Nichirens Lotos-Fundamentalismus


The British Museum
Der Nichiren Buddhismus ist nach seinem Begründer Nichiren (1222–1282) benannt, taucht in älteren Quellen aber auch unter dem Namen Lotos-Schule (Hokke-shū) auf. Nichirens Lehre ist strukturell mit den Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū) vergleichbar. Allerdings steht nicht Amida im Zentrum des Glaubens, sondern Shaka Nyorai, der historische Buddha bzw. das Lotos-Sutra. Dies entspricht der orthodoxen Position der Tendai-Lehre, als deren konsequenten Vertreter Nichiren sich selbst ansah. Tatsächlich vereinfachte er jedoch die religiöse Praxis des Tendai Buddhismus nach dem Muster der Amidisten: So wie diese glauben, durch die Anrufung Amidas (nenbutsu) bereits von diesem errettet zu werden, vertritt Nichiren die Auffassung, das bloße Rezitieren des Titels des Lotos-Sutra (in der Formel namu myōhō renge kyō) genüge, um alle Vorzüge dieses Sutra auf sich herab zu rufen. Als Vorstufe des Nirvana gibt es auch im Nichiren-Glauben ein Reines Land (Ryōzen Jōdo). Und wie der Amidismus rechtfertigt auch Nichiren seine Vereinfachung der Tendai-Lehre mit dem mappō-Gedanken, also der Idee, dass sich die Welt bereits in der Verfallszeit des buddhistischen Dharmas befände, in der die Botschaft des Buddha in reiner, ungefilterter Form nicht mehr verstanden werde.
Nichiren als Märtyrer
Vielleicht wegen dieser grundsätzlich ähnlichen Ausgangsposition sah Nichiren in den Amidisten nicht nur seine persönlichen Gegner, er machte sie auch für alle Katastrophen der Zeit verantwortlich. Wie sein Motto „brechen und unterwerfen“ (shakubuku) ausdrückt, nahm er eine radikale Position gegen Andersgläubige ein und war aufgrund dieser fundamentalistischen, kompromisslosen Haltung selbst harten Repressionen ausgesetzt.


Museum of Fine Arts, Boston
Seine düsteren Prophezeihungen im Zusammenhang mit der Endzeit des Dharma sah Nichiren durch die Angriffe der Mongolen auf Japan (1274 und 1281) bestätigt und versuchte die Autoritäten des Kamakura-Shōgunats davon zu überzeugen, dass nur seine Gebete die endgültige Niederlage Japans verhindern könnten. Diese Einmischung in politische Angelegenheiten wurde ihm als Anmaßung ausgelegt. Während einzelne Lokalfürsten Nichiren förderten, stellte er für die Hōjō, die Regenten des Shōgun, einen gefährlichen Unruhestifter dar. Es wurde sogar ein Todesurteil gegen ihn verhängt, das erst in letzter Minute in Verbannung umgewandelt wurde. Wie andere politische Oppositionelle vor und nach ihm verbrachte er einige Jahre auf der Insel Sado (1271–1274). Diese Erfahrungen führten zur gängigen (Selbst-)Darstellung Nichirens als Märtyrer, doch bot das Exil Nichiren auch eine Möglichkeit, seine Gedanken zu sammeln und wichtige Schriften zu verfassen.

