Exzerpt:Watanabe M 2005
Rezensiertes Werk:
Über den Autor
Watanabe Manabu 渡辺 学 ist Professor und arbeitet derzeit in der Abteilung für Christliche Studien an der Nanzan Daigaku 南山大学 in Nagoya. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung und Unersuchung von Religionen mit einem besonderen Schwerpunkt auf Neureligionen und die Psychologie der Religionen. Er beschäftigte sich außerdem mehrmals mit Theorien von Carl Gustav Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie.
Zusammenfassung
Das Ziel dieser Studie war, die Prozesse und Gefühle, welche sowohl zum Eintritt als auch zum Austritt von Personen in Sekten führen zu untersuchen. Als Fallbeispiel diente hierbei eines der ersten Mitglieder von Ōmu shinrikyō, welches zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits ausgetreten war. Watanabe weist auf die Schwierigkeit objektive Quellen zu finden hin. Während Organisationen sich auf angekündigte Reportagen vorbereiten und von ihrer bester Seite zeigen, sich sozosagen inszenieren können, sprechen ehemalige Mitglieder oft nur negative Seiten an (Watanabe 2005, S. 145-146). Watanabe unterscheidet auch sechs verschiedene Berichterstattungen beziehungsweise Erzählungen über das Schicksal der ehemaligen Mitglieder von Ōmu shinrikyō:
- Anhänger, welche von Anfang an ernsthaft an die Lehren und den Guru glaubten und eifrig meditierten
- Die Sünden und Verbrechen der Mitglieder, wobei der Schwerpunkt oft auf Ermittlungen und Gerichtsprozessen, aber auch zum Teil auf Verschwörungstheorien liegt
- Der Austritt und Emanzipation einiger Mitglieder, wobei Aussagen vor Gericht eine große Rolle spielen
- Die Verteidigungstrategien der Anwälte, welche der Sekte als Organisation die Hauptschuld geben, da Gedankenkontrolle und „Klonisierung“ stattgefunden haben soll
- Die nüchterne Zusammenfassung der Ermittlungen
- Die nüchterne Zusammenfassung der Verteidigung vor Gericht
Der Weg des A zu Ōmu shinrikyō
Um die Anonymität zu wahren wurde anstelle des Namens der untersuchten Person stets „A“ geschrieben. A ist männlich, in den 1950er-Jahren geboren und machte seinen Oberschulabschluss an einer Handelsschule. Danach lernte er Akupunktur und Moxa, erhielt die Lizenz zum Bahendeln und arbeitete in einer Klinik. Nach eigenen Angaben interessiert sich A seit seiner Schulzeit für Shintō, besonders für alte Überlieferungen und Mythen (Watanabe 2005, S. 151). Ab 1999 stand der Autor informell in Kontakt mit A und seinem Anwalt. Watanabe selbst beschrieb A zum Zeitpunkt der Untersuchung als leicht depressiv, aber psychisch stabil (Watanabe 2005, S. 146-147). Die Geschichte von A wurde deshalb untersucht, weil sie viele Parallelen zu den Geschichten anderer ehemaliger Mitglieder Ōmu shinrikyōs aufweist.
