Essays/Opfer: Unterschied zwischen den Versionen

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{{titel|Blutopfer, Selbstopfer und religiöse Gewalt}}
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|Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
{{fl|W}}enn man vom a·bend·län·dischen Reli·gions·ver·ständ·nis ausgeht, verbindet sich mit dem Begriff „Opfer“ die Vorstellung des Blut·opfers oder der Ver·nich·tung von essentiellen Ressourcen (vgl. die biblische Episode von Kain und Abel: Abel opfert Fleisch, Kain Getreide, indem sie es ver·bren·nen). Auch wenn die moderne christliche Religion keine der·artigen Opfer mehr fordert, existiert die Idee des Blut·opfers weiter fort, mani·festiert sie sich doch nicht zuletzt in Christus, der sich selbst zum Opfer machte bzw. von Gott-Vater für die Opferrolle ausersehen wurde (vgl. diesbez. auch das von Abraham geforderte Opfer des eigenen Sohnes). Opfer impliziert demnach Gewalt gegen die eigenen Interessen oder Gewalt an sich selbst.  
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{{fl|W}}enn man vom abendländischen Religionsverständnis ausgeht, verbindet sich mit dem Begriff „Opfer“ die Vorstellung des Blutopfers oder der Vernichtung von essentiellen Ressourcen (vgl. die biblische Episode von Kain und Abel: Abel opfert Fleisch, Kain Getreide, indem sie es verbrennen). Auch wenn die moderne christliche Religion keine derartigen Opfer mehr fordert, existiert die Idee des Blutopfers weiter fort, manifestiert sie sich doch nicht zuletzt in Christus, der sich selbst zum Opfer machte bzw. von Gott-Vater für die Opferrolle ausersehen wurde (vgl. diesbez. auch das von Abraham geforderte Opfer des eigenen Sohnes). Opfer impliziert demnach Gewalt gegen die eigenen Interessen oder Gewalt an sich selbst.
  
 
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| Japanische Legende eines Menschenopfers für eine Schlangengottheit
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Ähnliche Opfer-Konzepte existierten auch in Indien, insbesondere im {{s|Veda}}, wo neben detaillierten Opferritualen auch Theorien zu finden sind, die jedes Opfer (auch das Opfer von Pflanzen) explizit mit dem Töten von Lebewesen gleichsetzen und diese Gewaltanwendung zu einem zentralen Teil des Opfers erklären.<ref>Heestermann 1984, S. 119.</ref> Interessanterweise schließen vedische Opfervorschriften mit ein, dass der Opfernde eine vorbereitende Phase des Vegetarismus (sowie des Gewalt- und Sexualverzichts) durchläuft, an dessen Ende Blutopfer und Fleischkonsum stehen. Blutopfer/ Fleischkonsum einerseits und Gewaltverzicht/ Vegetarismus andererseits standen also in einem zyklischen Verhältnis zu einander.<ref>Heestermann (1984) sieht darin die Reste einer ursprünglichen Kriegerkultur, aus der sich das Brahmanentum entwickelte.</ref> Erst später setzte sich der Vegetarismus als generelle ethische Norm in Indien durch und wurde in dieser Form auch vom Buddhismus übernommen.  
 
Ähnliche Opfer-Konzepte existierten auch in Indien, insbesondere im {{s|Veda}}, wo neben detaillierten Opferritualen auch Theorien zu finden sind, die jedes Opfer (auch das Opfer von Pflanzen) explizit mit dem Töten von Lebewesen gleichsetzen und diese Gewaltanwendung zu einem zentralen Teil des Opfers erklären.<ref>Heestermann 1984, S. 119.</ref> Interessanterweise schließen vedische Opfervorschriften mit ein, dass der Opfernde eine vorbereitende Phase des Vegetarismus (sowie des Gewalt- und Sexualverzichts) durchläuft, an dessen Ende Blutopfer und Fleischkonsum stehen. Blutopfer/ Fleischkonsum einerseits und Gewaltverzicht/ Vegetarismus andererseits standen also in einem zyklischen Verhältnis zu einander.<ref>Heestermann (1984) sieht darin die Reste einer ursprünglichen Kriegerkultur, aus der sich das Brahmanentum entwickelte.</ref> Erst später setzte sich der Vegetarismus als generelle ethische Norm in Indien durch und wurde in dieser Form auch vom Buddhismus übernommen.  
  
