-mi-kami in der Reinen Webhalle saß und erlauchte Götterkleider weben ließ, da bohrte er in die Dachspitze der Webhalle ein Loch, zog mit umgekehrten Schinden einem himmlischen scheckigen Pferd von hinten her das Fell ab und ließ es hineinfallen. Die himmlische Weberin sah dies, stach sich vor Schrecken mit dem Webschiffchen in die Scheide und starb.

Nihon shoki [2]

時素戔鳴尊。春則重播種子。且毀其畔。秋則放天斑駒。使伏田中。復見天照大神。當新嘗時。則陰放屎於新宮。

又見天照大神。方織神衣。居齋服殿。則剥天斑駒。穿殿甍而投納。是時。天照大神。驚動。以梭傷身

... [da] übersäete Susa no Wo no Mikoto im Frühling dieselben [Reisfelder], zerstörte ferner die Dämme derselben, und im Herbst ließ er die himmlischen scheckigen Pferde los und ließ sie sich mitten auf den Reisfeldern lagern. Weiterhin als er sah, daß Ama-terasu Oho-mi-kami eben im Begriff war den neuen Reis zu kosten, ließ er heimlich Kot im Palast des Neuen-Schmauses.

Ferner als er sah, daß Ama-terasu Oho-mi-kami gerade Götter-Kleider webend sich in der heiligen Web-Halle befand, zog er einem himmlischen scheckigen Pferde die Haut ab, brach durch den Dachfirst der Halle ein Loch und warf [das geschundene Pferd] hinein. Da fuhr Ama-terasu Oho-mi-kami erschrocken auf und verletzte sich mit dem Webschiff.

Nihon shoki, V1 [3]

是後。稚日女尊。坐于齋服殿。而織神之御服也。素戔鳴尊見之。則逆剥斑駒。投入之殿内。稚日女尊。乃驚而堕機。以所持梭。傷體而神退矣

Hiernach befand sich Waka-hiru-me no Mikoto in der heiligen Webhalle und webte die erlauchten Kleider der Götter. Als Susa no Wo no Mikoto dies sah, zog er einem scheckigen Pferde mit Rückwärtsschindung die Haut ab und warf es in das Innere der Halle hinein. Da erschrak Waka-hiru-me no Mikoto, fiel von dem Webstuhl herab, verwundete sich mit dem Webschiff, welches sie in der Hand hielt, und verschied göttlich.

Nihon shoki, V2 [4]

時素戔鳴尊。春則填渠毀畔。又秋穀巳成。則且以絡繩。且日神居織殿時。則生剥斑駒。納其殿内。[...] 及至日神當新甞之時。素戔鳴尊。則於新宮御席之下。陰自送糞

Da, als es Frühling war, verstopfte Susa no Wo no Mikoto die Kanäle [der Reisfelder] und zerstörte die Dämme, und ferner im Herbst, als die Körnerfrüchte bereits reif geworden waren, zog er Abgrenzungsseile rings um sie herum. Ferner als die Sonnengöttin sich in ihrer Webhalle befand, zog er einem scheckigen Pferde bei lebendigem Leibe die Haut ab und warf es in das Innere der Halle hinein. [...] Als die Zeit herangekommen war, wo die Sonnengöttin das Fest des Neuen Schmauses halten wollte, ließ Susa no Wo no Mikoto unter dem erlauchten Sitze im Neuen Palaste heimlich Kot.

Die Untaten des Susanoo im Kogo shūi

Kogo shūi [5]

種種凌侮。所謂、毀畔。古語-阿波邪知(あはさち)・埋溝。古語-美曾宇美(みそうみ)・放樋。古語-斐波那知(ひはなち)・ 重播。古語-志伎麻伎(しきまき)・刺串。古語-久志佐志(くしさし)生剝・逆剝・屎戶

Auf allerlei Weise beleidigte er sie durch Handlungen der Nichtachtung, als man da nennt: Durchbrechen der Reisfelddämme, Verstopfen der Wassergräben, Aufziehen der Schleusen, Übersäen der Saat, Einstecken von spitzen Stäbchen, Schinden bei lebendigem Leibe und Rückwärtsschinden, Kotlassen [an reinen Orten].

