Darstellung von psychischen Krankheiten im Heike monogatari

Aus Kamigraphie
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ThemengruppeErzählung (Mythos, Legende, Märchen, etc.)
Schlagworte Heike monogatari 平家物語
ProtagonistenGiō 祇王, Kenreimon-in 建礼門院, Taira no Kiyomori 平清盛, Pilgerin
Diese Seite entstand im Kontext des Seminars Kamigraphie:Krankheiten.

Um darauf zu schließen, ob und wie psychische Krankheiten im Heike monogatari 平家物語 dargestellt wurden, richte ich mich nach den Diagnostikkriterien der Bücher Einführung in die Psychopathologie von Klicpera Christian (2009) und Grundlagen der Psychiatrie von Paulitsch Klaus und Andreas Karwautz (2008). Diese Diagnostikkriterien richten sich nach dem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO und werden international verwendet.

Vorweg möchte ich jedoch auf die Probleme hinweisen, die bei dieser Methode auftauchen. Das Heike monogatari wurde, bevor die Geschichten niedergeschrieben wurden, mündlich überliefert.[1] Das heißt unter anderem, dass sich wahrscheinlich viele der Geschichten verändert haben und ausgeschmückt wurden. Dadurch lässt sich nur schwer auf die tatsächliche Situation schließen.

Taira no Kiyomori

Taira no Kiyomori 平清盛 (1118–1181) war bis zu seinem Tod das Oberhaupt der Taira-Familie (Tyler 2012:xl). Nach dem Tod seines Sohnes, Taira no Shigemori 平重盛 (1138–1179), gibt es keinen mehr, der auf Kiyomoris Verhalten mäßigend einwirken könnte. Dies führt schlussendlich zum Fall der Taira.

The loss of his beloved son surely plunged Lord Kiyomori far into the depths of despair, for he hurried to Fukuhara and there shut himself away.
Tyler 2012, S. 171

Es gibt mehrere Stellen im Text, aus denen man schließen kann, dass Kiyomori an Schizophrenie erkrankt sein könnte. Am deutlichsten kann man Anzeichen dafür im Buch 5, Kapitel 3 „Spirit Mischief“ erkennen. Nachdem Kiyomori die Hauptstadt nach Fukuhara verlegte und die Taira sich im kürzlich erbauten Oka Palast befinden, beginnen sich bald seltsame Dinge zu ereignen. Auffallend ist jedoch, dass diese Vorkommnisse hauptsächlich Kiyomori betreffen und andere Personen meist nichts wahrnehmen.

One night an enormous face, a full bay wide, peered into the room where Lord Kiyomori lay. Untroubled, Kiyomori glared hard at it until it melted away.
Tyler 2012, S. 261

An dieser Textstelle erkennt man erste Anzeichen für Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Kiyomori selbst scheint jedoch gelassen zu bleiben. Es werden zwar in anderen Kapiteln kaum Ereignisse dieser Art geschildert, jedoch lässt seine Reaktion darauf schließen, dass dies wahrscheinlich kein Einzelereignis für ihn war.

The Oka palace […] had no trees worth mentioning anywhere near it, but one night there came a crash, as of a great tree falling, and a roar of laughter that if human could well have come from two dozen people.
Tyler 2012, S. 261

In Buch 3 wird ein vergleichbares Ereignis geschildert. In Kapitel 5 wird davon berichtet, wie Kiyomori und ein paar seiner Anhänger bei Oku-no-in 奥の院 (bei Mt. Kōya 高野山) auf einen Mönch treffen, der aus dem Nichts auftaucht. Der Mönch gibt Kiyomori den Auftrag, den Itsukushima Schrein (Itsukushima-jinja 厳島神社) zu restaurieren und verspricht ihm und seinen Nachkommen im Gegenzug Macht und Einfluss am Hof. Danach löst sich der Mönch in Luft auf.[2] Obwohl man vermuten kann, dass andere Leute anwesend waren, wie es zum Beispiel in einem Holzschnitt dargestellt wird, spricht der Mönch nur Kiyomori direkt an. Zusätzlich is es fragwürdig, ob dieses Ereignis tatsächlich als Symptom für eine psychische Krankheit interpretiert werden kann, da solche und ähnliche Ereignisse häufig in der Entstehungsgeschichte von Schreinen und Tempeln vorkommen.

