Exzerpt:Ohnuki-Tierney 1991

Aus Kamigraphie
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Die Autorin

Emiko Ohnuki–Tierney ist eine japanische Anthropologin, die einen Lehrstuhl am Institut für Anthropologie an der Universität Wisconsin, USA innehat. Im Laufe ihrer wissenschaftlichen Arbeit veröffentlichte sie neben zahlreichen Monographien, auch einige Fachartikel, die sich mit der Kultur und Riten der Ainu bis etwa Anfang der 1980er Jahre befassten. Später widmete sie sich vorwiegend der Macht und der Funktion von Symbolen in der japanischen Kultur. In ihrem Text Rice as Metaphor of the Japanese Self vom Jahr 1994 und weiteren Werken greift sie auch die Rolle der Nahrung in der japanischen Gesellschaft auf, die über die normale Bedeutung als Lebensgrundlage hinausgeht.

Mehr Informationen und Fachartikel gibt es auf ihrer Universitäts-Homepage.

Rezension: Der japanische Kaiser als eine Gottheit (Kami)

In diesem Artikel beschäftigt sich Ohnuki mit der symbolisch-religiösen Bedeutung des Tennō als einer Kami-Gottheit, deren Bedeutung sich von dem christlich-jüdischen Konzept grundsätzlich unterscheidet. Laut Ohnuki-Tierney ist es gerade das Verständnis der Fluidität des Konzepts von kami, die die Veränderungen des kaiserlichen Regierungssystem und der Rolle von Tennō im Laufe der Geschichte nachvollziehbar macht.

Die Geschichte des kaiserlichen Regierungssystems

Im ersten Teil, dem geschichtlichen Teil, beschreibt Ohnuki-Tierney die Ursprünge des kaiserlichen Regierungssystem. Die Entstehung des ersten japanischen Reichs Yamato erfolgte fast sechs Jahrhundert nach der Einführung des Nassreisbaus in Japan (~350 v.Chr.). Die politisch-religiöse Macht der frühen Herrscher war mit dem Reisanbau eng verknüpft. Die politische Macht dieser magico-religiösen Anführer beruhte auf ihrer übernatürlichen Kraft eine gute Ernte zu versichern.

Dafür wurde jährlich ein Ernteritual durchgeführt, welches zugleich auch die politische Macht des Herrschers sicherte. Dies ist unter anderen der Grund, wofür viele Forscher die religiös-rituale Natur im Gegensatz zur politischen Natur der frühen japanischen Herrschern betonen. Die politische, ökonomische sowie religiöse Funktion der frühen Anführern in dem damaligen politischen System Ritsuryō, kommt bei der Thronbesteigungszeremonie Daijōsai, die an demselben Tag wie das Erntefestival Niiname stattfindet, klar zum Ausdruck. Aus der Perspektive des Herrschers ist Daijōsai ein persönlicher sowie politischer Akzessionsritus, der die Neuerwerbung seiner Seele, seines Amtes und, wenn man dieser Logik folgt, auch des kaiserlichen Systems sichert.

Das Kaiserliche System Japans erlebte seine Blüte im achten Jahrhundert. Im Mittelalter (1185 - 1603) und der Edo Zeit (1603 - 1868) waren die japanischen Kaiser aus politischen und ökonomischen Gründen oft nicht fähig die kaiserlichen Rituale, unter anderem auch das wichtigste Ritual – Daijōsai, durchzuführen. Das System erlebte fundamentale Veränderungen zur Zeit der Meiji Restauration. Obwohl die Meiji-Anführer ihr Anstreben als eine Wiederherstellung des alten kaiserlichen Systems bezeichneten, haben sie die japanische Monarchie nach einem westlichen Model mit wesentlichen Unterschieden zu dem altertümlichen japanischen kaiserlichen System gebildet.

  • Die neue japanische Verfassung aus dem Jahre 1889 erklärte den Kaiser für eine Kami-Gottheit arahitogami (jap. 現人神 oder auch 荒人神 , dt. kami, der als Mensch erscheint). Die ursprüngliche Funktion der japanischen Kaiser im Altertum war die des Schamanes - eines Mediums, das im Kontakt mit den Gottheiten treten könnte und dessen politische Macht durch die religiösen kaiserlichen Rituale regelmäßig erneut werden musste. Die neue Bedeutung vom Kaiser nach der Meiji Restauration war die einer Gottheit im menschlichen Körper, die aber mehr der jüdisch-christlichen als der japanischen Vorstellung von einer Gottheit entsprach.
  • Weiter erklärte die neue japanische Verfassung den Kaiser für den militärischen Oberbefehlshaber, d. h. seine militärische Macht war nicht mehr die Begleiterscheinung seiner religiösen Macht, wie es in der Geschichte der Fall war.
  • Eine weitere Veränderung, die die Meiji Restauration mit sich brachte, war die verstärkte Wertlegung auf die Identität der Menschen als Bürger der japanischen Monarchie und Untertanen des herrschenden Kaisers, wozu man die Zeitzählung benutzte – eine Zeitepoche begann und endete mit der Geburt und Tod des jeweiligen Kaisers (diese Art der Zeitzählung hat wurde nach dem Altertum nach dem chinesischen Vorbild vorgestellt, wurde aber bis ihrer Renaissance während der Meji Restauration, oft nicht eingehalten - die Epochen wurden oft nach einem Ereignis wie etwa die Verlegung der Hauptstadt benannt). Dies sowie die Nationalflagge, Hymne sollten das japanische Volk unter der Herrschaft des Kaisers einigen.

