Shintō im Mittelalter

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Shintō im Mittelalter

Vorlage:Flie gegenseitige Durch·dringung von Bud·dhis·mus und Shintō ist in der Kamakura [Kamakura (jap.) 鎌倉 Stadt im Süden der Kantō Ebene, Sitz des Minamoto Shōgunats 1185–1333 (= Kamakura-Zeit)] und Muromachi [Muromachi (jap.) 室町 Stadtteil in Kyōto; Sitz des Ashikaga Shōgunats 1336–1573 (= Muromachi-Zeit)]-Zeit (drei·zehn·tes bis sech·zehn·tes Jahr·hun·dert) bei·nahe total. Es scheint, als könne man über·haupt nur von einer ein·zi·gen, mehr oder weni·ger syn·kre·tis·tischen Religion des ja·pa·nischen Mittel·alters sprechen. Gewisse Unter·schiede zwi·schen kami [kami (jap.) Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō] und

Buddha बुद्ध (skt., m.)

„Der Erleuchtete“ (jap. butsu, hotoke 仏 oder Budda 仏陀)

Buddha

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werden zwar nicht ge·leug·net, doch letzt·lich — so die all·ge·meine Auf·fas·sung — sind diese Unter·schiede nur schein·bar, im Grunde sind kami und Buddhas das Gleiche. Eben·so wie fast jeder kami-Schrein unter der Ver·wal·tung eines bud·dhis·ti·schen Tem·pels steht, werden auch die kami selbst als „sicht·bare Spuren“ (suijaku [suijaku  (jap.) 垂迹 wtl. kami-Spur (eines Buddha); buddh. Bezeichnung für → kami]) oder Mani·fes·tati·onen einer bud·dhis·ti·schen Urform (honji [honji  (jap.) 本地 (buddhistische) Urform (eines kami); s.a. suijaku]) aufgefasst (s.  honji suijaku These).

Ryōbu Shintō

Einzelne Mönche gehen sogar noch weiter und betrachten kami und Buddhas als zwei gleichwertige Er·schei·nungs·formen ein und der selben gött·lichen Instanz. Ins·be·son·dere kommt es zur Ver·schmel·zung von Dainichi Nyorai [Dainichi Nyorai (jap.) 大日如来 Buddha Vairocana, der „kosmische Buddha“; wtl. „Großes Licht“ oder „Große Sonne“], dem Haupt·buddha des eso·te·rischen Bud·dhis·mus, mit Amaterasu [Amaterasu (jap.) 天照 Sonnengottheit; Ahnherrin des Tennō-Geschlechts; Hauptgottheit von Ise], der Ahnen·gott·heit des Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels]. Amaterasu und Dainichi werden in einem ähn·lichen dualen Ver·hältnis zu ein·ander gesehen wie die beiden

maṇḍala मण्डल (skt., n.)

„Kreis“, schematische Darstellung der kosmischen Ordnung (jap. mandara 曼荼羅)

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des eso·te·rischen Bud·dhis·mus,  Vajra- und Mutterschoß-Mandala, die ihrerseits nur zwei Aspekte des kosmischen Buddha Dainichi dar·stellen. So wie die beiden Mandalas mit·unter auch als „zweiteiliges Mandala“ (Ryōbu mandara [Ryōbu mandara  (jap.) 両部曼荼羅 „zweiteiliges Mandala“; andere Bezeichnung für das Ryōgai mandara]) be·zeich·net werden, hat man für die Ver·schmel·zung von Dainichi und Amaterasu rück·blickend den Begriff Ryōbu Shintō [Ryōbu Shintō  (jap.) 両部神道 Shintō-Interpretation des Mittelalters; wtl. „Shintō der beiden Teile“], „Shintō der beiden Teile“, erfunden. Ryōbu Shintō be·zeich·net eine lose Gruppe von theo·logischen Spekulationen, die aus heutiger Sicht vor allem deshalb von Bedeutung sind, weil aus dieser Richtung der erste Anstoß zu einer eigenständigen Theologie des Shintō entstand.

