Exzerpt:Watanabe M 2005

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Themengruppe Exzerpte
Behandeltes Werk
Manabu Watanabe 2005
„Kyūsai to bōryoku: Ōmu Shinrikyō moto mikibu no nyūshin to dakkai no ichiji rei.“ Journal of religious studies 79(2) (2005), S. 375-398. (Exzerpt.)

Über den Autor

Watanabe Manabu 渡辺 学 ist Professor und arbeitet derzeit in der Abteilung für Christliche Studien an der Nanzan Daigaku 南山大学 in Nagoya. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung und Untersuchung von Religionen mit einem besonderen Schwerpunkt auf Neureligionen und die Psychologie der Religionen. Er beschäftigte sich außerdem mehrmals mit Theorien von Carl Gustav Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie.

Zusammenfassung

Das Ziel dieser Studie war, die Prozesse und Gefühle, welche zum Eintritt in Sekten, sowie Gefühle, die zum Austritt führen zu untersuchen. Als Fallbeispiel diente hierbei eines der ersten Mitglieder der 1987 gegründeten Sekte Ōmu Shinrikyō, welches zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits ausgetreten war. Watanabe weist auf die Schwierigkeit hin, objektive Quellen zu finden. Während Organisationen sich auf angekündigte Reportagen vorbereiten und von ihrer bester Seite zeigen, sich sozusagen inszenieren können, sprechen ehemalige Mitglieder oft nur negative Seiten an (Watanabe 2005, S. 375-376). Watanabe unterscheidet auch sechs verschiedene Varianten der Berichterstattung, beziehungsweise Erzählungsformen über das Schicksal der ehemaligen Mitglieder von Ōmu Shinrikyō:

  • Anhänger, welche von Anfang an ernsthaft an die Lehren und den Guru glaubten und eifrig meditierten
  • Die Sünden und Verbrechen der Mitglieder, wobei der Fokus oft auf Ermittlungen und Gerichtsprozessen, aber auch zum Teil auf Verschwörungstheorien liegt
  • Der Austritt und die Emanzipation einiger Mitglieder, wobei Aussagen vor Gericht eine große Rolle spielen
  • Die Strategien der Anwälte, welche der Sekte als Organisation die Hauptschuld geben, da Gedankenkontrolle und „Klonisierung“ stattgefunden haben soll
  • Die nüchterne Zusammenfassung der Ermittlungen
  • Die nüchterne Zusammenfassung der Verteidigung vor Gericht

Der Weg des A zu Ōmu Shinrikyō

Um die Anonymität zu wahren, wurde anstelle des Namens der untersuchten Person stets „A“ geschrieben. A ist männlich, in den 1950er-Jahren geboren und machte seinen Oberschulabschluss an einer Handelsschule. Danach lernte er Akupunktur und die Moxa-Therapie, erhielt die Lizenz zur Ausübung dieser Praktiken und arbeitete in einer Klinik. Nach eigenen Angaben interessiert sich A seit seiner Schulzeit für Shintō, besonders für alte Überlieferungen und Mythen (Watanabe 2005, S. 381). Ab 1999 stand der Autor informell in Kontakt mit A und seinem Rechtsanwalt. Watanabe selbst beschrieb A zum Zeitpunkt der Untersuchung als leicht depressiv, aber psychisch stabil (Watanabe 2005, S. 376-377). Die Geschichte von A wurde deshalb untersucht, weil sie viele Parallelen zu den Geschichten anderer ehemaliger Mitglieder Ōmu Shinrikyōs aufweist.

A bemerkte, dass Glück, zum Beispiel Familienglück, vergänglich sei. Trotz Heirat schien er nicht zufrieden und suchte nach etwas Ewigem. Er las Bücher über Spiritismus und Energien, besuchte ein Seminar und traf mehrere Media. Nichts schien ihm bei seiner Suche weiterzuhelfen, bis er in einem Artikel der Zeitschrift [1] zum ersten Mal von Asahara Shōkō[2] erfuhr. Asahara teilte seiner Erkenntnisse zu hihiirokane ヒヒイロカネ, einem mythischen Metall für welches sich A interessierte, mit. Der Kontakt zu Asahara wurde zu Beginn telefonisch geführt, weitete sich jedoch schnell zu persönlichen Treffen aus. A trat in Folge dessen Asaharas Yogaverein Ōmu Shinsen no kai bei. Asahara erklärte unter Anderem, dass Erleuchtung zu erlangen sei, indem das Karma der Menschen verbessert werden müsse. Desweiteren seien auch spezielle Formen des Yoga sowie einsame Meditation notwendig. A begleitete ihn nach Indien, wo er Zeuge wurde, wie Asahara einem beiden völlig unbekannten Mann mittels shakutipatto シャクティパット[3] einen Teil seiner Energie übertragen haben soll (Watanabe 2005, S. 383). Dies festigte Asaharas Stellung bei A, der in ihm seinen Meister gefunden hat. A ist einer jeder Mitglieder, die zum Zeitpunkt der Gründung Ōmu Shinrikyōs beitraten und der Person Asahara Shōkō ebenso treu waren, während sich später immer mehr Mitglieder häuften, welche aufgrund der versprochenen Erlösung (kyūsai 救済) dem Guru folgten (Watanabe 2005, S. 377).