In Japan ist von blutigen religiösen Opfern auf den ersten Blick nichts zu erkennen (s. Hauptseite [[Alltag/Opfergaben|Opfergaben]]). Wendet man sich aber religiösen Legenden aus alter Zeit zu, wird allmählich klar, dass Blut und Gewalt auch in der religiösen Vorstellungswelt Japans einen festen Platz haben.  
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In Japan ist von blutigen Opfern in den imaginären Beziehungen zwischen Mensch und Gottheit auf den ersten Blick nichts zu erkennen (s. Kapitel Alltag, {{showTitel|Alltag/Opfergaben}}). Wendet man sich aber religiösen Legenden aus alter Zeit zu, wird allmählich klar, das Blut und Gewalt wohl auch in Japan einen festen Platz in der religiösen Vorstellungswelt gehabt haben müssen.
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== Prähistorische Menschenopfer ==
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|Haniwa_mukade.jpg
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|Grabfiguren (''haniwa'')
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Das chinesische Geschichtswerk {{g|Weizhi}} (Chronik der Wei, 297 u.Z.), das die ältesten einigermaßen verlässlichen historischen Berichte über Japan enthält, berichtet, dass anlässlich des Todes der Priesterkönigin {{g|Himiko}} über hundert Gefolgsleute gezwungen wurden, ihr in den Tod zu folgen.<ref>Seyock 2004: 58</ref> Auch das {{g|nihonshoki}} (720) erzählt vom Brauch der Todesgefolgschaft im frühgeschichtlichen Japan: Als der jüngere Bruder des semi-mythischen Herrschers {{g|Suinintennou}} starb, mussten seine persönlichen Vassallen ihm in den Tod folgen, indem man sie aufrecht stehend mit ihm zusammen begrub. Sie starben also einen langsamen, qualvollen Tod und ihr Wehklagen war noch Tage nach dem Begräbnis zu vernehmen. Der Herrscher beschloss daraufhin, diesem Brauch ein Ende zu machen, und befahl, anstatt lebender Personen Grabbeigaben aus Ton ({{g|haniwa}}) zu verwenden.<ref>''Nihon shoki'', Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 178–181.</ref>
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Die Historizität und zeitliche Einordnung dieses Berichts ist nicht eindeutig erwiesen. Dagegen spricht, dass sich bei einer größeren Verbreitung derartiger Bräuche entsprechende Skelette finden lassen müssten. Archäologisch ist jedoch bisher noch kein eindeutiger Nachweis von regelmäßigen rituellen Menschenopfern erbracht worden. Auch sind ''haniwa'' in Wirklichkeit älter, als sie gemäß der vorliegenden Legende sein müssten. Ein interessanter Aspekt der ''haniwa''-Entstehungslegende im ''Nihon shoki'' besteht allerdings in dem expliziten Hinweis, dass man Töpfermeister aus {{g|Izumo}} mit der Herstellung der irdenen Grabfiguren  beauftragte. Das scheint auf eine besondere Kompetenz Izumos auf dem Gebiet dieser frühgeschichtlichen Bestattungskultur hinzuweisen.
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Während die Frage nach der Existenz von prähistorischen Menschenopfern also nicht restlos geklärt ist, lassen sich Blutopfer von Rindern und Pferden aus historisch verlässlichen Abschnitten des  ''Nihon shoki'' vor allem im Zusammenhang mit [[Essays/Regenmachen|Regenriten]] nachweisen.<ref>''Nihon shoki'', Buch 24; Aston 1972, Teil 2, S. 174–175.</ref> Noch in historischer Zeit findet man Berichte, dass bei Trockenheit der abgetrennte Kopf eines Pferdes in ein Gewässer geworfen wurde. Dabei stand aber weniger die Demonstration von Verzicht im Vordergrund, als eine Art von Tabubruch: Der abgetrennte Kopf sollte die Wassergottheit in Zorn versetzen und auf diese Weise ein Unwetter herbeiführen. Auch derartige Riten kamen aber unter buddhistischem Einfluss mehr und mehr außer Gebrauch.<!--
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Naumann 1959, S. 190. Auch die bereits zitierten Gesetze für Mönche und Nonnen legen fest, dass bei buddhistischen Zeremonien keine Sklaven, Sklavinnen, Rinder, Pferde oder Waffen als Opfergaben (''fuse'' 布施) dargebracht werden dürfen (Sōniryō 7/26, Dettmer 2010, S. 27).
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== Selbstopfer im Buddhismus ==
 