Die Fragen, die manche bud·dhis·tische Mönche dazu trieben, sich aus theo·logischer Sicht mit den ein·hei·mischen Gott·heiten auseinander zu setzen, resultierten im all·gemeinen aus einzelnen Schrein·traditionen, die sich der Ein·ver·nahme durch den Bud·dhis·mus hart·näckig wider·setzten. Dazu zählten die bereits erwähnten seltsamen Tabus, die ganz besonders im Amaterasu Schrein von Ise [Ise Jingū (jap.) 伊勢神宮 kaiserlicher Ahnenschrein (wtl. Götterpalast) von Ise, Präfektur Mie, bestehend aus den Anlagen Gekū und Naikū] gegen den Bud·dhis·mus er·richtet worden waren. Und noch eine Vor·stellung findet sich allent·halben: Nicht alle kami sind bud·dhis·tische Er·schei·nungen. Manche — oft als „wirkliche kami“ (jitsu no kami [jitsu no kami (jap.) 実神 „wahre kami“ = kami ohne buddhistische Urform (honji)]) bezeichnet — haben keine bud·dhis·tische Urform. Sie gehören ins Reich der tengu [tengu (jap.) 天狗 wtl. Himmelshund; vogelartiger oder geflügelter Kobold, meist in den Bergen] und der mit Zauber·kraft aus·ge·statteten Füchse und tanuki [tanuki (jap.) Tanuki; Marderhund] (siehe Kapitel Mythen, Geister bzw. Füchse) und sind tendenziell böse und ge·fähr·lich. Gerade diese „wirklichen kami“ zogen nun die Auf·merk·sam·keit der Ryōbu Shintō Denker auf sich und resultierten in er·staun·lichen Theorien, die gerade diese unter·sten und un·heiligsten aller Götter zu Mani·fes·tati·onen von Amaterasu und Dainichi erklärten.

Andere bud·dhis·tische Richtungen, zumeist radikale Amidisten, lehnten die kami generell ab. Sie zweifelten zwar nicht an der Existenz der kami, doch sie waren der Meinung, dass die kami — im Gegensatz zu den Buddhas bzw. zu Buddha Amida [Amida (jap.) 阿弥陀 Buddha Amitabha; Hauptbuddha der Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū bzw. Jōdo Shinshū)] — ledig·lich eine selbst·süchtige, dies·seits·ver·haftete, irre·ge·leitete Religiosität fordern und fördern.

Zwischen diesen beiden Extremen gab es einen „religiösen Main·stream“, der grund·sätzlich dem Bud·dhis·mus anhing und zugleich den kami wohl·wollend gegen·über stand. Auch inner·halb dieses Mainstreams blieb aber ein ge·wisses Be·wusst·sein vom Unter·schied zwischen ein·hei·mischen und der bud·dhis·tischen Gestalten be·stehen, wobei die ein·heimischen letztlich geringer eingestuft wurden.