An der nächsten Textstelle kann man erkennen, dass zu seinen Wahnvorstellungen noch akustische Halluzinationen hinzukommen.

There was also one morning when Lord Kiyomori stepped from his curtained bed and threw open the double doors only to see, heaped in the inner court garden, dead men’s skulls beyond counting, rolling and churning, up and down, in and out, rattling against one another with a huge clatter. “Attendant, Attendant!” he called, but, as it happened, no one came. […]Kiyomori glared back, unperturbed, and under his gaze they disappeared without a trace, like frost or dew in burning sun.
Tyler 2012, S. 261

Kiyomori wurde von einer mysteriösen Krankheit heimgesucht, die in Folge auch zu seinem Tod führte. Es scheint, als wäre er kaum mehr in der Lage ganze Sätze zu formen, was auf eine sprachliche Rückbildung schließen lässt.

From the very first day of Lord Kiyomoris illness, nothing passed his lips, not even water, and his body burned like fire. The heat within twenty-five or thirty feet of where he lay was unbearable. His only words were “Hot! Hot!” This was clearly no common affliction.
Tyler 2012, S. 325

Hierbei ist es jedoch auch wichtig zu erwähnen, dass Kiyomori kurz vor seinem Tod noch in der Lage war, seinen letzten Wunsch in ganzen Sätzen zu äußern.[3] Es scheint jedoch als wäre dies vom Autor ausgeschmückt worden, um Kiyomoris Sündhaftigkeit noch einmal in den Vordergrund zu stellen, denn es folgen gleich darauf die Worte „What profoundly sinful words!“[4]

Gleich darauf folgt die Szene, in der sein Tod beschrieben wird. Die Beschreibung ähnelt einem katatonen Erregungszustand, bei dem die Betroffenen unter anderem verkrampfen, Probleme haben zu atmen und Grimassen schneiden (Paulitsch/Karwautz 2008:116): „He writhed in agony, gasping for breath, and finally died in convulsion.“[5]

Man kann aus der Gruppe 1 der „Symptome für Schizophrenie“ Wahnwahrnehmungen und (akustische) Halluzinationen wiedererkennen. Es lässt sich aufgrund von Kiyomoris Reaktionen vermuten, dass er schon seit längeren an Halluzinationen gelitten haben könnte. Die Situation, in der Kiyomori dem Mönch begegnet, könnte eines der ersten Anzeichen für Halluzinationen gewesen sein.

Laut Angane lässt sich Schizophrenie bereits in Schriften, die 1500 vor Christus entstanden sind, vorfinden. Sie fand Beschreibungen aus der Bibel und aus Ägypten, die ein ähnliches Krankheitsbild dokumentieren.[6] Unter diesen historischen Aspekten betrachtet, ist es also möglich, dass Kiyomori unter der Krankheit litt. Zusätzlich lässt sich eventuell eine Sprachverarmung diagnostizieren, dies kann jedoch nicht zu 100% belegt werden, da Kiyomori kurz vor seinem Tod scheinbar noch in der Lage dazu war, ganze Sätze zu formulieren.

Darstellung

Bei Kiyomori werden viele der seltsamen Vorkommnisse durch das Werken von Göttern oder Geistern erklärt.

This was obviously some tengu prank, and they posted a “whistler guard”: […] But when the archers shot toward the tengu, they got back dead silence.
Tyler 2012, S. 261

Wie in ähnlichen Geschichten, wie zum Beispiel in der Bibel, wird nicht davon ausgegangen, dass Kiyomori unter einer Krankheit gelitten haben könnte, sondern sein seltsames Verhalten wurde dem Übernatürlichen, insbesondere Dämonen oder Geistern, zugeschrieben.[7]

Talk spread that some demon had got into Lord Kiyomori. He simply could not control his temper.
Tyler 2012, S. 181

Am Ende erzählt Kenreimon-in, dass Kiyomoris Größen- und Kontrollwahn der Grund für die schrecklichen Dinge, die ihr und ihre Familie passiert sind. In diesem Fall wird ein Symptom einer psychischen Krankheit und die Folgen als Bestrafung der Götter angesehen.