Kogo shūi, Anm. [6]

如此天罪者、素戔鳴神、當日神耕種之節、竊往其田、刺串相爭。重播種子。毀畔、埋溝、放樋。當新嘗之日、 以屎塗戶。當織室之時、逆剝生駒、以投室內。此天罪者、今中臣祓詞也。

Diese himmlischen Sünden bestanden darin, daß der Gott Susa no Wo zur Zeit, wo die Sonnengöttin ihre Felder bestellte, heimlich auf ihre Felder hinging, spitze Stäbchen einsteckte zum Streit, mit Samen noch einmal übersäte, die Reisfelddämme zerstörte, die Wassergräben verstopfte, die Schleusen aufzog; daß er am Tage des Reiskostefestes die Tür mit Kot beschmierte; daß er, als sie sich in der heiligen Webehalle befand, ein rückwärts geschundenes, lebendiges Pferd in die Muro hineinwarf. Diese himmlischen Sünden sind die, welche jetzt in den Harahi-kotoba der Nakatomi vorkommen.

Weitere Erwähnungen

Untaten im Ōharae no norito (Gebet der Großen Purifikation)

Engi shiki [7]

過犯(家牟)雜雜罪事波。天津罪止畔放。溝埋。樋放。頻蒔。串刺。生剥。逆剥。屎戸。許許太久乃罪乎。天津罪止法別(氣氐。)國津罪(止八。)生膚斷。死膚斷。白人。胡久美。己母犯罪。己子犯罪。母與子犯罪。子與母犯罪。畜犯罪。昆虫乃災。高津神乃災。高津鳥災。畜仆志蠱物爲罪。許許太久乃罪出武。

... may the countless offenses unwittingly or willfully committed be purged; beginning with the heavenly offenses (breaking down the paddy dikes, filling in irrigation ditches, opening the sluice-gates, double planting, setting up stakes, flaying alive, flaying backwards, cursing with excrement, and many such, these are designated as heavenly offenses) and then earthly offenses-defilement due to cutting live flesh, cutting dead flesh; due to vitiligo, due to excrescences; defilement due to intercourse with one's own mother, or one's own daughter, due to cohabiting with a woman and then her daughter by previous marriage, or from cohabiting with a girl and then her mother; defilement due to copulation with an animal, due to attack from creeping things, due to calamity from the kami on high, or from birds overhead, due to having caused death to livestock or other evil magic-let all these defilements be purged.

Große Purifikation nach dem Tod Chūai Tennōs

Der Ritus der Großen Purifikation kommt außerdem in einer weiteren Episode des Kojiki vor, wo es heißt: 

Kojiki [8]

種種求生剝逆剝。阿離溝埋屎戸。上通下婚。馬婚牛婚。鷄婚犬婚之罪類。爲國之大祓而。

[Sie] suchten die mannigfachen Arten der Sünden hervor, als da sind : Das Rückwärtsschinden [von Tieren] bei lebendigem Leibe, das Durchbrechen von Reisfelddämmen, das Verstopfen der Wasser zuleitenden Gräben der Reisfelder, das Lassen von Exkrementen [an heiligen Orten], Blutschande zwischen Eltern und Kindern, Unzucht mit Pferden, Unzucht mit Rindern, Unzucht mit Vögeln, Unzucht mit Hunden, und vollzogen die Große Reinigung des Landes...

Tod durch Verletzung der Scheide

In der Regierungszeit Sujin Tennōs wird eine Tante des Tennō, eine Priesterin, mit dem von ihr verehrten Gott, Ōmononushi, vermählt. Es kommt jedoch zur Trennung, da sie ihr Entsetzen nicht verbergen kann, als sie den Gott in Schlagengestalt erblickt. Schließlich stirbt sie durch Selbstmord:

Nihon shoki [9]

爰倭迹迹姫命。仰而悔之。急居。則箸撞陰而薨。

Hierauf schaute Yamato-Toto-hime no Mikoto hinauf und hatte Reue. Sie plumpste auf einen Sitz und stach sich mit [einem] Eßstäbchen in die Scheide und verschied.

Interpretation

Die Schändung der Webehalle verbunden mit dem („rückwärtigen“) Häuten eines lebenden Pferdes und der (tödlichen) Verletzungen einer Weberin, wird in den meisten Varianten als letzter Auslöser für den Rückzug Amaterasus in die Felsenhöhle dargestellt. [10] Interessanterweise ändert sich die Identät der verletzten Göttin in den unterschiedlichen Varianten. In der Hauptvariante des Nihon shoki ist es Amaterasu selbst, in den anderen Varianten eine ihr unterstellte Weberin, die einmal auch den Namen Waka Hirume (Junge Sonnenfrau) erhält. Die meisten Kommentatoren und Interpreten deuten allerdings den Rückzug in die Felsenhöhle als Metapher für den Tod der Sonne, d.h. es liegt nahe, dass Susanoo den Tod seiner Schwester direkt verursacht. 