Ähnlich wie Hōnen und Shinran wirkte also auch Nichiren durch seine Lehre polarisierend. Wie die Amidisten stellte er sich gegen den religiösen Mainstream seiner Zeit, der aus einer eklektischen Mischung verschiedener buddhistischer und nicht-buddhistischer Lehren bestand.
Spätere Entwicklungen
Schon kurz nach Nichirens Tod spaltete sich seine Anhängerschaft in verschiedene Untergruppen auf. Den stärksten Zulauf fand die Schule schließlich in Kyōto, wo sich um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts etwa die Hälfte der Einwohner (vor allem die Händler und Handwerker) zu ihr bekannte. Das verschaffte ihr eine ähnliche politische Macht wie der amidistischen Ikkō-shū. Im sechzehnten Jahrhundert wurden die Anhänger Nichirens allerdings zunächst durch die Kriegermönche der Tendai-Klöster, dann durch Oda Nobunaga militärisch niedergerungen.
Obwohl politisch-militärisch entmachtet, blieb der Anspruch, sich keinen „unreinen Ungläubigen“ unterordnen zu wollen, weitgehend aufrecht. Damit waren nicht nur religiöse Gegner, sondern auch weltliche Herrscher und potentielle Gönner gemeint. Man wollte von ihnen weder Gaben empfangen, noch irgendwelche religiösen Dienstleistungen für sie verrichten, sofern sie neben dem Lotos-Sutra noch andere Lehren als maßgeblich erachteten (sprich, mit anderen buddhistischen Schulen in Beziehung standen). Dieser Grundsatz wurde als fujufuse, „nichts nehmen, nichts geben“ bezeichnet. Er führte dazu, dass sich noch Anfang der Edo-Zeit viele Nichiren-Kleriker beharrlich weigerten, an staatlich organisierten Zeremonien mit Mönchen anderer Schulrichtungen teilzunehmen. Dies wurde wiederum von den Tokugawa als nicht hinzunehmende Insubordination aufgefasst und zunehmend mit Exil oder gar Hinrichtung bestraft. Der Nichiren-Buddhismus spaltete sich daraufhin in eine Fraktion von kompromissbereiten Mönchen, und eine anfänglich größere Fraktion, die am fujufuse-Prinzip auch um den Preis des eigenen Lebens festhalten wollte. Diese sogenannte Fujufuse-ha wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts immer stärker kriminalisiert und schließlich systematisch verfolgt. Ähnlich wie die Christen, gingen einige fujufuse-Gruppen in den Untergrund, während die Mehrheit der Nichirenisten sich zumindest äußerlich den ihnen aufgezwungenen Kompromissen beugte.
Damit war auch der Nichiren Buddhismus schließlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In der neuen Metropole Edo stellte er nach der Jōdo-shū die zweitstärkste Gruppe dar. Wie die Illustrationen auf dieser Seite zeigen, war Nichiren auch für die Meister des ukiyo-e Farbholzschnitts eine wichtige religiöse Figur.
Die Tendenz zur politischen Polarisierung blieb allerdings weiter Teil von Nichirens geistigem Erbe. Im zwanzigsten Jahrhundert ging aus dem Nichiren Buddhismus unter anderem die Nichiren Shōshū hervor, deren Laienorganisation, die Sōka Gakkai, sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur erfolgreichsten Neureligion Japans emporarbeitete. Die Kōmeitō, Japans erfolgreichste religiöse politische Partei, ist wiederum aus Sōka Gakkai hervorgegangen (s.a. Sidepage Sōka Gakkai). Alle drei Gruppierungen zählen zum konservativen Spektrum der japanischen Gesellschaft.