And all of this had come to pass because the chief minister, Kiyomori, had held the realm and the four seas before him in the palm of his hand, without fear of the One Man above, without kindness of the people below, passing, exactly as he pleased, sentence of death, sentence of exile, in utter contempt of all the world.
Tyler 2012, S. 708

Kenreimon-in

Kenreimon-in 建礼門院 (1155–?) war die Frau von Kaiser Takakura 高倉(1161–1181) und die Mutter von Kaiser Antoku 安徳 (1178–1185).Während der Schlacht von Dan-no-ura 壇ノ浦 muss Kenreimon-in beobachten, wie sich ihre Mutter mit Kenreimon-ins 7-jährigen Sohn (dem Tennō) im Arm in die Fluten stürzt und wie andere Taira im Meer ertrinkt. Ihr eigener Selbstmordversuch scheitert jedoch.[8] Nachdem sie der Welt entsagte und eine Nonne wurde, beschloss sie, sich in ein abgelegenes Bergdorf zurückzuziehen, um dort für ihre verstorbenen Verwandten zu beten. Als ihr Schwiegervater, Go-Shirakawa 後白河 (1127–1192), sie besuchen kommt, schildert sie ihm die Vorkommnisse von Dan-no-ura 壇ノ浦 erneut. An diesen Textstellen kann man eindeutig erkennen, dass Kenreimon-in 建礼門院 unter post-traumatischer Belastungsstörung litt.

Es wird im letzten Buch mehrfach erwähnt, dass es für Kenreimon-in unmöglich ist, die Geschehnisse von Dan-no-ura zu vergessen.

Not while she lived could she forget how, when they saw that it was over, the men had all leaped into the sea or how those two had looked at the last: her emperor son and Lady Nii.
Tyler 2012, S. 688
She then felt him [her emperor son] present beside her. Never, never would she forget him.
Tyler 2012, S. 691
There is one thing that I will never forget, not in any life that may lie before me, and that is how my son, the former emperor, looked then. I do try to forget, but each time I fail; I try to bear the pain, but no, I cannot.
Tyler 2012, S. 700
At the sight tears blinded my eyes and I felt the heart within me fail. I would gladly forget but cannot; nor can I bear the memory. The shrieks and screams of those who remained sounded to me as deafening as the cries of sinner burning in hell.
Tyler 2012, S. 704–704

Da sie sich immer wieder an die Geschehnisse erinnert und ihr diese nicht aus dem Kopf gehen, leidet sie unter Einschlafstörungen. Diese scheinen erst später aufzutreten und über einen längeren Zeitraum schlimmer zu werden. Am Ende scheint sie gar nicht mehr schlafen zu können.

Longer and longer became the nights, while sleep fled further and further away from her, until she feared day might never dawn.
Tyler 2012, S. 690

Darstellung

Kenreimon-in wird, ähnlich wie Giō, als vorbildlich dargestellt. Auch wenn sie sich selbst für ihre Situation schämt, wird sie von anderen Leuten sehr für ihre Resolutheit gelobt. Die Darstellung der post-traumatischen Belastungsstörung wirkt eher, als würde sie für die Sünden ihrer Familie büßen müssen, als würde sie bestraft werden. Ihre Geschichte im Heike monogatari endet zwar mit ihrem Tod in einem abgelegenen Bergdorf, es wird allerdings angedeutet, dass sie in Amidas Paradies wiedergeborgen wird, wobei Quellen über ihren tatsächlichen Todeszeitpunkt nicht eindeutig sind. Im Kakuichi-bon 覚一本 stirbt sie 1191 in dem Bergdorf, in anderen Fassungen aber 1223 in der Hauptstad.[9] Im Kakuichi-bon scheint sie nach ihrem Tod für die Treue und Hingabe ihrer Familie gegenüber belohnt zu werden. Es gibt sogar Holzschnitte, die zeigen, wie sie vom Amida Buddha 阿弥陀仏 persönlich empfangen und ins Paradies begleitet wird.[10]

Giō

Zusammenfassung

Kiyomori schickt Giō fort und Hotoke Gozen nimmt ihren Platz als Kiyomoris Lieblings shirabyōshi ein. Kiyomori hält Hotokes Arm, während diese beschämt den Blick abgewendet hat. Links von ihnen verbeugt sich Giō respektvoll [Abb. 1]