Erwähnenswert ist außerdem, dass Amaterasu in dieser Episode nicht nur selbst Landwirtschaft und Weberei betreibt, sondern auch Riten für Götter durchführt, die offenbar noch einmal über ihr stehen. Amaterasu und Susanoo sind in dieser Episode also sehr „menschlich“, erst durch den Tod der Amaterasu und die Verdunkelung der Welt verwandeln sich die Protagonisten in Gottheiten von kosmischer Dimension, die offensichtlich nicht mehr auf der Erzählebene des himmlischen Palastes mit der Webehalle agieren.

Die Untaten des Susanoo werden außerdem in einer viel später datierten Stelle des Kojiki unter dem Stichwort „die mannigfachen Arten der Sünden“ noch einmal erwähnt. Diese Stelle schildert die Abhaltung eines generellen Purifikationsritus für das ganze Land in einer krisenhaften Situation, nach dem plötzlichen Tod des Chūai Tennō. Dieser Ritus wurde später zu einer wichtigsten jahreszeitlichen Zeremonien am kaiserlichen Hof. In der klassischen Zeit ist er als Ōharae 大祓 (oder Ōharai) bekannt, später wird er zumeist als Nakatomi harae bezeichnet, nach der Priesterfamilie Nakatomi, die für seine Abhaltung die Hauptverantwortung trug.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Stelle im Kogo shūi (805). Trotz seiner grundsätzlich Nakatomi-kritischen Haltung, bringt bereits dieser Text das Ōharae, also die Große Purifikation, in einen direkten Zusammenhang mit dieser Priesterfamilie. Zugleich offenbart der Text, dass die Vergehen des Susanoo zu diesem Zeitpunkt als „himmlische Sünden“ verschlagwortet waren. Genauere Angaben dazu finden sich alledings erst in den Engi-shiki (927), einer Art Gesetzestext, mit detailierten Bestimmungen zum höfischen Schrein- und Ritualwesen, wo u.a. der Gebetstext (norito 祝詞), der das harae begleitet, angeführt ist. In diesem norito der Großen Reinigung, Ōharae no norito, wird neben den ama-tsu-tsumi (Vergehen des Himmels) ein paralleles Set von kuni-tsu-tsumi (Vergehen der Erde) beschworen. Beide sollen durch die Purifikation aus der Welt geschafft werden.

Die Unterteilung in Sünden des Himmels und Sünden der Erde im Gebetstext erinnert an die gängige Einteilung in Götter des Himmels und der Erde, folgt jedoch keiner erkennbaren Systematik. Es fällt lediglich auf, dass in den Sünden der Erde ein besonderes Gewicht auf sexuell abweichendes Verhalten gelegt wird. Das einzige klare Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Arten von Vergehen liegt jedoch darin, dass die Sünden des Himmels alle von Susanoo begangen wurden, während die Sünden der Erde im Zusammenhang mit Susanoo nicht explizit erwähnt sind. Sieht man sich allerdings den Katalog der Sünden in der Chūai-Episode des Kojiki an, so scheinen hier sowohl von Susanoo begangene Untaten als auch sexuelle Untaten auf, während eine Unterteilung in Himmel und Erde fehlt. Es erscheint daher denkbar, dass diese Unterscheidung erst nach der Abfassung des Kojiki eingeführt wurde. Das harae wirkt in jedem Fall als Kompensation für alle Arten von Untaten.

Die Verbindung von harae-Ritus und Susanoo offenbart sich außerdem in Susanoos Verbannung, im Grunde die unmittelbare Konsequenz seiner Vergehen, die allerdings erst nach der langen Episode von Amaterasu in der Felsenhöhle erzählt wird. Vor der Verbannung muss Susanoo noch eine Reihe grausamer Strafen erdulden, die ebenfalls als harae (wtl. Wegfegen), bezeichnet werden. Wenn Susanoo in dieser Episode als mythologischer Archetyp eines Tunichtguts oder Verbrechers auftritt, der quasi den Katalog von Untaten erstmals erfindet, so ist harae die Bezeichnung für die darauf folgende Reaktion der Autoritäten, die interessanterweise sowohl die Form von Strafen als auch von Abwehrriten annehmen kann. Wo aber bleiben in dieser Konstruktion die sexuell konnotierten Vergehen, die in späteren Quellen als „Sünden der Erde“ explizit nicht auf Susanoo zurück geführt werden?