Götterwind und Götterland

Vorlage:Sidebox3 Der Grund, warum man die kami trotz Vorherrschen des Bud·dhis·mus nie ganz aus dem Bewusst·sein verlor, mag in ihrer Ver·bunden·heit mit lokalen Ge·geben·heiten gelegen haben. In den kami suchten und fanden Japaner immer wieder die Be·stäti·gung einer lokalen — um nicht zu sagen „nationalen“ — Identität, die be·sonders in der emotionalen Posi·tio·nierung gegen·über China eine Rolle spielte. Dies wird unter anderem am Beispiel der er·folg·reichen Abwehr der Mongolen·angriffe, Ende des drei·zehnten Jahr·hunderts deutlich. Be·kannter·maßen scheiterten die beiden Invasions·versuche der Mongolen unter Kubilai Khan [Kubilai Khan (chin.) 元世祖忽必烈 1215–1294; Großkhan der Mongolen; Kaiser von China; Begründer der Yuan-Dynastie] 1274 und 1281 jeweils an Taifunen, durch die die an·grei·fenden Flotten zer·stört wurden. Diese Winde wurden in Japan nach·träglich den kami zu·ge·schrieben und als kamikaze [kamikaze (jap.) 神風 Götterwind; urspr. ein poetischer Beinamen der Provinz Ise, wird der Begriff seit den Mongolenangriffen des 13. Jh.s mit göttlichem Schutz im Krieg assoziiert und daher auch mit den Selbstmord-Piloten des 2. Weltkriegs in Verbindung gebracht], göttliche Winde, bezeichnet, ein Ausdruck, der im Zweiten Welt·krieg dann auch auf die Selbst·mord·piloten der Luft·waffe Anwendung fand.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass im An·schluss an die Mongolen·angriffe der Begriff shinkoku [shinkoku (jap.) 神国 wtl. „Götterland“] — „Götterland“, bzw. „Land der kami“ — immer häufiger auf·taucht, und zwar zu·meist dann, wenn auf die Aus·er·wählt·heit Japans hin·ge·wiesen werden soll. Solche Gedanken spielen vor allem für die „Tradi·tionalisten“ des ja·pa·nischen Mittel·alters eine große Rolle, wenn es darum geht, die Macht des Tennō-Hofes wieder her·zu·stellen. Zu diesen zählte auch der Krieger Kitabatake Chikafusa [Kitabatake Chikafusa (jap.) 北畠親房 1293–1354; Krieger und Gelehrter] (1293–1354). Er zog nicht nur an der Seite des Kaisers Go-Daigo [Go-Daigo (jap.) 後醍醐 1288–1339 (r. 1318–1339); Tennō der späten Kamakura-Zeit, der versuchte, die pol. Autorität des Kaiserhofes wieder herzustellen.] in den Krieg gegen das Kamakura-Shōgunat, um den Tennō wieder ins Zentrum der Macht zurück·zu·führen, er schrieb auch gelehrte Werke, die den kaiser·lichen Macht·an·spruch historisch be·gründeten. Der erste Satz seines Haupt·werkes Jinnō shōtō-ki [Jinnō shōtō-ki (jap.) 神皇正統記 „Über die Wahre Abfolge der Göttlichen Herrscher“, Traktat von Kitabatake Chikafusa, 1339] („Über die Wahre Abfolge der Göttlichen Herrscher“, ent·standen um 1340) lautet folge·richtig: „Dieses Land ist ein Götterland.“ Wie im späteren Staatsshintō, der den Begriff „Götterland“ eben·falls gerne ver·wendete, wurden also bereits im Mittel·alter kami-Kult und Tennō-Kult mit einander in Beziehung gesetzt.

Watarai Shintō

Chikafusa stand mit einer religiösen Bewegung in Ver·bindung, die von Ise [Ise (jap.) 伊勢 vormoderne Provinz Ise (heute Präfektur Mie); Stadt Ise; Kurzbezeichnung für die Schreinanlage von Ise Ise Jingū], genau ge·nommen vom Äußeren Ise Schrein (Gekū [Gekū (jap.) 外宮 Äußerer Schrein von Ise, der Göttin Toyouke geweiht]), aus·ging und mit dem oben erwähnten Ryōbu Shintō in enger Ver·bin·dung stand. Der Äußere Schrein von Ise hatte stets damit zu kämpfen, dass Ise zwar ins·gesamt als heiliger Ort erachtet wurde, dass aber im Grunde nur Amaterasu [Amaterasu (jap.) 天照 Sonnengottheit; Ahnherrin des Tennō-Geschlechts; Hauptgottheit von Ise], die Haupt·gott·heit des Inneren Schreins, als Ahnen·gott·heit des Tenno auf·ge·fasst wurde. Die Gott·heit des Äußeren Schreins, Toyouke [Toyouke (jap.) 豊受 Nahrungsgottheit des Äußeren Schreins von Ise], wurde dagegen als Dienerin Amaterasus an·ge·sehen. Der Äußere Schrein war der Priester-Familie Watarai [Watarai (jap.) 度会 Priester des Äußeren Schreins von Ise] anheim ge·stellt. Die Watarai ent·warfen nun in einer Genera·tionen über·span·nenden Unter·nehmung eine Theologie, die erstens Toyouke als die Ver·körpe·rung des Urgottes Kuni no Tokotachi [Kuni no Tokotachi (jap.) 国常立 mythologische Urgottheit des Shintō] ansah, und zweitens beide Schreine, Inneren und Äußeren, als Ent·spre·chung der beiden