Die Hauptdarsteller dieses Kapitels sind die shirabyōshi白拍子-Tänzerinnen Giō 祇王, Ginyo 祇女 und Hotoke Gozen 仏御前 (1160–1180), die sich bei Taira no Kiyomori besonderer Beliebtheit erfreuen und die er auch zu seinen Mätressen macht. Giō ist Kiyomoris Lieblingsdarstellerin und genießt dadurch hohes Ansehen im ganzen Land. Durch ihre Stellung profitieren auch ihre Mutter Toji und ihre Schwester Ginyo. Eines Tages möchte Hotoke Gōzen Kiyomori ihre Künste vorführen, da sie jedoch nicht in dessen Residenz eingeladen wurde, beschließt sie einfach von sich aus dort hinzugehen. Kiyomori ist zuerst empört und möchte Hotoke wegschicken, jedoch überredet ihn Giō, die sich in Hotokes Position hineinversetzen kann und Mitleid hat, sie doch vorführen zu lassen. Nach Hotokes Vorstellung ist Kiyomori so von ihrem Talent und ihrer Schönheit begeistert, dass er beschließt, Giō fortzuschicken und Hotoke bei sich zu behalten. Giō packt daraufhin alle ihre Sachen zusammen und verlässt Kiyomoris Residenz, nachdem sie ein Gedicht auf eine Schiebetür geschrieben hat:

New shoots emerging
wilting fonds are equally
grasses of the field
destines, every one, to feel
the withering touch of fall

Tyler 2012, S. 20

Giō geht mit ihrer Schwester zurück zu dem Haus ihrer Mutter, wo sich ihr Lebensstandard verschlechtert. Sie zieht sich zurück und nimmt auch keine neuen Aufträge mehr an. Eines Tages bekommt sie einen Brief von Kiyomori, der sie auffordert, zu seiner Residenz zu kommen und für Hotoke aufzutreten. Zuerst ignoriert Giō den Brief Kiyomoris, jedoch bekommt sie bald noch einen. Giō ist dem Gedanken Kiyomori wiederzusehen, so abgeneigt, dass sie sogar lieber sterben oder ins Exil geschickt werden würde, als zu antworten. Ihre Mutter Toji überredet sie aber doch zum Palast zu gehen. Dort wird sie komplett anders behandelt, als sie es gewohnt war und sie fühlt sich gedemütigt. Als sie zurück zu Hause ankommt, beschließt sie, sich lieber im Fluss zu ertränken, als noch einmal so eine Demütigung über sich ergehen zu lassen. Ihre Schwester Ginyo möchte sich zusammen mit ihr ertränken, jedoch werden beide von ihrer Mutter davon abgehalten, als diese sie fragt, wie sie denn als alte Frau alleine ohne ihre Töchter überleben soll.

Um Kiyomoris Einfluss zu entgehen, beschließen die drei Frauen schlussendlich die Stadt zu verlassen und Nonnen zu werden. Eines Tages klopft jemand an der Tür ihrer bescheidenen Hütte in den Bergen und die drei Frauen befürchten zuerst, es sei ein Dämon. Als sie jedoch die Türe öffnen, steht Hotoke vor ihnen. Hotoke erklärt, wie sie Giō nie vertreiben wollte und was für ein schlechtes Gewissen sie deswegen hatte. Jedoch hatte sie es bis dato nicht geschafft, Kiyomoris Einfluss zu entkommen. Hotoke fragt die drei Frauen, ob sie sich ihnen anschließen darf und als sie ihre Kapuze herunternimmt, sieht man, dass sie sich bereits die Haare rasiert hatte.

Anzeichen auf psychische Krankheiten

Die folgenden Textstellen sind aus der bekanntesten Variante des Heike monogatari, aus dem Kakuichi-bon. Die Geschichte, oder genauer gesagt die in der Geschichte vorkommenden Emotionen unterscheiden sich in den verschiedenen Fassungen. In diesem Kapitel lässt sich anhand von einigen Textstellen vermuten, dass Giō Depressionen entwickelt hat.

She accepted none of the letters and of course sent every messenger back. All this only made her feel worse, and she spent more and more time in tears.
Tyler 2012, S.20

Nachdem Giō von Kiyomori verstoßen wurde, zieht sie sich zum Haus ihrer Mutter zurück. Als die Leute in der Stadt davon erfahren, beschließen viele Giō aufzusuchen oder sie zu sich zu bestellen. Giō schickt jedoch alle Leute wieder weg und ignoriert alle Briefe. Allein im obigen Zitat kann man eine depressive Stimmung und den Verlust von Freude und Interesse feststellen.