Rückwärtshäutung des himmlischen gescheckten Pferdes

Nach Nelly Naumann kann man die Rückwärtshäutung des Pferdes auch als ein falsch durchgeführtes Ritual interpretieren; zu der Zeit, als die Mythen verfasst wurden, gab es gewisse Vorstellungen darüber, dass rituelle Handlungen, die man nicht richtig – oder eben „rückwärts“ ausführte, einen gegenteiligen Effekt herbeiführten. Ein Beispiel dafür ist das Händeklatschen beim Beten: Ein „Rückwärtshändeklatschen“ würde Unglück herbeiführen. Wie genau eine solche „Rückwärtshandlung“ funktionieren würde, wird zwar nie beschrieben und bleibt daher ungewiss, jedoch scheint eine gewisse Verbindung zu der Rückwärtshäutung des Pferdes zu bestehen.

Geht man nun davon aus, dass der Effekt der Rückwärtshäutung darin besteht, dass jemand zu Tode kommt, würde die richtigere Variante des Rituals Leben zur Folge haben. Dies wird vor allem dann schlüssig, wenn man sich mit Naumanns Ansicht bezüglich Susanoo genauer auseinandersetzt, nach der dieser eigentlich ein sehr ambivalenter Gott des Lebens ist. Obwohl es in den japanischen Texten keine Hinweise darauf gibt, dass Häutung Leben verleiht, trifft man im alten Mexiko einen solchen Brauch an, nach dem einem Mann namens Xipe Totec die Haut abgezogen wurde und mit dieser ein Priester bekleidet wurde; durch die „neue“ Haut sollte somit das Leben erneuert werden.

Vorstellungen solcher Art gehen vermutlich auf Beobachtungen von Schlangen zurück, die ihre Haut abwerfen und trotzdem weiterleben – eine alte Geschichte von den Ryūkyū-Inseln, nach der die Schlange das Wasser des Lebens getrunken hat und deswegen unsterblich ist, weist darauf hin, dass es solche Ansichten auch im frühen Japan gab. Darüber hinaus lassen sich gewisse Parallelen zwischen Gottesdarstellungen aus Mexiko und japanischen Tonmasken vom Beginn des ersten Jahrtausends vor Christus erkennen. Diese sehen so aus, als hätte man eine fremde Haut darüber gezogen.

Laut Naumann deutet das Embryo-artige Aussehen der Masken darauf hin, dass es sich dabei um eine Metapher für Wiedergeburt handelt. Darüber hinaus sind die Augen besonders groß dargestellt, was wiederum an die Entstehung von Amaterasu und Tsukuyomi aus den Augen von Izanagi erinnert. Sonne und Mond, die täglich sterben und wiedergeboren werden, indem sie unter- und wieder aufgehen, heben diese Bedeutung noch weiter hervor. Auch das Pferd, das in den Mythen als ein himmlisches und geschecktes beschrieben wird, wird mit dem gestirnten Nachthimmel in Zusammenhang gebracht – das Pferd könnte demnach laut Naumann ein Mondtier sein.

Naumann geht davon aus, dass zur Zeit der Verfassung der Mythen diese Zusammenhänge nicht mehr verstanden wurden, und diese Stelle in den Texten daher so unklar umschrieben wurde.


Hypothese zur Schändung der Webehalle

Aus psyocho-analytischer Perspektive lässt sich die Schändung der Webehalle, in die Susanoo mit einem gehäuteten Pferd gewaltsam eindringt, ohne weiteres als sexueller Gewaltakt lesen. Möglicherweise sind aber psychologische Deutungen gar nicht nötig, um zu erkennen, dass im rätselhaftesten Vergehen des Susanoo im Grunde zwei der geläufigen Vergehen überblendet wurden, nämlich die verbotene Häutung und der verbotene Inzest. Dies würde bedeuten, dass Susanoo zum einen ein Pferd bei lebendigem Leibe häutete (möglicherweise ist „Rückwärtshäuten“ lediglich ein Synonym für „Lebendhäuten“), zum anderen seine Schwester Amaterasu vergewaltigte. Dafür spricht auch, dass Susanoo vom Dach der Webhalle aus in diese eindringt, was seine Überlegenheit gegenüber Amaterasu hervorhebt. Es wäre also letztlich diese Vergewaltigung, die zum freiwilligen Rückzug (Tod?) der Amaterasu in die Felsenhöhle führt.