== Selbstopfer im Buddhismus ==
  
Dass religiöse Zeremonien in Japan weitgehend unblutig verlaufen, ist wohl  in erster Linie dem buddhistischen Tötungsverbot zuzuschreiben. Dieses Tötungsverbot bezieht sich jedoch nicht auf das eigene Leben und in der Tat kennt der Buddhismus Beispiele von willentlich durchgeführten Selbstopfern. In den Geschichten von den Vorleben des historischen Buddhas, den {{s|jataka}}, finden sich dafür zahlreiche Beispiele. Der vielleicht prominenteste Fall einer buddhistischen Selbstopferung ist jedoch die Selbstverbrennung des Bodhisattvas Yakuō im [[Lotos Sutra]]
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Dass blutige religiöse Zeremonien in Japan schließlich an Bedeutung verloren, war wohl  in erster Linie dem buddhistischen Tötungsverbot zuzuschreiben. Dieses Tötungsverbot bezieht sich jedoch nicht auf das eigene Leben und in der Tat kennt der Buddhismus Beispiele von willentlich durchgeführten Selbstopfern. In den Geschichten von den Vorleben des historischen Buddhas, den {{s|jataka}}, finden sich dafür zahlreiche Beispiele. Beispielsweise war der Buddha einst ein Hase gewesen, der sich einem Brahmanen als Speise anbot, damit dieser gestärkt eine Askese vollziehen könne.<ref>''Jātaka'' 316, nach [http://www.palikanon.com/khuddaka/jataka/j316.htm Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten] (2021/10/01).</ref> Der vielleicht prominenteste Fall einer buddhistischen Selbstopferung ist jedoch die Selbstverbrennung des Bodhisattvas Yakuō im [[Lotos Sutra]]
({{s|Saddharmapundarikasutra}}). Dieser eminent wichtige Texte des {{skt:mahayana}}-Buddhis·mus enthält zum Thema Opfer/Spende ({{glossar:kuyou}}, skt. ''pūjā'') ein er·staun·liches Kapitel, das man sowohl als Anlei·tung zur rituellen Selbst·ver·bren·nung als auch als deren Ge·gen·teil inter·pre·tieren kann. Es handelt sich um das Kapitel 23, in dem es um das Vorleben des {{glossar:Yakuoubosatsu}}, wtl. „Bodhisattva Medizin-König“, geht. Ab·ge·sehen vom Thema „Opfer“ ist dieses Kapitel ein typisches Beispiel für die rekursive Form, in der bud·dhis·tische Sutren ihren eigenen Wert anpreisen. Der Wert einer Rezitation des Lotos Sutras ist — so die Botschaft in diesem Fall — höher als ein Selbstopfer im Dienste der buddhistischen Lehre.  
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({{s|Saddharmapundarikasutra}}). Dieser eminent wichtige Texte des {{s|mahayana}}-Buddhismus enthält zum Thema Opfer/Spende ({{g|kuyou}}, skt. ''pūjā'') ein erstaunliches Kapitel, das man sowohl als Anleitung zur rituellen Selbstverbrennung als auch als deren Gegenteil interpretieren kann. Es handelt sich um das Kapitel 23, in dem es um das Vorleben des {{g|Yakuoubosatsu}}, wtl. „Bodhisattva Medizin-König“, geht. Abgesehen vom Thema „Opfer“ ist dieses Kapitel ein typisches Beispiel für die rekursive Form, in welcher buddhistische Sutren ihren eigenen Wert anpreisen. Der Wert einer Rezitation des Lotos Sutras ist — so die Botschaft in diesem Fall — höher als ein Selbstopfer im Dienste der buddhistischen Lehre.  
  
 
=== Die Geschichte des Medizinkönigs ===
 
=== Die Geschichte des Medizinkönigs ===
 
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Die weitschweifige  Erzählung des Yakuō-Kapitels lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:<ref>Zusammengefasst nach Deeg 2009, S. 290–98</ref>
Die weitschweifige  Erzählung dieses Kapitels lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
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| Yakuō Bosatsu (1202)
 
| Yakuō Bosatsu (1202)
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{{Zitat
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Wir befinden uns in einem lange zurück liegenden Zeitalter, in dem der Buddha der Lichtreinen Tugend<ref>
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Wir befinden uns in einem lange zu·rück lie·gen·den Zeit·alter, in dem der Buddha der Licht·reinen Tugend<ref>
 
 
Nichigatsu Jōmyō Toku Nyorai 日月浄明徳如来, wtl. „Buddha, dessen Tugend rein ist wie das  Licht von  Sonne und Mond“
 
Nichigatsu Jōmyō Toku Nyorai 日月浄明徳如来, wtl. „Buddha, dessen Tugend rein ist wie das  Licht von  Sonne und Mond“
 
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auf Erden weilt. Auch dieser Buddha pre·digt bereits das Lotos Sutra und führt da·durch den Bodhi·sattva des Freu·digen An·blicks<ref>
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auf Erden weilt. Auch dieser Buddha predigt bereits das Lotos Sutra und führt dadurch den Bodhisattva des Freudigen Anblicks<ref>
 
Issaishujō Kiken Bosatsu 一切衆生憙見菩薩, „Bodhisattva, dessen Anblick alle Lebewesen erfreut“
 
Issaishujō Kiken Bosatsu 一切衆生憙見菩薩, „Bodhisattva, dessen Anblick alle Lebewesen erfreut“
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</ref>, den zukünftigen Yakuō,
in einen Zu·stand medi·ta·tiver Ver·sen·kung (''samadhi''), in dem dieser alle Formen an·nehmen kann.  
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in einen Zustand meditativer Versenkung (''samadhi''), in dem dieser alle Formen annehmen kann.  
  