Nichiren's Coffeehouse
Die politische Dimension des Nichiren Buddhismus


Shōnan Boy
Nichirens Lehre folgte nicht nur ähnlichen Prinzipien wie der Buddhismus vom Reinen Land, sie resultierte auch aus einer ähnlichen Hinwendung zu breiteren Bevölkerungsschichten und beinhaltete zur Zeit ihrer Entstehung eine ähnliche sozial-revolutionäre Sprengkraft. Während Hōnen und Shinran diese Sprengkraft jedoch in Schranken zu halten versuchten und sich selbst nicht zu den politischen Verhältnissen äußerten, beschritt Nichiren hier einen ganz anderen Weg, indem er aktiv in den politischen Diskurs eingriff und seine Heilslehre als Lösung aller gesellschaftlichen Probleme propagierte. In diesem Sinne bezeichne ich Nichiren als „Fundamentalisten“.
Radikaler als irgendein anderer Denker seiner Zeit forderte Nichiren, dass sich die weltlichen Mächte ganz der Autorität Buddhas unterwerfen müssten, weil nur der Buddhismus (bzw. das Lotos-Sutra) die Normen für ein „friedliches Land“ in sich bergen würde. Derartige Überlegungen hielt er unter anderem in seiner heute bekanntesten Schrift, dem Risshō ankoku ron („Thesen zur Befriedung des Landes“) fest. Laut Satō Hiroo bedeutete „friedliches Land“ bei Nichiren nicht mehr nur die ungehinderte Ausübung der Herrschaft durch den Tennō oder die politische Elite (wie dies im sogenannten „alten Buddhismus“ der Fall gewesen war), sondern enthielt die Utopie einer gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeit als Basis für das Gedeihen des Buddhismus.1 Herrscher, die sich der Verwirklichung einer buddhistischen Weltordnung nicht unterordneten, würden, so Nichiren, in der Hölle landen.
Nichirens Theologie war daher nicht allein auf das Jenseits gerichtet, sondern enthielt eine Vision der gesellschaftlichen Veränderung. Zugleich findet man aber auch den Glauben an die Auserwähltheit und Überlegenheit Japans im Nichiren Buddhismus stark vertreten. Vor allem in der jüngeren und jüngsten Geschichte tendierten Nichiren Anhänger daher auch oft zu nationalistischen Positionen. Diese Tendenz, die auch als Nichirenismus (nichiren shugi) bezeichnet wird, manifestierte sich in ihrer ausgeprägtesten Form in den Lehren von Tanaka Chigaku (1861–1939), der im Tennō die Verkörperung der Wahrheit des Lotos-Sutras sah.2 Tanakas Lehre passte damit perfekt in das System des Staatsshintō. Andere Anhänger Nichirens, etwa die Gründer der Sōka Gakkai wurden zwar unter dem Staatsshintō politisch verfolgt, tendierten aber nach dem Krieg ebenfalls zu nationalistischen oder zumindest zu konservativ-autoritären Positionen.
Neben allen politisierten Bewegungen gibt es natürlich auch moderate Fraktionen wie die Nichiren-shū, die sich weder in ihren Zielen noch in ihrem äußeren Erscheinungsbild stark vom japanischen Mainstream Buddhismus unterscheiden. Dennoch treten Gruppierungen mit dezidiert politischen Zielsetzungen innerhalb der Nichiren Schule häufiger auf als anderswo im japanischen Buddhismus. Dies liegt zweifellos an den prononcierten politischen Statements in Nichirens Schriften, die auch in seiner Märtyrerbiographie noch deutlich zutage treten. Zumeist wird der politische Nichirenismus heute eher mit konservativen und nationalistischen Positionen assoziiert. Man findet Anhänger Nichirens aber auch unter linken politischen Gruppierungen, sodass auch die sozialreformerischen Ideen Nichirens im kulturellen Gedächtnis Japans weiterleben.
Verweise
Fußnoten
Internetquellen
- A Life Story of Nichiren Daishonin (en.)
Nichirens Biografie in modernen Bildern.
Literatur
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:
- ^
Diese Episode aus dem Leben Nichirens erzählt von einer großen Dürre, die Kamakura im Jahr 1271 (damals Hauptstadt) heimgesucht hatte. Die Regierung befahl den wichtigsten Tempeln, Regenbitt-Zeremonien (amagoi) durchzuführen, doch nichts half, bis endlich Nichiren auf den Plan trat. Er rezitierte (wie immer) seine schlichte „Anrufung des Lotos Sutra“ (namu myōhō renge kyō) und siehe da, der Regen kam. Werk von Utagawa Kuniyoshi (1797–1861). Edo-Zeit
The British Museum - ^
Nichiren soll am Strand von Kamakura exekutiert werden. Ungewöhnliche Wetterphänomene verhindern die Exekution in letzter Sekunde. Werk von Katsushika Isai (1821–1880).
Museum of Fine Arts, Boston
- ^ Nichiren exile kuniyoshi.jpg
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Moderne Darstellung Nichirens. Taishō-Zeit, 1923
Shōnan Boy
Glossar
Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite:
- Fujufuse-ha 不受不施派 ^ Edo-zeitl. Fraktion des Nichiren Buddhismus, die Andersgläubigen „nichts nehmen und nichts geben“ (fujufuse) wollte. Ähnlich wie die japanischen Christen stand auch die Fujufuse-ha auf der Liste verbotener Religionen der Edo-Zeit.
- Hoke-kyō 法華経 ^ Lotos Sutra; skt. Saddharma pundarika sutra; jap. auch Hokkekyō oder Myōhō renge kyō; zählt zu den einflussreichsten Texten des Mahayana-Buddhismus, älteste Fassungen dürften im ersten Jh. v.u.Z. entstanden sein.
- Nichiren Shōshū 日蓮正宗 ^ wtl. „wahre Schule des Nichiren“; Untergruppe des Nichiren Buddhismus, gegr. 1912
- nichiren shugi 日蓮主義 ^ Nichirenismus; nationalistische Auslegung Nichiren-buddhist. Lehren; insb. Ideologie des Tanaka Chigaku
- Nichiren-shū 日蓮宗 ^ Nichiren Schule; Sammelnamen für den Nichiren Buddhismus, aber auch Namen einer bestimmten Schule innerhalb des heutigen Nichiren Buddhismus; nicht zu verwechseln mit der 1912 gegr. Nichiren Shōshū
- Risshō ankoku ron 立正安国論 ^ „Thesen zur Errichtung der Wahrheit und des Friedens im Land“, pol. Traktat von Nichiren, verf. 1260
- Ryōzen Jōdo 霊山浄土 ^ Reines Land im Nichiren Buddhismus; Ryōzen, wtl. mystischer Berg, stellt einen Anspielung auf den Geierberg (auch: Ryōjū-sen 霊鷲山, Berg des mystischen Geiers) dar, wo Buddha u.a. das Lotos Sutra vorgetragen haben soll (s.a. Juhō-sen)
- Sōka Gakkai 創価学会 ^ wtl. in etwa „Organisation zum Studium vermehrter Werte“; neu-religiöse buddhistische Laienorganisation, gegr. 1930
- Tanaka Chigaku 田中智学 ^ 1861–1939; ausgeb. buddh. Mönch und Schriftsteller; Begründer des Nichirenismus (nichiren shugi), einer ultra-nationalistischen Auslegung des Nichiren Buddhismus
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„Nichirens Lotos-Fundamentalismus.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001