Die ‚Göttlichkeit‘ des Kaisers endete nach dem zweiten Weltkrieg, wenn die amerikanischen Besatzungsmächte den Kaiser für einen Menschen erklärten und gleichzeitig die schintoistische Kirche von dem Staatskörper (einschließlich der staatlichen finanziellen Unterstützung von Schreinen) endgültig getrennt haben. Die kaiserlichen Rituale wie etwa Daijōsai wurden zu privaten Ritualen, die nun im Rahmen der kaiserlichen Familie durchgeführt wurden. Die Trennung von Schintoismus und Staat erschwerte im Falle Japans die Tatsache, dass man das ‚Religiöse‘ bei einer Nation, deren frühere Anführer ihre politische Macht durch ihre übernatürliche Kraft legitimieren müssten, nur schwer definieren konnte.

Die Interpretation des kaiserlichen Regierungssystems

In dem zweiten Teil seiner Arbeit beschäftigt sich Ohnuki-Tierney mit dem Konzept von Kami und dessen Bedeutung für das Verständnis des kaiserlichen Systems aus der Perspektive der japanischen Bürger. Laut Ohnuki-Tierney verlor das kaiserliche System seine konzeptuelle Grundlage, die mit dem Reisanbau eng verknüpft war, nicht nur wegen der verschiedenen und von einander fast unabhängigen historischen Abwicklung von dem kaiserlichen System und Reisanbau.

Die Bedeutung von Kaiser änderte sich im Laufe der japanischen Geschichte ganz radikal – von einem shamanistischen König, den immer abwesenden Kaiser der Edo-Zeit, einer Gottheit arahitogami bis einem völlig menschlichen Kaiser (jp. taishū tennō 大衆天皇, dt. Kaiser für die Masse=Volk). Ein weiterer Hinweis, in wie weit sich die Natur des japanischen Kaisers im Laufe der Geschichte änderte, sind seine Bezeichnungen. Im 7. Jahrhundert referierte man von dem Kaiser des Yamato Reiches als Ōkimi 大君 (dt. Großer Herr/Fürst). Dieser Begriff wurde durch die chinesische Bezeichnung für Kaiser Tennō 天皇, die unter anderem auch im religiösen Kontext zu verstehen war. Später ersetzte man den Begriff Tennō durch den konfuzianischen Titel Tenshi 天子 (dt. Sohn des Himmels). Die Bezeichnung des japanischen Monarchs Tennō stabilisierte sich während der Edo-Zeit.

Obwohl man mit dem Begriff Kami üblicherweise schintoistische Gottheiten bezeichnete, wurde dieser Begriff oft auch bei den buddhistischen und taoistischen Gottheiten in Japan angewandt. Der Grund dafür ist die Benevolenz der Japaner gegenüber Religion und dass in Japan seit Altertum mehrere Religionen nebeneinander existieren. Die Fluidität und Undefinierbarkeit des japanischen Konzepts der Religionen ist identisch mit dem Verständnis von Kami-Gottheiten in Japan. In der japanischen Geschichte waren oft Menschen oder Menschen mit übernatürlichen Kräften als Kami bezeichnet. Menschen sowie Kami wurden durch eine Dualität von Guten und Bösen, konstruktiver und destruktiver Macht gekennzeichnet.

Der Tennō als ein magico-religiöser Anführer musste in der Geschichte seine politische Macht durch seine übernatürliche Kraft, mit der er eine gute Ernte sichern konnte, legitimieren können. Die ultimative Macht lag aber nicht bei den Gottheiten, im Gegensatz, es waren oft Menschen die die Gottheiten manipuliert haben. Im Laufe der Geschichte haben Japaner das japanische Pantheon drastisch umgewandelt. Sie haben den Kami-Gottheiten Funktionen zugewiesen, neue Gottheiten erfunden und alte zerstört. Ähnlicherweise hat japanische Militärregierung den Kaisers verschiedene Funktionen und Bedeutungen zugewiesen. Der Grund, warum es für die Regierung möglich war, die Göttlichkeit oder Menschlichkeit des Kaisers in den Augen der Öffentlichkeit zu manipulieren, war die Fluidität des Konzeptes von Kami und Tennō. Die Ambivalente Stellung der militärischen Regierung gegenüber der symbolisch-religiösen Bedeutung von Tennō ist bei der mangelnden Unterstützung von den Akzessionsriten und der Verbannung von manchen Kaisern durch die Shōgune (die militärischen Oberbefehlshaber) klar sichtbar. Auf anderer Seite haben die Shōgune die Göttlichkeit ihrer Kaiser oft anerkannt und obwohl sie eigene Göttlichkeit angestrebten, blieb Tennō bei den Zeremonien und Ritualen immer die zentrale Figur.