Zum Dank offenbart der Bo·dhi·sattva dem Buddha aller·lei Spen·den (Blumen, Räu·cher·werk, Parfüm), doch schluss·end·lich be·schließt er,  seinen eige·nen Körper zu op·fern (''kuyō''), um der er·wie·se·nen Gnade gerecht zu wer·den. Nach auf·wän·digen Vor·berei·tun·gen gelingt dies in einem Akt der Selbst·ver·bren·nung, dessen Licht bis in alle ande·ren Welten dringt. Die Buddhas aller dieser Welten wür·di·gen dies: „Wohl·getan, wohl·getan! Oh Sohn aus gutem Hause! Dies ist echte An·stren·gung! Dies nennt man eine wahre Ge·setzes·spende an den Tatha·gata!“
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Zum Dank offenbart der Bodhisattva dem Buddha allerlei Spenden (Blumen, Räucherwerk, Parfüm), doch schlussendlich beschließt er,  seinen eigenen Körper zu opfern (''kuyō''), um der erwiesenen Gnade gerecht zu werden. Nach aufwändigen Vorbereitungen (unter anderem trinkt er Öl, um seinen Körper brennbar zu machen) gelingt dies in einem Akt der Selbstverbrennung, dessen Licht bis in alle anderen Welten dringt. Die Buddhas aller dieser Welten würdigen dies: „Wohlgetan, wohlgetan! Oh Sohn aus gutem Hause! Dies ist echte Anstrengung! Dies nennt man eine wahre Gesetzesspende an den Tathagata!“
  
Der Bo·dhi·sattva wird sogleich wieder·geboren und begibt sich ein weiteres Mal zum Budda der Licht·reinen Tugend. Dieser erklärt ihn zu seinem Nach·folger und geht sodann ins Nirvana ein.  
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Der Bodhisattva wird sogleich wiedergeboren und begibt sich ein weiteres Mal zum Budda der Lichtreinen Tugend. Dieser erklärt ihn zu seinem Nachfolger und geht sodann ins Nirvana ein.  
Der Bo·dhi·sattva kümmert sich um die Ver·bren·nung der sterb·lichen Über·reste des Buddhas und die Bei·setzung seiner Reli·quien.
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Der Bodhisattva kümmert sich um die Verbrennung der sterblichen Überreste des Buddhas und die Beisetzung seiner Reliquien.
Dann bringt er den Reli·quien ein wei·teres Selbst·opfer dar, indem er seine Arme verbrennt.  
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Dann bringt er den Reliquien ein weiteres Selbstopfer dar, indem er seine Arme verbrennt.  
Als Zeichen seiner zu·künf·tigen Buddha·schaft wachsen dem Bo·dhi·sattva allerdings wieder neue Arme nach.  
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Als Zeichen seiner zukünftigen Buddhaschaft wachsen dem Bodhisattva allerdings wieder neue Arme nach.  
  
In der heutigen Welt (zur Zeit des historischen Buddhas) zeigt sich dieser Bo·dhi·sattva als Yakuō Bosatsu (Bodhi·sattva Medizin·könig).  
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In der heutigen Welt (zur Zeit des historischen Buddhas) zeigt sich dieser Bodhisattva als Yakuō Bosatsu (Bodhisattva Medizinkönig).  
 
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=== Interpretation des Medizinkönig-Kapitels===
 
=== Interpretation des Medizinkönig-Kapitels===
  
Aus dieser Geschichte zieht das Lotos Sutra selbst folgenden Schluss: Wenn jemand ein Selbstopfer begeht, und sei es auch nur ein Finger oder eine Zehe, so bringt dies mehr kar·mi·sche Verdienste als die Spende der größten Schätze und Reich·tü·mer. All diese Verdienste sind jedoch immer noch geringer als jene von einem, „der dieses Sutra vom Lotos des Gesetzes annimmt und bewahrt, und seien es auch nur vier Verse daraus! Dieser erlangt das höchste Heil.“
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Aus dieser Geschichte zieht das Lotos Sutra selbst folgenden Schluss: Wenn jemand ein Selbstopfer begeht, und sei es auch nur ein Finger oder eine Zehe, so bringt dies mehr karmische Verdienste als die Spende der größten Schätze und Reichtümer. All diese Verdienste sind jedoch immer noch geringer als jene von einem, „der dieses Sutra vom Lotos des Gesetzes annimmt und bewahrt, und seien es auch nur vier Verse daraus! Dieser erlangt das höchste Heil.“
  