But all too often in their thoughts they dwelled on the sorrow from the past, and their tears flowed on and on.
Tyler 2012, S.24

Auch hier kann man deutlich erkennen, wie sich durch die Verschlechterung des Lebensstandards auch Giōs Psyche verschlechtert. Sein kann erst mit ihrer Vergangenheit abschließen, nachdem sie mit Hotoke gesprochen und Hotoke sich ihr angeschlossen hat.

I felt like a failure in this life and the next.
Tyler 2012, S.25

Am Anfang des Kapitels scheint Giō sehr selbstbewusst. Als Kiyomori Hotoke ohne sie zu sehen wegschicken möchte, befiehlt im Giō fast schon, sie doch zu empfangen. Jedoch scheint ihr Selbstvertrauen unter der Verstoßung durch Kiyomori zu leiden.

The decision [eine Nonne zu werden] made sense enough-I was angry with life and with myself-but it was nothing compared to your renouncing the world.
Tyler 2012, S.28

Im Heike monogatari wie auch in anderen Werken dieser Zeit nutzen Frauen die Möglichkeit Nonnen zu werden um entweder Erleuchtung zu finden, oder um aus einer gewalttätigen Beziehung oder einem gewalttätigen Partner zu entkommen.[11] Giō nutzte dies zuerst, um erneuter Demütigung zu entgehen. Hotoke nutz dies ebenfalls, um Kiyomori und dessen Einfluss zu entkommen. Im kakuichi-bon wird leider nicht viel über Hotoke Gefühle geschrieben, aber sie macht sich Vorwürfe, weil Giō wegen ihr von Kiyomori fortgeschickt wurde und das nachdem sie nur Dank ihr die Möglichkeit hatte, in der Residenz aufzutreten. Diese Vorwürfe sind unbegründet, da Hotoke nichts gegen Giōs Verstoßung unternehmen konnte. Da man jedoch anhand der Textstellen bis auf depressive Stimmung und unangebrachten Selbstvorwürfen keine anderen eindeutigen Symptome der Depression feststellen kann, kann man hier Depression auch nicht eindeutig diagnostizieren.

“I shrank from disobeying my mother and set out on a painful errand, only to suffer a new blow. It is too much! More blows will follow if I go on. No, my mind id made up: I will throw myself into the water and drown.”
Tyler 2012, S.22

Nachdem Giō gedemütigt von Kiyomoris Residenz zurückkommt, spricht sie davon, dass sie lieber sterben würde, als noch einmal so gedemütigt zu werden. Auch zuvor im Kapitel, als sie Kiyomoris Einladung ignoriert, zeigen sich suizidale Tendenzen. An dieser Stelle würde sie lieber verstoßen oder getötet werden, als Kiyomori sehen zu müssen.

Wenn man nach den genannten Diagnostikkriterien geht, kann man bei Giō leichte Depressionen feststellen. Die Symptome, die man aus den obigen Textstellen erkennen kann, sind: depressive Stimmung (1), Verlust von Freude oder Interesse (2), Verlust von Selbstvertrauen (4) und Suizidgedanken und suizidales Verhalten (6).

Man kann zwar argumentieren, dass suizidales Verhalten und Suizidgedanken aufgrund des kulturellen und historischen Kontextes nicht als Symptom für Depression gesehen werden sollten. In den meisten Fällen von Suizid im Heike monogatari dient dieser zum Erhalt der Ehre und zum Schutz vor Demütigung. Trotzdem er- kennt man auch die Einstellung, dass viele Leute, hätten sie denn eine Wahl lieber weiterleben würden.[12] Laut Meeks wird Suizid im Heike monogatari jedoch nicht immer moralisch und kulturell gerechtfertigt. Er kann sowohl ehrenhaft, als auch als sündhaft sein.[13] Ein Beispiel für die Sündhaftigkeit wäre Taira no Michimoris 平道盛 (? – 1184) Frau Kozaishō 小宰相 (1164? – 1184). Nachdem Sie von dem Tod ihres Mannes erfährt, beschließt sie, sich selbst umzubringen. Jedoch versucht ihre Dienerin sie davon abzuhalten und sagt, Suizid zu begehen wäre eine Sünde und ein Fehler. Obwohl Kozaishō am Ende vom Autor für ihren Suizid gelobt wird, steht dem trotz allem die gegensätzliche Meinung ihrer Dienerin gegenüber.[14] Wie Yamagata möchte ich auf die von van Hooff (1990) vorgestellten Gründe für Suizid (causae moriendi) verweisen. Verzweiflung und Scham sind unter anderem zwei der genannten Anlässe[15], die auf Giōs Situation zutreffend sind. Obwohl Suizid in vielen literarischen Werken der Heian-Zeit als unmoralisch und sündhaft dargestellt wird[16] und Giō die akzeptablere Möglichkeit, eine Nonne zu werden, hatte, sprach sie trotzdem davon sich im Fluss zu ertränken. Deshalb kann in ihrem Fall trotz des kulturellen und historischen Kontextes ihre Äußerung als Symptom für Suizid gedeutet werden.