Amaterasu wird, wie gesagt, in manchen Episoden weniger als Beherrscherin des Himmels denn als untergeordnete Dienstleisterin oder Priesterin dargestellt. In anderen Episoden wird sie explizit durch eine Dienerin ersetzt. Diese Dienerin [11] verletzt sich in der Variante des Nihon shoki durch Susanoos Untat an der Scheide und stirbt. Dies erinnert an jene Priesterin aus der Sujin-Episode, die ebenfalls einen Tod durch Verletzung der Scheide erleidet. Dieses Motiv kommt ansonsten nirgends in den bekannten Mythen vor und gibt daher Rätsel auf. Die beiden Stellen haben aber eine Reihe von Gemeinsamkeiten, u.a. die Verwendung von spitzen Gegenständen bei einer genitalen (Selbst-)Verletzung. Diese Verletzung lässt sich daher aus meiner Sicht am plausibelsten als versuchte Abtreibung interpretieren.

Warum eine Abtreibung? Weibliche Priesterschaft war im antiken Japan häufig mit strikter sexueller Enthaltsamkeit verbunden. Wie Allan Grapard in einer Analyse von Tabubrüchen in den Mythen des Kojiki gezeigt hat,[12] wird die Rolle des Tabu-Aufstellens im Mythos generell als weibliche Domäne aufgefasst und kann somit als eine Grundfunktion weiblicher Priesterschaft bzw. von historischen Shamaninnen angesehen werden. Historisch bedeutsame Beispiele dafür finden sich u.a. in den Schreinen von Kamo und Ise, wo sogenannte Kultprinzessinnen (saiō 斎王) strenge sexuelle Enthaltsamkeit und andere Tabus einhalten mussten.[13] Auch Amaterasu selbst wird nie in Verbindung mit einem anderen Mann als ihrem Bruder erwähnt. Wenn aber Jungfräulichkeit im Zusammenhang mit der Rolle einer Priesterin unumgänglich war, musste eine Schwangerschaft um jeden Preis verhindert werden, egal ob diese gewollt oder ungewollt zustande kam. Tod durch eine unsachgemäß durchgeführte Abtreibung war wahrscheinlich im Milieu der antiken Priesterinnen keine Seltenheit. In der Sujin-Episode wird die Priesterin im übrigen posthum für ihre Tat belohnt, indem ihr ein Hügelgrab errichtet wird, das in Erinnerung an ihre Tat den Namen Hashi no haka („Essstäbchen-Grab“) erhält. In der Amaterasu-Episode wiederum ergibt sich der Zusammenhang mit dem Priesterinnenwesen durch die Weberei bzw. die Seidenspinnerei, welche, wie Micheal Como (2005) erläutert, eine ausschließlich Frauen vorbehaltene quasi-sakrale Tätigkeit war.

Es ist daher denkbar, dass beiden Episoden, der Webehallen-Schändung und dem Selbstmord von Sujins Tante, das Motiv der Schwängerung einer Priesterin und deren Tod durch eine missglückte Abtreibung zugrunde liegt. Dies war aber offenbar etwas, was man zur Zeit der Abfassung der Mythen nicht mehr ohne weiteres in eine kaiserliche Chronik schreiben konnte. Sollten diese Annahmen richtig sein, so wäre zu folgern, dass die Liste von Untaten der Chūai-Episode, eigentlich zur Gänze dem Susanoo angelastet wurde, dass aber die letzte Konsequenz, die Vergewaltigung der Sonnengottheit, nicht explizit ausgesprochen werden konnte, und dass dies der Grund für die seltsamen Wendungen ist, in denen die Episode in Kojiki und Nihon shoki ausgedrückt wird.