Die Bot·schaft des Kapitels läuft also darauf hinaus, dass es besser ist, das Lotos Sutra aus·wendig zu lernen, zu rezi·tie·ren und zu kopie·ren, als sich durch Selbst·opfer der Gnade Buddhas würdig erwei·sen zu wollen. Inso·fern wird der Wert eines Selbst·opfers relati·viert. Den·noch ent·hält das Kapitel auch die aus·führ·liche Bio·gra·phie eines Bo·dhi·sattvas, dessen Be·sonder·heit in mehr·fachen Selbst·op·ferun·gen be·steht, die expli·zit von „den Buddhas aller Welten“ als höchste Form des Opfers geprie·sen werden. Das Kapitel, in dem das Thema Verbren·nung auch in Form der Krema·tion eines Toten ange·spro·chen wird, kann also nicht nur als Aufruf zum Studium des Lotos Sutras ge·lesen wer·den, sondern ent·hält durchaus Er·muti·gungen zur teil·weisen oder voll·stän·digen Selbst·ver·bren·nung, wie sie gerade in der bud·dhis·tischen Welt ja auch heute noch immer wieder vor·kommt. Daher wird Kapitel 23 des Lotos Sutra auch als ''locus classicus'' der bud·dhisti·schen Praxis der Selbst·ver·bren·nung bezeichnet.  
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Die Botschaft des Kapitels läuft also darauf hinaus, dass es besser ist, das Lotos Sutra auswendig zu lernen, zu rezitieren und zu kopieren, als sich durch Selbstopfer der Gnade Buddhas würdig erweisen zu wollen. Insofern wird der Wert eines Selbstopfers relativiert. Dennoch enthält das Kapitel auch die ausführliche Biographie eines Bodhisattvas, dessen Besonderheit in mehrfachen Selbstopferungen besteht, die explizit von „den Buddhas aller Welten“ als höchste Form des Opfers gepriesen werden. Das Kapitel, in dem das Thema Verbrennung auch in Form der Kremation eines Toten angesprochen wird, kann also nicht nur als Aufruf zum Studium des Lotos Sutras gelesen werden, sondern enthält durchaus Ermutigungen zur teilweisen oder vollständigen Selbstverbrennung, wie sie gerade in der buddhistischen Welt ja auch heute noch immer wieder vorkommt. Daher wird Kapitel 23 des Lotos Sutra auch als ''locus classicus'' der buddhistischen Praxis der Selbstverbrennung bezeichnet.  
  
Schlussendlich offenbart das Sutra, dass das betreffende Kapitel von den frühe·ren Leben des Medizin·königs wie Medizin wirkt: „Wenn jemand krank ist und dieses Sutra ver·nimmt, so wird seine Krank·heit sogleich ver·schwin·den und er wird ohne Alter und ohne Tod sein.“ Offen·bar hängt die beson·dere Be·to·nung der körper·lichen Ver·stüm·me·lung mit den heilen·den Fähig·keiten zu·sam·men, die diesem Bo·dhi·sattva zuge·spro·chen werden. Dies recht·fertigt natür·lich umge·kehrt auch den Namen Me·di·zin·könig.
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Schlussendlich offenbart das Sutra, dass das betreffende Kapitel von den früheren Leben des Medizinkönigs wie Medizin wirkt: „Wenn jemand krank ist und dieses Sutra vernimmt, so wird seine Krankheit sogleich verschwinden und er wird ohne Alter und ohne Tod sein.“ Offenbar hängt die besondere Betonung der körperlichen Verstümmelung mit den heilenden Fähigkeiten zusammen, die diesem Bodhisattva zugesprochen werden. Dies rechtfertigt natürlich umgekehrt auch den Namen Medizinkönig.
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Dass das Kapitel über den Medizinkönig zum Vorbild tatsächlicher Selbstverbrennungen wurde, ist laut dem Sinologen James Benn ein chinesisches Phänomen. Die berühmte Sammlung von ''Biographien ehrwürdiger Mönche'' ({{g|Gaosengzhuan}}) erwähnt als frühesten Fall ein buddhistisches Selbstopfer aus dem Jahr 396 und begründet es damit, dass der betreffende Mönch schon “lange danach trachtete, den Spuren des Medizin-Königs zu folgen und seinen Körper zu Ehren des Buddha hinzugeben.”<ref>Benn 2012, S. 203–204.</ref> Zahllose ähnliche Schilderungen erwähnen, wie sogar Details wie das Drinken von Öl zur besseren Brennbarkeit aus der Episode vom Medizin-König übernommen wurden. Möglicherweise wurde diese Praxis aber von vor-buddhistischen Formen der Selbstopferung, etwa zum Zweck des [[Essays/Regenmachen|Regenmachens]], beeinflusst.<ref>Benn 2012, S. 207.</ref>
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=== Blut als Tinte ===
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Das Brahma-Netz Sūtra ({{g|Bonmoukyou}}) enthält eine zumindest verwandte Anleitung der Selbstopferung, indem es den Praktizierenden zu folgendem Vorgehen ermutigt:
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Söhne des Buddha, haltet und verbreitet stets aus ganzem Herzen die Gebote der Mahayana Sutren. Eure Haut macht zu Papier, euer Blut zu Tinte, euer  Mark zu Wasser und  eure Knochen zu Pinsel. So kopiert die Gebote des Buddha. <ref>Übersetzung nach SAT, [https://21dzk.l.u-tokyo.ac.jp/SAT/ddb-sat2.php?mode=detail&useid=1484_,24,1009a20&ktn=&mode2=2 T 1484.24.1009a20-22], S.a. Faure 1996, S. 207.</ref>
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Auch diese Anleitung wurde bisweilen wörtlich genommen, wie gleich zu sehen sein wird. Sie findet einen Nachklang in der im japanischen Mittelalter weithin üblichen Praxis, Verträge bzw. Eide mit der vom eigenen Blut getränkten Hand zu unterzeichnen.
  