Darstellung

In Giōs Fall wird in keiner Weise daraufhin gedeutet, dass sie unter einer Krankheit gelitten haben könnte. Sie wird trotz ihrer sich verschlechternden Situation als sehr elegant uns souverän dargestellt. Man kann Giō in der Geschichte als Vorbild sehen, da sie sehr kontrolliert mit ihrer schwierigen Situation umgeht und Auswege findet. Außerdem ist sie sehr gütig, da sie Hotoke ohne zu zögern verzeiht, als diese bei der Hütte in den Bergen auftaucht und sich entschuldigt. Obwohl fast das ganze Kapitel über eine melancholische Stimmung dominiert, löst sich diese am Ende, als Hotoke sich Giō und deren Familie als Nonne anschließt, wieder auf.

Ein Grund dafür, wieso Giō nicht als psychisch krank angesehen wurde ist wahrscheinlich, dass es in Aufzeichnungen der medizinischen Geschichte Japans nichts Gleichwertiges mit melancholieartigen Krankheiten gibt. Man neigte eher dazu depressive Gefühle oder Menschen, die nach heutiger Sicht Symptome für eine Depression aufweisen, ästhetisch oder romantisiert darzustellen.[17]

Pilgerin

Als Fujiwara no Moromichi 藤原師通(1062–1099), der das Amt des Regenten besetzte, von einer mysteriösen Krankheit befallen wurde, verkleidete sich seine Mutter und ging in den Hiyoshi-Schrein (Hiyoshi-jinja 日吉神社), um für ihren Sohn zu beten. Sie legte sieben Gelübde ab und machte in ihrem Herzen noch drei weitere, von denen niemand etwas wissen konnte. Am siebten Tag ihrer Gebete wird eine Pilgerin im Hachiōji-Schrein (Hajiōji-jinja 八王子) plötzlich ohnmächtig. Nachdem sie zu einem ruhigeren Ort gebracht wurde, wacht sie auf und beginnt für eine Stunde zu tanzen, bis die Sannō Gottheit in ihren Körper fährt. Die Gottheit verspricht Moromichis Mutter, dass ihr Sohn noch drei weitere Jahre leben darf, wenn sie ihre Gelübde einhält.[18]

No one else could have known of them, since they were secret, but, strange to relate, on the night of the last, seventh day, one of the many pilgrims then at the Hachiōji Shrine, a shrine maiden and medium newly arrived from the far north, suddenly fainted. When they carried her off to a place apart, she quickly revived and began to dance. People looked on in wonder. She danced for an hour, until the Sannō divinity came down into her and she spoke of a frightening prophecy.
Tyler 2012, S.50

Man kann anhand des obigen Zitats eine vorübergehende Bewusstseinsveränderung in der Pilgerin erkennen. Es wird nicht erwähnt, ob sie schon einmal dergleichen erlebte, was es schwierig macht, auf psychische Krankheiten zu schließen. Jedoch sind an der einen Textstelle Symptome für dissoziative Störungen, insbesondere aus der Unterkategorie „Trance-und Besessenheitszustände“, erkennbar. Zum Beispiel würde ein Verlust der Kontrolle über die Körperbewegungen das Tanzen erklären.[19]

Darstellung

Das seltsame Verhalten der Pilgerin wurde im Zusammenhang mit Religion und dem Wirken von Göttern erklärt.