maṇḍala मण्डल (skt., n.)

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des Buddhas Dainichi Nyorai [Dainichi Nyorai  (jap.) 大日如来 Buddha Vairocana, der „kosmische Buddha“; wtl. „Großes Licht“ oder „Große Sonne“]. Im Unter·schied zur klassischen honji suijaku [honji suijaku  (jap.) 本地垂迹 wtl. Grundform und herabgelassene Spur; Theorie der Identität von kami und Buddhas]-Theorie und analog zum Ryōbu Shintō waren die Ise-Gottheiten und Dainichi voll·kommen gleich·wertig, ein·ander wechsel·seitig spiegelnd. Ise wurde zum heiligen Boden Dainichis und der Ursprung Dainichis damit nach Japan ver·legt. Dadurch wurde neben·bei auch der Begriff „Götterland“ bud·dhis·tisch begründet und ab·ge·sichert. Das machte den Ise- oder Watarai Shintō [Watarai Shintō  (jap.) 度会神道 Shintō-Lehre des Äußeren Schreins von Ise], wie diese Richtung heute genannt wird, wahr·schein·lich auch besonders attraktiv in den Augen Chikafusas.

Wie die Ein·beziehung von Dainichi Nyorai [Dainichi Nyorai (jap.) 大日如来 Buddha Vairocana, der „kosmische Buddha“; wtl. „Großes Licht“ oder „Große Sonne“] bereits andeutet, wurde der Watarai Shintō nicht von den Watarai Priestern allein, sondern auch von bud·dhis·tischen Mönchen, v.a. aus der esoterischen Shingon [Shingon-shū (jap.) 真言宗 Shingon-Schule, wtl. Schule des Wahren Wortes; wichtigste Vertreterin des esoterischen Buddhismus (mikkyō) in Japan]-Schule ent·wickelt. Damit nahmen Elemente des esoterisch-bud·dhis·tischen Ritus Einzug in diese Form des Shintō. Im Watarai Shintō gibt es demnach Gebets·formeln (

mantra मन्त्र (skt., n.)

Gebetsformel (jap. shingon 真言)

Ritus, Text

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), Hand·zeichen (

mudrā मुद्रा (skt., f.)

„Siegel“, Gebetsgeste (jap. inzō 印相)

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), die Anbetung von Sanskrit·zeichen, die Anrufung von Buddhas und anderes mehr. Daneben spielt auch der Yin Yang [Yin Yang (chin.) 陰陽 Dualistisches Prinzip der chin. Naturphilosophie] Glaube eine wichtige Rolle. Das deshalb, weil zu dieser Zeit auch die Shingon-Schule starke An·leihen beim Yin Yang Glauben und der chinesischen Kos·mo·logie machte. Im Mittel·punkt des Watarai Shintō standen aller·dings traditionelle Riten des höfischen Shintō, die sozusagen bud·dhis·tisch aufbereitet wurden.