A bemerkte, dass Glück, zum Beispiel Familienglück, vergänglich sei. Trotz Heirat schien er nicht Zufrieden und suchte nach etwas Ewigem. Er las Bücher über Spiritismus und Energien, besuchte ein Seminar und traf mehrere Media. Nichts schien ihm bei seiner Suche weiterzuhelfen, bis er in einem Artikel der Zeitschrift Mū zum ersten Mal von Matsumoto Chizuo erfuhr. Matsumoto teilte seiner Erkenntnisse zu hihiirokane ヒヒイロカネ, einem mythischen Metall für welches sich A interessierte, mit. Der Kontakt zu Matsumoto wurde zu Beginn telefonisch geführt, weitete sich jedoch schnell zu persönlichen Treffen aus. A trat in Folge dessen Matsumotos Yogaverein Ōmu shinsen no kai bei. Matsumoto erklärte unter Anderem, dass Erleuchtung zu erlangen sei, indem das Karma der Menschen verbessert werden müsse. Desweiteren seien auch spezielle Formen des Yoga sowie einsame Meditation notwendig. A begleitete ihn nach Indien, wo er Zeuge wurde, wie Matsumoto einem völlig unbekannten Mann mittels shakutipatto シャクティパット einen Teil seiner Energie übertragen haben soll (Watanabe 2005, S. 153). Dies festigte Matsumotos Stellung bei A, der in ihm seinen Meister gefunden hat. A ist einer jeder Mitglieder, die zum Zeitpunkt der Gründung Ōmu shinrikyōs beitraten und der Person Asahara Shōkō ebenso treu waren, während später immer mehr Mitglieder häuften, welche aufgrund der Versprochenen Erlösung (kyūsai 救済) dem Guru folgten (Watanabe 2005, S. 147).
Verbrechen und Reue
1988 starb ein Mitglied der Sekte beim Training. Da sich das publik werden dieser Todesursache schädigend auf den Ruf der Sekte ausgewirkt hätte, wurde die Leiche verbrannt. Ein anderes Mitglied beschloss, die Sekte zu verlassen und diesen Vorfall zu veröffentlichen. Allerdings gab Asahara den Auftrag, diese Person zu eliminieren. Kernmitglieder, darunter A, versammelten sich unter Ausschluss anderer Mitglieder. Auf die Frage, ob man für den Gutu Mord begehen würde, antwortete A, wie auch alle Anderen positiv. Danach wurde das Mordkomplott besprochen und daraufhin in die Tat umgesetzt. A habe sich nicht aktiv an den Mord und der Verstümmelung beteiligt, sondern am Treppenhaus Ausschau gehalten (Watanabe 2005, S. 155-156).
Nach der Wahlniederlage der Shinritō 1990 erklärte Asahara intern, dass der buajirayāna ヴァジラヤーナ, das Fahrzeug welches die Menschheit retten soll, stark vom Weg abgewichen sei (Watanabe 2005, S. 157). Von diesem Zeitpunkt an ließ Asahara chemische und biologische Waffen wie Bakterienkulturen, Phosgen und Sarin produzieren, um die Menschen durch den Tod zu erlösen. Als Kernmitglied wusste A von diesen Machenschaften. Laut eigener Aussage begann er an den Vorhaben Asaharas zu zweifeln. Zum einen verband er kyūsai nicht mit Massenmord an Unbeteiligten. Außerdem soll er bemerkt haben, dass Asahara sich immer weiter vom Buddhismus entfernte indem er Elemente der Christentums importierte oder sich als Reinkarnation der Göttin Shiva bezeichnete. Danach fiel ihm ein, dass es im Buddhismus keinen „Guruismus“ (guruizumu グルイズム) gibt (Watanabe 2005, S. 160-161).
Während der Sarin-Anschläge 1995 befand sich A in Russland, wo er die Außenstellen der Sekte leitete. Er wurde per internationalem Haftbefehl gesucht und 1998 in Zypern verhaftet und nach Japan ausgeliefert. Vor Gericht sagte A aus, dass er wie auch andere Kernmitglieder des eigenständigen Denkens nicht mehr fähig gewesen wäre und deshalb den Befehle Asaharas folge leistete. Asahara habe Individualität sowie eine eigene Persönlichkeit, mit der Ausnahme von ihm selbst, nicht erlaubt und somit alle zu Klonen gemacht (kurōnka クローン化) und ihre Gedandken manipuliert. Im zweiten Prozess revidierte er sein Plädoyer, indem er sich weit weniger auf kurōnka bezog. Beim letzten Prozess änderte er seine Aussage dahingehend, dass er keine Erinnerung habe, sich während des Mordes in der Nähe befunden zu haben (Watanabe 2005, S. 164-165).