Zusammenfassung

Zwar gibt es Nachweise, dass man sich der Existenz psychischer Krankheiten im vormodernen Japan bewusst war, jedoch gibt es kaum Informationen dazu, wie diese wahrgenommen wurden.[20]

Man kann an mehreren Stellen im Heike monogatari auf psychische Krankheiten schließen, aber diese scheinen zu dieser Zeit nicht als Krankheit wahrgenommen worden zu sein. Man kann die Wahrnehmung der Krankheiten in 4 Kategorien einteilen: Erhabenheit, Bestrafung, Verrücktheit und Supranaturalismus. Diese Kategorien überschneiden sich oft, weil manche Darstellungen in mehrere Kategorien fallen. Zum Beispiel wird Kiyomori als verrückt bezeichnet („Verrücktheit“) und ist gleichzeitig dem „Supranationalismus“ zuzuordnen.

In den Fällen von Kiyomori, Giō, Kenreimon-in und einer namenlosen Pilgerin kann man ziemlich eindeutig auf psychische Krankheiten schließen. Geht man nach den Diagnostikkri-terien des ICD-10, kann Kiyomori mit Schizophrenie, Giō mit leichten Depressionen, Kenrei-mon-in mit post-traumatischer Belastungsstörung und die Pilgerin mit der Untergruppe „Trance- und Besessenheitszustände“ der dissoziativen Störungen diagnostiziert werden. In den Fällen von Kiyomori, Giō und Kenreimon-in weisen mehrere Textstellen auf eine mögliche Erkrankung hin, während die Pilgerin betreffend in nur einem, wenn auch aussagekräftigen Absatz, Hinweise zu finden sind.

Giō und Kenreimon-in fallen beide in die Kategorie „Erhabenheit“. Sie gehen beide souverän mit den Herausforderungen, die ihnen gestellt werden, werden als vorbildlich dargestellt und sogar vom Autor gelobt. Die Darstellung Kiyomoris kann gleich drei Kategorien zugeteilt werden: Bestrafung, Verrücktheit und Supranationalismus. Durch seine Krankheit, der er auch später erliegt, wird er für seine Untaten bestraft. Kiyomori wird von anderen oft als verrückt bezeichnet und die seltsamen Gegebenheiten, die ihm widerfuhren, wurden durch das Wirken von Geistern und Dämonen erklärt.

Verweise

Verwandte Themen

Literatur

  • Amey Y. Angane 2017
    „The divine madness: A history of schizophrenia.“ Annals of Indian Psychiatry 1/2 (2017), S. 133-135.
  • Junko Kitanaka 2012
    Depression in Japan: Psychiatric cures for a society in distress. New Jersey: Princeton University Press 2012. (Exzerpt.)
  • Christian Klicpera 2009
    Einführung in die Psychopathologie. Wien: Facultas.WUV 2009.
  • Klaus Paulitsch, Andreas Karwautz 2008
    Grundlagen der Psychiatrie. Wien: Facultas.WUV 2008.
  • Roberta Strippoli 2018
    Dancer, nun, ghost, goddess: The legend of Giō and Hotoke in Japanese literature, theater, visual arts, and cultural heritage. (61.) Leiden: Brill 2018.
  • Royall Tyler 2012
    The tale of the Heike. New York: Pinguin Books 2012.

Fußnoten

  1. Heike monogatari
  2. Tyler 2012, S. 147–148
  3. Tyler 2012, S. 327
  4. Tyler 2012, S. 327
  5. Tyler 2012, S. 327
  6. Angane 2017, S. 133
  7. Angane 2017, S. 133
  8. Tyler 2012, S. 610–611
  9. Meeks 2015, S. 149
  10. Tyler 2012, S. 706–707
  11. Strippoli 2018, S. 61
  12. Yamagata 2020, S. 73–74
  13. Meeks 2015, S. 151
  14. Meeks 2015, S. 151–152
  15. Yamagata 2015, S. 74
  16. Yamagata 2015, S. 151
  17. Kitanaka 2012, S. 24
  18. Tyler 2012, S. 49–51
  19. Paulitsch/Karwautz 2008, S. 184
  20. Van Enis 2016, S. 27–28

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:

  1. Gio und Hotoke.jpg
    Giō und Hotoke Gozen Blockdruck (Holz) von Chikanobu (1838–1912). Edo-Zeit und Meiji-Zeit
    Bild © Fuji Arts. (Letzter Zugriff: 2021/1/5)
    Kiyomori schickt Giō fort und Hotoke Gozen nimmt ihren Platz als Kiyomoris Lieblings shirabyoshi ein. Kiyomori hält Hotokes Arm, während diese beschämt den Blick abgewendet hat. Links von ihnen verbeugt sich Giō respektvoll.