Die Schändung der großen Halle

Bei der großen Halle, in der Susanoo in mehreren Varianten Kot verstreut, handelt es sich den Ort, an dem der frisch geerntete Reis von Amaterasu gekostet wird. Da es sich bei Amaterasu, die die Feldarbeit und die Seidenraupenzucht entwickelt hat (mehr dazu unter Der Tod der Nahrungsgöttin), neben einer Sonnengöttin auch um eine Art „Kulturheros“, wie Naumann es nennt, handelt, ist es nicht weiter verwunderlich, dass in einer Variante diese Untat von Susanoo Grund dafür wird, dass Amaterasu sich in die Felsenhöhle zurückzieht. Naumann geht davon aus, dass es sich eigentlich um eine mythische Handlung gehandelt haben könnte, die später nicht mehr verstanden wurde, sodass man besondere Betonung auf die rituelle Verunreinigung legte, die zu dieser Zeit sehr stark gewertet wurde.

Der Reisanbau, der für Amaterasu und selbstverständlich für das japanische Volk einen wichtigen Platz einnimmt, muss unterbrochen werden, sobald die Sonne sich verbirgt. Indem Susanoo Amaterasu also verärgert, lässt er das Licht verschwinden oder gar sterben, und gleichzeitig sabotiert er dadurch den für Japan essentiellen Reisanbau, womit er einen wunden Punkt trifft. Den ganzen Sachverhalt bringt Naumann in Zusammenhang mit den Lachfesten, die im Winter und im Sommer in verschiedenen Teilen Japans abgehalten werden.

Verweise

Anmerkungen

  1. Kojiki, Buch 1, dt. Übersetzung Antoni 2012, S. 37-38 (s.a. Florenz 1919, S. 37). Englische Übersetzung:
    ... breaking down the ridges between the rice paddies of Amaterasu·opo·mikamï and covering up the ditches.

    Also he defecated and strewed the faeces about in the hall where the first fruits were tasted. ...