 
== Selbstmorde und Selbstverstümmelungen in Japan ==  
 
== Selbstmorde und Selbstverstümmelungen in Japan ==  
  
In Japan ist der „Medizin-Buddha“, {{glossar:yakushinyorai}}, wesent·lich populärer als der hier er·wähn·te Bodhi·sattva Me·di·zin·könig. Das Beispiel des Me·di·zin·königs fand daher glück·licher·weise nicht allzu viele Nach·ahmer. Doch findet man schon in den gesetzlichen ''Bestim·mun·gen für Mönche und Nonnen'' aus dem japanischen Altertum
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In Japan ist der „Medizin-Buddha“, {{g|yakushinyorai}}, wesentlich populärer als der hier erwähnte Bodhisattva Medizinkönig. Von den Taten des Medizinkönigs ist daher im heutigen japanischen Buddhismus glücklicherweise nicht allzu oft die Rede. Doch findet man schon in den gesetzlichen ''Bestimmungen für Mönche und Nonnen'' aus dem japanischen Altertum
 
das Verbot: „Mönche und Nonnen dürfen sich nicht verbrennen oder Selbstmord begehen.“<!--
 
das Verbot: „Mönche und Nonnen dürfen sich nicht verbrennen oder Selbstmord begehen.“<!--
 
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''Sōni-ryō'' 7/27 (nach Dettmer 2010, S. 27); die Schlüsselbegriffe lauten ''funshin'' 焚身 (Verbrennen des Körpers) ''shashin'' 捨身 (Fortwerfen des Körpers).
 
''Sōni-ryō'' 7/27 (nach Dettmer 2010, S. 27); die Schlüsselbegriffe lauten ''funshin'' 焚身 (Verbrennen des Körpers) ''shashin'' 捨身 (Fortwerfen des Körpers).
 
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</ref>  
Dies legt im Umkehrschluss nahe, dass es schon in der Früh·zeit des japani·schen Bud·dhis·mus Mönche gab, die  aus Sicht der Behörden  Ärger stifteten, indem sie sich selbst Gewalt antaten. Dem einflussreichen {{g|Nara}}-zeitlichen Prediger {{g|Gyouki}} wurde in der Tat zur Last gelegt, dass er sich (zusammen mit anderen Häretikern) die Haut von den Unterarmen ziehe und sie verbrenne, um auf diese Weise Almosen zu erbetteln.<ref>{{g|shokunihongi}}, 717/4/23; Augustine 2005, S. 47.</ref> Diese Schilderung erinnert erstaunlich stark an Yakuō.
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Dies legt im Umkehrschluss nahe, dass es schon in der Frühzeit des japanischen Buddhismus Mönche gab, die  aus Sicht der Behörden  Ärger stifteten, indem sie sich selbst Gewalt antaten. Dem einflussreichen {{g|Nara}}-zeitlichen Prediger {{g|Gyouki}} wurde in der Tat zur Last gelegt, dass er sich (zusammen mit anderen Häretikern) die Haut von den Unterarmen ziehe und sie verbrenne, um auf diese Weise Almosen zu erbetteln.<ref>{{gb|shokunihongi}}, 717/4/23; Augustine 2005, S. 47.</ref> Diese Schilderung erinnert erstaunlich stark an Yakuō.  
  
In der mit·tel·alter·lichen {{glossar:setsuwa}}-Lite·ratur stößt man schließlich auf konkrete Berichte von Fun·damen·talis·ten, die „aus ihrem Kör·per eine Lampe machen“ wollten, wie man das ehe·mals nannte. Viele Beispiele finden sich im ''Dainihon hokke genki'', einem Werk, das schon im Titel auf die durch das Lotos Sutra in Japan hervorgerufenen Wunder hinweist. Während Selbstverbrennungen hier als bewundernswert herausgestellt werden, berichtet der Satiri·ker {{glossar:Mujuuichien}} abfällig von einem vor·ge·täuschten Selbst·verbren·nungs·ritual.
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=== Buddhistische Lehrerzählungen ===
  