Wie die Shingon-Schule, hielten die Watarai ihre Gebets- und Ritualtexte geheim und gaben sie nur Initiierten weiter. Dennoch ver·breitete sich der Watarai Shintō recht rasch und wirkte mit, Ise zu einem führenden Zentrum des mittel·alter·lichen Pilger·wesens werden zu lassen. Trotz dieser neuen Bedeutung der Ise Schreine ist es frag·lich, in·wie·weit sich die Vertreter des Watarai Shintō selbst als „Shintōisten“ sahen. Sofern sie Priester in Ise waren, ver·fügten sie natür·lich über eine historisch ge·wachsene Identität als kami-Priester. Aber ein klares Bewusst·sein, einer vom Bud·dhis·mus ver·schiedenen Religion zu dienen, lässt sich nicht er·kennen. Eher kann man im Watarai Shintō einen be·sonderen Versuch sehen, den Kult von Ise mit dem vor·herr·schenden bud·dhis·tischen Welt·bild in Ein·klang zu bringen und dabei dennoch die Be·sonder·heit Ises zu wahren.

Yoshida Shintō

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Yoshida Kanetomo

Die Ideen und Techniken der Watarai [Watarai (jap.) 度会 Priester des Äußeren Schreins von Ise] diffundierten in viele Schreine und Tempel des Mittel·alters und wurden im übrigen auch von den Priestern des Inneren Schreins von Ise über·nommen. Es dauerte aller·dings ver·hältnis·mäßig lange, bis auch die Familien des Tennō-Hofs — vor allem die Beamten des kaiser·lichen Götter·amtes (Jingi-kan [Jingi-kan (jap.) 神祇官 Götteramt, wtl. Amt für Götter des Himmels und der Erde]) — davon Gebrauch machten. Erst als die letzten Reste des Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-zeit·lichen Hof·staats im Zuge des Ōnin [Ōnin no Ran (jap.) 応仁の乱 Aufruhr der Ōnin-Zeit; Bürgerkrieg 1467–1477, der insbesondere in Kyōto große Zerstörungen verursachte]-Krieges (1467–1477) zerstört wurden und die Institution des Tennō den Tief·punkt ihrer politischen Be·deu·tungs·losig·keit erreichte, machte sich ein Ab·kömmling einer höfischen Priester·familie daran, eine Lehre im Stil der Watarai zu formulieren.

Dieser Priester namens Yoshida Kanetomo [Yoshida Kanetomo (jap.) 吉田兼倶 1435–1511; Shintō-Priester und Theologe; Begründer des Yoshida Shintō (auch Yuiitsu Shintō), Autor des Yuiitsu shintō myōbō yōshū] (1435–1511) stammte aus der Familie der Urabe [Urabe (jap.) 卜部 Priester und Orakelleser des Tennō-Hofs], die seit der Heian-Zeit als Orakel·leser und Weis·sager bei Hof tätig waren. Er schuf ein Lehr- und Reitualsystem, das heute als Yoshida Shintō [Yoshida Shintō (jap.) 吉田神道 mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo] bekannt ist, von Kanetomo selbst aber als Yuiitsu Shintō [Yuiitsu Shintō (jap.) 唯一神道 mittelalt. Shintō-Richtung (= Yoshida Shintō)], der „Eine und Einzige Shintō“ bezeichnet wurde. Der Yoshida Shintō bezieht Teile der höfischen Urabe-Tradition mit ein, geht aber weit über deren tra·di·ti·o·nelle Inhalte hinaus. Mit Hilfe dieses neu geschaffenen Shinto gelang es Kanetomo, das höfische Götter·amt neu zu errichten und unter die Füh·rung der Urabe Priester zu stellen. Dazu mussten zwar viele Details der ehe·mals sakro·sankten Ordnung des Hofes auf den Kopf ge·stellt werden, aber das fiel zu Kanetomos Zeit wohl nicht mehr allzu sehr ins Gewicht. Teile der Hof·aristo·kratie mögen in Yoshida Kanetomo und in der neuen esoterisch-religiösen Be·deu·tung, die er dem Tennō und seinen In·sti·tu·ti·onen zu·schrieb, hin·gegen einen neuen Hoffnungs·träger erblickt haben.