Verbrechen und Reue

1988 starb ein Mitglied der Sekte beim Training[4]. Da sich die Verbreitung dieser Todesursache schädigend auf den Ruf der Sekte ausgewirkt hätte, wurde die Leiche verbrannt. Ein anderes Mitglied beschloss, die Sekte zu verlassen und diesen Vorfall zu veröffentlichen. Allerdings gab Asahara den Auftrag, diese Person zu eliminieren. Kernmitglieder, darunter A, versammelten sich unter dem Ausschluss anderer Mitglieder. Auf die Frage, ob man für den Guru einen Mord begehen würde, antwortete A wie auch alle Anderen positiv. Daraufhin fand ein Mordkomplott statt, welches prompt in die Tat umgesetzt wurde. A habe sich nicht aktiv an den Mord und der Verstümmelung beteiligt, sondern am Treppenhaus Ausschau gehalten (Watanabe 2005, S. 385-386).

Nach der Wahlniederlage der Shinritō 1990 erklärte Asahara intern, dass der buajirayāna ヴァジラヤーナ[5], das „Fahrzeug“, welches die Menschheit retten soll, stark vom Weg abgewichen sei (Watanabe 2005, S. 387). Von diesem Zeitpunkt an ließ Asahara chemische und biologische Waffen wie Bakterienkulturen, Phosgen und Sarin produzieren, um die Menschen durch den Tod zu erlösen. Als Kernmitglied wusste A von diesen Machenschaften. Laut eigener Aussage begann er an den Vorhaben Asaharas zu zweifeln. Zum einen verband er kyūsai nicht mit Massenmord an Unbeteiligten. Außerdem soll er bemerkt haben, dass Asahara sich immer weiter vom Buddhismus entfernte, indem er beispielsweise Elemente der Christentums importierte, oder sich als Reinkarnation Shivas bezeichnete. Danach fiel ihm ein, dass es im Buddhismus keinen „Guruismus“ (guruizumu グルイズム) gibt (Watanabe 2005, S. 390-391).

Während der Sarin-Anschläge 1995 befand sich A in Russland, wo er die Außenstellen der Sekte leitete. Er wurde per internationalen Haftbefehl gesucht und 1998 in Zypern verhaftet, von wo aus er an Japan ausgeliefert wurde. Vor Gericht sagte A aus, dass er von der Sekte ausgetreten sei und nichts mehr mit ihr zu tun haben wolle. Desweiteren behauptete A, dass er wie auch andere Kernmitglieder des eigenständigen Denkens nicht mehr fähig gewesen wäre und deshalb den Befehlen Asaharas stets Folge leistete. Asahara habe Individualität sowie eine eigene Persönlichkeit, mit der Ausnahme von ihm selbst, nicht erlaubt und somit alle zu Klonen gemacht (kurōnka クローン化) und manipuliert. Im zweiten Prozess revidierte er sein Plädoyer, indem er sich weit weniger auf kurōnka bezog. Beim letzten Prozess änderte er seine Aussage dahingehend, dass er keine Erinnerung habe, sich während des Mordes in der Nähe des Tatortes befunden zu haben (Watanabe 2005, S. 394-395).

Kommentare

Diese Studie verdeutlicht, wie stark der Einfluss Asaharas auf seine Jünger war. Watanabe stellt zwar fest, dass es unmöglich ist, Gedankenkontrolle im diesem Fall nachzuweisen. Setzt man sich mit der Vergangenheit der Person auseinander, scheint es ebenso ersichtlich, dass zumindest der Eintritt in die Sekte freiwillig geschah. Fakt ist jedoch, dass sich ein Teil Asaharas Anhängerschaft an seinen Plänen, welche Dimensionen sie auch annahmen, gehorsam beteiligte, unabhängig davon, ob eine Gehirnwäsche stattfand, oder nicht.

Anmerkungen

  1. ist eine monatlich erscheinende japanische Zeitschrift, welche sich mit Okkulten, paranormalen Phänomenen, sowie Spekulationen über Außerirdische beschäftigt.
  2. Bis zu seiner selbsterklärten Erleuchtung im Jahr 1986 benutzte er noch seinen bürgerlichen namen Matsumoto Chizuo
  3. Shaktipat ist ein hinduistischer Begriff, welcher die Übertragung geistiger Energie beschreibt.
  4. Zum Training in Ōmu Shinrikyō gehörten neben Yoga und Meditation auch Schlaf- und Essensentzug.
  5. Im Tibetischen Buddhismus ist das Vajrayana eines der Wege (yana, wörtlich Fahrzeuge), um zum Ziel der Buddhaschaft zu gelangen.