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Von Mönchen, die die Askese bis zum Selbstmord trieben, berichtet auch das {{g|nihonryouiki}} aus dem neunten Jahrhundert. Eine Episode aus dieser frühen buddhistischen Legendensammlung erzählt von einem Mönch, der stets das Lotos Sutra rezitierte, bis er sich in den Bergen der Halbinsel Kii (s.u.) schließlich freiwillig von einem Felsen stürzte. Als man seine verblichenen Gebeine Jahre später fand, war die Zunge noch unversehrt und rezitierte nach wie vor das Sutra.<!--
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--><ref>
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''Nihon ryōiki'', Bd. 3, Erzählung 1. Siehe [http://www.univie.ac.at/rel_jap/ryowiki/III-01 Nihon Ryo-Wiki].
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</ref>
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Der Autor des ''Ryōiki'', der Mönch {{g|Kyoukai}}, erzählt außerdem — und dies ist eine große Seltenheit in derartigen Texten — von einem eigenen Traum, in dem er der Verbrennung seines eigenen Körpers beiwohnt.
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{{zitat | text=
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Im Frühling des Holz/Büffel-Jahres Enryaku 7[788], in einer Erd/Drache-Nacht am 17. des Dritten Monats, träumte Kyōkai:
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Als Kyōkais Körper gestorben war, sammelte man Brennholz und zündeten ihn an.
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Kyōkais irdische Seele (''konshin'' 魂神) stand neben dem brennenden Körper und sah, dass dieser nicht wunschgemäß verbrannte.
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So nahm Kyōkai selbst einen Stock, durchbohrte damit den eigenen brennenden Körper, wendete ihn, und verbrannte ihn wieder.
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Dann erklärte er den Menschen, die [das Feuer] zuvor entzündet hatten: „Verbrennt ihn so gut wie ich!“.
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Als er dann dem eigenen Körper beim Brennen zusah,
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entbrannten die Gelenke an Füßen, Knien, Händen und am Kopf und alles brach und fiel ab.
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Daraufhin stieß Kyōkais Seele (''shinshiki'' 神職) einen Schrei aus.
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Er presste seinen Mund an das Ohr eines Menschen in seiner Nähe und diktierte ihm seinen letzten Willen.
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Doch der Klang der Worte war leer und unhörbar und der Mensch antwortete nicht.
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Da dachte Kyōkai bei sich: „Die Seele (神) eines Verstorbenen hat keine Stimme.
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Daher kann man nicht hören, was ich gerufen habe.“
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Noch habe ich keine Antwort auf diesen Traum erhalten.
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Doch wenn ich es recht bedenke, könnte er ein langes Leben und einen hohen Rang bedeutet haben.
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Ich werde es wohl nur erfahren, wenn ich weiter auf eine Traumantwort warte. 
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Doch [immerhin] erhielt ich,  Kyōkai, im Winter des Holz/Eber-Jahres Enryaku 14 [795]/12/30 den Titel eines Lampenträgers vom Zweiten Rang  verliehen.<ref>
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''Nihon ryōiki'', Bd. 3, Erzählung 38. Siehe [http://www.univie.ac.at/rel_jap/ryowiki/III-38c Nihon Ryo-Wiki]. Ü.: B. Scheid, Ph. Hofwimmer</ref>
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Kyōkai deutet also an, dass der (Selbst-)Verbrennungstraum ein gutes Omen gewesen sein könnte und seine Ernennung zum {{g|dentou}}, wtl. „Lampenträger“, voraus gedeutet hätte. Er assoziiert demnach den traditionellen buddhistischen Ehrentitel „Lampenträger“, oder genauer „Lichtverbreiter“, mit dem Akt der Selbstverbrennung.
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In der späteren {{g|setsuwa}}-Literatur findet man die gleiche Metaphorik — Ausbreitung des Lichts = Selbstverbrennung — in konkreten Berichten von Fundamentalisten, die „aus ihrem Körper eine Lampe machen“ wollten, wie man das ehemals nannte. Als erste rituelle Selbstverbrennung in Japan gilt der Fall eines gewissen {{g|Oushou}}, der in den Bergen von {{g|Kumano}} am Nachi-Wasserfall lebte. Er ist im {{g|Dainihonkokuhokkegenki| ''Hokke genki''}}, einem Werk, das schon im Titel auf die durch das Lotos Sutra in Japan hervorgerufenen Wunder hinweist, ausführlich beschrieben. Hier wird das Beispiel des Medizinkönigs explizit als Vorlage der Selbstverbrennung Ōshōs angeführt. Und wie im oben erwähnten ''Ryōiki'' zeugt auch hier die Zunge des Asketen von der Beispielhaftigkeit seiner Tat, indem sie seine Verbrennung unbeschadet übersteht, um weiter Gebete zu rezitieren.<ref>Mace 2012.</ref> In der Folge, sprich ab Mitte der {{g|Heian}}-Zeit, scheint es zu einer Art Boom von Selbstverbrennungen gekommen zu sein, die auch in der Literatur als bewundernswert herausgestellt wurden.<ref>Kleine 2003.</ref> In der {{g|Kamakura}}-Zeit machen sich allerdings erste Zweifel bemerkbar, wenn etwa der Satiriker {{g|Mujuuichien}} abfällig von einem vorgetäuschten Selbstverbrennungsritual berichtet. Gegen Ende des japanischen Mittelalters scheint diese Form der Selbstopferung schließlich ganz aus der Mode gekommen zu sein.
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=== Weitere Beispiele ===
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Ähnlich spektakulär wie die Selbstverbrennung war ein ritueller Selbstmord namens {{g|Fudarakutokai}} (Überfahrt nach Fudaraku), bei dem sich der Weltflüchtige in ein Boot einzimmern ließ. Dieses wurde dann den Wellen übergeben, um schließlich in {{g|fudaraku}}, dem Reinen Land des Bodhisattvas {{g|Kannon}}, anzukommen. Da dieses Paradies im Süden jenseits des Meeres liegen soll, etablierte sich die Südspitze der Halbinsel {{g|Kiihantou|Kii}}, unweit des erwähnten Nachi-Wasserfalls, als Ausgangspunkt solcher selbstmörderischer Expeditionen.<ref>Siehe dazu Moerman 2005, Kap. 3, „Mortuary Practices“.</ref> In diesem Fall steht jedoch das Selbstopfer nicht im Vordergrund, denn das Erreichen des Paradieses noch während der eigenen Lebenszeit wurde zu mindest von den Pionieren dieser Praxis für möglich erachtet. Allerdings hoffte man im Falle des eigenen Todes auf „Hinübergeburt“ in Kannons Paradies. So oder so ging es also um das Erreichen einer Vorstufe des {{s|Nirvana}}, sei es als Lebender oder als Toter.
 