Die Lehre des Yoshida Shintō

Die ideen·geschicht·liche Bedeutung des Yoshida Shintō liegt aber nicht in der Re·vita·lisierung des Götter·amtes. Vielmehr brachte Yoshida Kanetomo die Techniken und Theorien des Watarai Shintō erstmals in ein ge·schlos·senes System. Mit dem „Einen und Einzigen Shintō“ entstand somit erstmals ein Entwurf, der sich selbstbewusst als Richtung des Shintō identifizierte und vom Bud·dhis·mus distanzierte. Kanetomo war zugleich einer der ersten, die das Verhältnis von kami und Buddhas bzw. Shintō und Bud·dhis·mus explizit thema·tisierten. Um dem Shintō zum Vor·rang gegen·über dem Bud·dhis·mus zu ver·helfen, drehte er die gängige honji suijaku These schlicht·weg um und erklärte die kami zur Urform (honji [honji (jap.) 本地 (buddhistische) Urform (eines kami); s.a. suijaku]) und die Buddhas zur „Spur“ (suijaku [suijaku (jap.) 垂迹 wtl. kami-Spur (eines Buddha); buddh. Bezeichnung für → kami]). Nach Ansicht des Yoshida Shintō würden sich die kami nur in Japan, dem Götter·land, in ihrer wahren Gestalt zu er·kennen geben, während sie sich in Indien und China in der behelfs·mäßigen Er·scheinungs·form von Buddhas manifestierten.

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Hauptheiligtum des Yoshida Shinto
Das Hauptheiligtum des Yoshida Shintō, der Taigen-kyū im Yoshida Schrein von Kyōto. Die Bildinschrift lautet:
Hauptort des japanischen Wegs der Götter (jingi-dō)
Yoshida, Kaguraoka
Sonnenhoher Sonnenweiheplatz und Schrein des Ursprungs
Illustration einer großen Feier
Der eigentliche Yoshida Schrein ist nur in der rechten unteren Ecke angedeutet. Daneben sieht man ein Arrangement für ein Ritual im Freien, bei dem Banner in den Farben der Fünf Himmelsrichtungen hervorstechen. Über die Brücke in der Bildmitte gelangt man zur Anlage des Taigen-kyū, die auch heute noch existiert. In der Mitte befindet sich das achteckige, schilfgedeckte Hauptgebäude. Die Nebenschreine unmittelbar hinter der Haupthalle repräsentieren Gekū und Naikū, die beiden Hauptschreine von Ise. Die Wege dorthin sind wegen des rituellen Anlasses mit Matten ausgelegt. Die weiteren Nebenschreine symbolisieren die Gesamtheit aller Schreine des Landes.
Edo-Zeit. Bildquelle: Bernhard Scheid.

Trotz seiner behaupteten Urtümlichkeit wirken viele Elemente des Yoshida Shintō aus heutiger Sicht derart bud·dhis·tisch, dass man sich kaum vor·stellen kann, wieso zu jener Zeit nicht sofort die Idee auf·kam, dass der Yoshida Shintō vom eso·te·rischen Bud·dhis·mus „abgekupfert“ hätte. Zum Beispiel heißt es, dass es im Shintō „geheime“ und „offene“ Lehren gäbe (in Analogie zur Zwei·teilung in eso·te·rischen und exo·te·rischen Bud·dhis·mus), wobei die geheimen exklusiv im Besitz der Yoshida wären. Es gibt die Über·ein·stim·mung von Gesten, Worten und Gedanken (die „Drei Geheimnisse“ des eso·te·rischen Bud·dhis·mus), die zur Ver·einigung mit der an·ge·rufenen Gott·heit führen. Es gibt Ritual·gegen·stände und Mudrās, die direkt dem Shingon Bud·dhis·mus ent·nommen sind. Doch aus der Sicht des all·gegen·wärtigen Syn·kre·tis·mus seiner Ent·stehungs·zeit wirkt der Yoshida Shintō durchaus puristisch: Es werden keine Buddhas an·ge·rufen. Es werden keine

sūtra सूत्र (skt., n.)