In manchen Erzählungen stellt sich heraus, dass ein Mitglied der kaiserlichen Familie während seines Lebens Göttlichkeit (Kami-Haftigkeit) oder Menschlichkeit erwerben konnte. Auch den militärischen Anführern Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu hat es gelungen während ihres Lebens den Titel einer Göttlichkeit Kami zu erwerben. Wäre die Hierarchie der Wesen in dem Universum nach der japanischen Vorstellung permanent und linear mit den Gottheiten an der Spitze, wurde dies einen Verstoß gegen die kosmologische Ordnung und eine Inversion der Hierarchie bedeuten. Da es aber zu keiner negativen Reaktion kam, kann man annehmen, dass es keine fixe oder lineare Hierarchie gibt. Die Tatsache, dass sich die Definition von Kami stets dynamisch verändert, ermöglichte die Adoption der fremden Religionen nach Japan. Buddhismus gelang nach Japan während des 6. Jahrhunderts und setzte sich in dem 7. Jahrhundert als kultisches System der prominenten Klans und des kaiserlichen Hofs durch. Offiziell vorstellte die Regierung die so­ge­nannte honji suijaku Konzep­tion als ein Versuch diese zwei Religionen zu einigen. Laut dieser Konzep­tion sind gewisse Kami im Grunde Buddhas oder Bodhisattvas, die sich aus Grün­den der Bekeh­rung vor­über­gehend in Kami-Gestalt manifes­tieren.

Das kaiserliche System Japans wird oft traditionell mit einer linearen Hierarchie und dem Kaiser (als eines direkten Nachkommens der Sonnengöttin Amaterasu) an der Spitze dargestellt. Diese Auffassung von dem kaiserlichen System wurde in dem 19. Jahrhundert von der japanischen Regierung stark gefördert, obwohl es der Realität nicht entsprach. Japanisches Regierungssystem und die Rolle des Kaisers unterging im Laufe der Geschichte viele Transformationen, an den man beobachten kann, wie Traditionen und Mythen erfunden und manipuliert werden, um der modernen sozialen Ordnung die Legitimität der Geschichtlichkeit zu verleihen. Laut Ohnuki-Tierney ist es gerade die Fluidität und Dynamik des Konzepts von kami, die die Manipulation der Bedeutung von Tennō und seiner Rolle im Laufe der Geschichte ermöglichte.

Kritische Stellungnahme

Der wichtigste Kritikpunkt ist Ohnuki-Tiernes's Argumentationsweise und ihr Umgang mit Worten, der spekulative Annahmen als Sachverhalt erscheinen lässt.

Die Überschneidungen des Erntefestes Niiname und der Thronbesteigungszeremonie Daijōsai sind offenkundig. Im ersten Teil des Artikels präsentiert die Autorin aber die verschiedenen Auslegungen der einzelnen Phasen der Thronbesteigungszeremonie, wobei sie an einer Stelle behauptet, dass das Daijōsai den kosmischen Zyklus von Prodkution und Reproduktion symbolisch darstelle (Seite 202). Daraus ergibt sich für Ohnuki-Tierney: Erntefestival = Daijōsai, zentrale Person bei Daijōsai = Kaiser, Kaiser = sichert Produktion und Reproduktion, Rolle des Kaisers im frühen Japan (zur Zeit der Entstehung von Niiname) = religöser Anführer. Meiner Meinung nach kann diese Argumentationsweise nicht anders denn als Spekulation bezeichnet werden, da es über die Bedeutung der Herrscher im frühen Japan keine gesicherte Grundlage historischer Daten gibt.

In ihrem Artikel "Rice as Self: Japanese Identities through Time" (1993) geht Ohnuki-Tierney sogar so weit, dass sie behauptet Reis wurde als eine Metapher für 'das Japanische Ich' (en. japanese self) seit der Yayoi-Zeit verwendet. Auch der Anthropologe Mark Hudson kritisiert Ohnuki-Tierney's Ansatz, indem er argumentiert, dass ihre These keine historische Grundlage hat und man zu dieser Zeit nicht einmal mit Sicherheit von einem einheitlichen Bewustsein der Bewohner der japanischen Inseln als 'Japaner' (en. unified sense of Japaneseness) sprechen könne. [1]

weitere Literatur

  1. Mark J. Hudson 1999
    The ruins of identity: Ethnogenesis in the Japanese islands. Honolulu: University of Hawai'i Press 1999.