    When Amaterasu·opo·mikamï was inside the sacred weaving hall seeing to the weaving of the divine garments, he opened a hole in the roof of the sacred weaving hall and dropped down into it the heavenly dappled pony which he had skinned with a backwards skinning. The heavenly weaving maiden, seeing this, was alarmed and struck her genitals against the shuttle and died.
    Philippi 1969, S. 23
  2. Nihon shoki, Buch 1 (Hauptvariante), dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 154. Englische Übersetzung:
    Then Sosa no Wo no Mikoto, when the seed was sown in spring, broke down the divisions between the plots of rice, and in autumn let loose the Heavenly piebald colts, and made them lie down in the midst of the rice-fields. Again, when he saw that Ama-terasu no Oho-kami was about to celebrate the feast of first-fruits, he secretly voided excrement in the New Palace. Moreover, when he saw that Ama-terasu no Oho-kami was in her sacred weaving hall, engaged in weaving the garments of the Gods, he flayed a piebald colt of Heaven, and breaking a hole in the roof-tiles of the hall, flung it in. Then Ama-terasu no Oho-kami started with alarm, and wounded herself with the shuttle.
    Aston, I, S. 97
  3. Nihon shoki, Buch 1 (Nebenvariante 1), dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 156-157. Englische Übersetzung:
    After this Waka-hiru-me no Mikoto was in the sacred weaving-hall, weaving the garments of the Deities. Sosa no wo no Mikoto saw this, and forthwith flaying a piebald colt with a backward flaying, flung it into the interior of the hall. Then Wakahiru-me no Mikoto was startled, and fell down from the loom, wounding herself with the shuttle which she held in her hand, and divinely departed.
    Aston, I, S. 106
  4. Nihon shoki, Buch 1 (Nebenvariante 1), dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 158. Englische Übersetzung:
    Now Sosa no wo no Mikoto, in spring, filled up the channels and broke down the divisions, and in autumn, when the grain was formed, he forthwith stretched around them division ropes. Again when the Sun-Goddess was in her Weaving-Hall, he flayed alive a piebald colt and flung it into the Hall. [...] When the time came for the Sun-Goddess to celebrate the feast of first-fruits, Sosa no wo no Mikoto secretly voided excrement under her august seat in the New Palace.
    Aston, I, S. 108
  5. Kogo shūi, dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 418. Englische Übersetzung:
    ... breaking down the divisions of the rice-fields; filling up the irrigating channels; opening the flood-gate of the sluices; sowing seed over again; erecting rods in the rice-fields; flaying live animals backwards, and spreading excrement over the doors.
    Kato und Hoshino 1926, S. 3
  6. Kogo shūi, dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 418-419. Englische Übersetzung:
    When the Sun-Goddess was toiling in her rice-fields, Susano-O-no-Kami would stealthily creep there and erect rods in order to demonstrate his right of ownership over the fields; sowing seed again in the fields which had been already sown by Amaterasu-Ō-Mikami, so as to injure her first sown seed, thereby causing the quality of the rice to deteriorate; breaking down the low, narrow dykes, which divide rice fields from each other; filling up the channels of ditches through which the Sun-Goddess made the streams of water flow in order to irrigate the rice plants; mischievously leaving open the flood-gates of the sluices when unnecessary. For example, when Amaterasu-Ō-Mikami was about to celebrate the Nīname-Matsuri or New Rice-Crop Feast, Susano-O-no-Kami sacrilegiously polluted her Festival-Hall by spreading excreta upon the doors of her sacred hall, and while the Goddess was occupied in weaving, Susano-O-no-Kami flayed a living colt backwards and flung it into her sacred hall. [...] Susano-O-no-Kami's misdeeds are styled "heavenly offences" and nowadays we are familiarized with them through the "Ritual of the Great Purification," which is recited from time to time by Shintō priests of the Nakatomi family.
    Kato und Hoshino 1926, S. 3
  7. Engishiki, Buch 8, eng. Übersetzung Bock 1972, S. 158.
  8. Kojiki, Buch 2 (Chūai Tennō), dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 109. Englische Übersetzung:
    ... and a thorough search was made for such sins as skinning alive, skinning backwards, breaking down the ridges, covering up the ditches, defecation, incest, and sexual relations with horses, cows, chickens, and dogs; then a great exorcism of the [entire] land was held.
    Philippi 1969, S. 61
  9. Nihon shoki, Sujin Tennō, dt. Übersetzung Florenz 1919, S. 250. Englische Übersetzung:
    Hereupon Yamato-toto-hime no Mikoto looked up and had remorse. She flopped down on a seat and with a chopstick stabbed herself in the pudenda so that she died.
    Aston, I, S. 381
  10. In NV 2 des Nihon shoki gibt allerdings die Entweihung des Niinamesai (Kosten des Neuen Reises), eines Erntedankritus, durch Susanoos Fäkalien den letzten Ausschlag, dass Amaterasu die Sache zuviel wird. Schließlich enthält das Nihon shoki zu dieser Episode noch eine dritte Nebenvariante, die einzig und allein Susanoos Sabotage der Reisernte erwähnt.
  11. Bei Florenz und Chamberlain „die webenden Frauen“, bei Philippi und Antoni Einzahl
  12. Grapard 1991.
  13. Der Ise Kult ist erst ab Tenmu Tennō (spätes 7. Jh.) eindeutig belegt, die wichtigste Priesterin war zu diesem Zeitpunkt eine jungfräuliche kaiserliche Prinzessin. Siehe auch die Priesterkönigin Himiko.

Quellen

  • Klaus Antoni (Ü.) 2012
    Kojiki: Aufzeichnungen alter Begebenheiten. Berlin: Verlag der Weltreligionen (Insel Verlag) 2012. (Mit einer begleitenden Studie und ausführlichen Text-Anmerkungen.)
  • William George Aston (Ü.) 1896
    Nihongi: Chronicles of Japan from the earliest times to a.d. 697. London: Kegan Paul 1896. (Zahlreiche Neuauflagen, JHTI Onlineversion, Onlineversion (Wiki-Source).)
  • Basil Hall Chamberlain (Ü.) 1932
    Kojiki: Records of ancient matters. Kobe: J. L. Thompson & Co 1932. (Erste Auflage 1919, JHTI Onlineversion, Onlineversion.)
  • Michael Como 2005
    „Silkworms and consorts in Nara Japan.“ Asian Folklore Studies 64 (2005), S. 111–131.
  • Karl Florenz 1919
    Die historischen Quellen der Shinto-Religion. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1919. (Übersetzungen von Kojiki und Nihon shoki [in Auszügen] sowie Kogo shūi [ganz].)
  • Allan Grapard 1991
    „Visions of excess and excess of vision: Women and transgression in Japanese myth.“ Japanese Journal of Religious Studies 18/1 (1991), S. 3–22.
  • Nelly Naumann 1996
    Die Mythen des alten Japan. München: Beck 1996. (Exzerpt.)
  • Donald L. Philippi (Ü.) 1969
    Kojiki. Tokyo: University of Tokyo Press 1969.