„Faden“, Lehrrede des Buddha, kanonische Schrift (jap. kyō 経 oder kyōten 経典)

Text

Der Begriff „sutra“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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rezitiert. Es werden keine bud·dhis·tischen Mönche als Ur·heber der Lehre an·ge·geben. Es werden keine bud·dhis·tischen Ziele wie Erleuchtung,

Nirvāṇa निर्वाण (skt., n.)

„Erloschen, ausgelöscht“, Ort der Erlösung von allem Leid, absolutes Jenseits (jap. Nehan 涅槃)

Pantheon, Konzept

Der Begriff „Nirvana“ wird in diesem Handbuch auf folgenden Seiten erwähnt:

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, etc. proklamiert. Und wenn bestimmte Über·ein·stim·mungen mit dem Bud·dhis·mus an·er·kannt werden, dann nur, um die Ar·gu·men·tation zu stützen, dass auch der Bud·dhis·mus letztlich auf die japanischen kami zurückgeht.

Die Verbreitung des Yoshida Shintō

Der Yoshida Shintō verbreitete sich im sech·zehnten Jahr·hundert, also in der Zeit der „Kämpfenden Länder“ verhältnis·mäßig weit·läufig in vielen Provinzen. Das liegt nicht nur an seiner über·zeu·genden Doktrin, sondern auch daran, dass die Nach·folger Yoshida Kanetomos in diversen kleineren, regionalen Schreinen, die teilweise von neu ent·standenen Dorf·gemeinschaften getragen wurden, eine Klientel ent·deckten, die weder vom Bud·dhis·mus noch von den traditionellen Groß·schreinen betreut wurde. Diesen Schreinen bot der Yoshida Shintō eine neue Form der Unter·stützung an, sei es, indem Priester in esoterische Riten des Yoshida Shintō eingeweiht wurden, sei es, dass der betreffende Schrein einfach einen Hofrang erhielt, den die Yoshida in ihrer Eigen·schaft als Priester des Götter·amts verteilten. Diese Funktion des Yoshida Shintō wurde in der Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-Zeit sogar offiziell anerkannt. Zum Ent·setzen mancher anderer tradi·tioneller Priester·familien, wurden die Yoshida in den ersten „Bestimmungen für Schrein·priester“ des Tokugawa Shōgunats (= Shosha negi kannushi hatto [Shosha negi kannushi hatto (jap.) 諸社禰宜神主法度 „Bestimmungen für Schreinpriester“ 1665], 1665) als zuständig für alle Schreine de·klariert, die nicht bereits über traditionelle Bindungen zum Kaiserhof verfügten. Das Shōgunat erkannte damit den Tennō-Hof als prinzipiell für alle Shintō An·ge·legen·heiten zuständig an, und wählte innerhalb des Tennō-Hofs die Yoshida als zuständig für die große Mehr·heit aller Shintō Schreine aus.

Was das in der Praxis bedeutete, ist heute noch weitgehend ungeklärt. Fest steht zum einen, dass es dem Yoshida Shintō gelang ein weit ver·zweigtes System von abhängigen Schreinen zu schaffen. Zum anderen be·mühten sich viele Familien und Shintō Schulen, u.a. der neu erstarkende Watarai Shintō [Watarai Shintō (jap.) 度会神道 Shintō-Lehre des Äußeren Schreins von Ise], mit zu·nehmendem Erfolg darum, die Vor·macht·stellung der Yoshida zu brechen. Große Schreine mit tradi·tionellen Bindungen zum Hof fielen im übrigen nicht in den Zu·ständig·keits·bereich der Yoshida. Dennoch war der Einfluss des Yoshida Shintō in der Edo-Zeit beträchtlich. Er wird heute nach wie vor unter·schätzt und bedarf dringend einer historischen Aufarbeitung.

Kritik am Yoshida Shintō

Ein Grund für die geringe Kenntnis über den Yoshida Shintō soll auch kurz zur Sprache kommen: Bereits Anfang der Edo-Zeit kam es unter Intellektuellen zu einer „konfuzianischen Mode“ (s. Neo-Konfuzianismus), die zunächst mit den Vor·stellungen des Yoshida Shintō noch durchaus kompatibel war. Doch entwickelte sich unter konfuzianischer Sicht ein neuer Blick auf die Geschichte Japans, der geschichtliche Fälschungen strenger unter die Lupe nahm. Zugleich nahm die Kritik am Buddhismus zu. Insbesondere die Wahr·heits·ver·mitt·lung des esoterischen Buddhismus und seine „geheimen“, nur Eingeweihten zugänglichen Initiationsriten wurden in Frage gestellt. Damit geriet auch der Yoshida Shintō ins Kreuzfeuer der Kritik. Weder seine angebliche Ursprünglichkeit, noch seine Unabhängigkeit vom Buddhismus wurden von konfuzianisch geschulten Gelehrten akzeptiert. Die Idee eines „reinen Shinto“ wurde hingegen aus dem Yoshida Shintō über·nommen und radi·kalisiert. Mitte der Edo-Zeit entstand daraus die sogenannte „Nationale Schule“ (kokugaku [kokugaku (jap.) 国学 „Lehre des Landes“, Nationale Schule, Nativismus; in der Edo-Zeit entstandene Gelehrtentradition, die ihren Fokus auf das nationale Erbe Japans richtete]), die sowohl den Bud·dhis·mus als auch den Konfuzia·nismus ablehnte. Unter Gelehrten wie Motoori Norinaga [Motoori Norinaga (jap.) 本居宣長 1730–1801; Shintō-Gelehrter der „nationalen Schule“ (kokugaku)] und Hirata Atsutane [Hirata Atsutane (jap.) 平田篤胤 1776–1843; kokugaku-Gelehrter] wurde die kokugaku zu einer führenden intellektuellen Strömung, die den Boden für die Buddhismus-kritischen Maßnahmen der Meiji [Meiji (jap.) 明治 posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt]-Restauration bereitete. Zu diesen Maßnahmen zählte u.a. die sogenannte „Trennung von kami und Buddhas“ (shinbutsu bunri [shinbutsu bunri (jap.) 神仏分離 Trennung von kami und Buddhas; religionspolitische Maßnahme zur Entflechtung von buddh. Tempeln und Shintō-Schreinen; vereinzelt in der Edo-Zeit, vor allem aber für die frühe Meiji-Zeit (1868–1873) charakteristisch]) gleich nach der Restauration im Jahre 1868. Sie führte u.a. zur endgültigen Auf·lösung des Yoshida Shintō, der nunmehr als synkretistisch verschrien war.

Diese politisch-religiöse Entwicklung fand auch in der japanischen und schließlich in der westlichen Religions·forschung ihren Nieder·schlag. Unter der Ideologie des Staats·shintō, also während der Meiji, und vor allem der frühen Shōwa [Shōwa (jap.) 昭和 Regierungszeit des Tennō Hirohito (1926–1989)]-Zeit, wurde die Trennung von Bud·dhis·mus und Shintō auch rückwirkend vollzogen, alle „synkretistischen“ Richtungen (inklusive des Yoshida Shintō) wurden als historische Ver·irrungen gering geschätzt und in ihrer Bedeutung herunter gespielt. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahr·hunderts setzte eine Revision dieses Geschichts·bildes ein, die allerdings noch keineswegs abgeschlossen ist.

Religion in JapanGeschichte
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„Shintō im Mittelalter.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001