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Häufiger als Selbst·ver·bren·nung war jedoch ein ritueller Selbstmord namens {{g|Fudarakutokai}} (Überfahrt nach Fudaraku), bei dem sich der Welt·flüch·tige in ein Boot ein·zimmern ließ. Dieses wurde dann den Wellen übergeben, um schließlich im Para·dies {{g|Kannon}}s, {{glossar:fudaraku}}, anzukommen. Da dieses Paradies im Süden jenseits des Meeres liegen soll, etablierte sich die Süd·spitze der Halb·in·sel {{g|Kiihantou|Kii}} als Ausgangspunkt solcher selbstmörderischer Expeditionen.<ref>Siehe dazu Moerman 2005, Kap. 3, „Mortuary Practices“.</ref> In diesem Fall steht jedoch das Selbst·opfer nicht im Vorder·grund, denn das Errei·chen des Para·dieses noch wäh·rend der eige·nen Lebens·zeit wurde zu min·dest von den Pio·nieren dieser Praxis für mög·lich erachtet. Aller·dings hoffte man im Falle des eigenen Todes auf „Hinüber·geburt“ in Kannons Para·dies. So oder so ging es also um das Erreichen dieses Pa·ra·die·ses, sei es als Lebender oder als Toter.
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Die extremste Form der Selbstopferung, für die es Beispiele aus Japan gibt, ist die Selbstmumifizierung. Dabei nehmen Mönche Monate hindurch nur giftige pflanzliche Extrakte zu sich, sodass sie letztlich in völlig ausgezehrtem Zustand verhungern, ihre Körper aber anschließend nicht verwesen. Einige Mumien dieser Art sind aus Nord-Japan bekannt, der letze Fall ereignete sich 1903.
 
 
Die extremste Form der Selbstopferung, für die es Beispiele aus Japan gibt, ist die Selbst·mu·mifi·zierung. Dabei nehmen Mönche Monate hin·durch nur giftige pflanz·liche Extrakte zu sich, sodass sie letztlich in völlig ausge·zehr·tem Zu·stand ver·hungern, ihre Körper aber an·schließend nicht ver·wesen. Einige Mumien dieser Art sind aus Nord-Japan bekannt, der letze Fall ereignete sich 1903.
 
  
 
== Kriegerethos ==
 
== Kriegerethos ==
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| ''Seppuku'' des Erdbebenwelses
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Viel bekannter als die vereinzelten Fälle buddhistisch motivierter Selbstmorde ist die japanische Tradition des {{g|seppuku}} (''harakiri'').  Obwohl diese Praktik in einen aufwändigen Ritualismus eingebunden war, fehlt auf den ersten Blick jeder religiöse Bezug. Das Motiv dieser Selbstopferungen war stets die Ehre als Krieger. In den meisten Fällen ging es einfach darum, dem Feind nicht lebend in die Hände zu fallen oder einen aussichtslosen Kampf ehrenvoll zu beenden. Auch folgte man mitunter zum Beweis der eigenen Loyalität seinem Lehensherren in den Tod, eine Praxis, die Anfang der Edo-Zeit derart verbreitet gewesen zu sein scheint, dass sie sogar unter Strafe gestellt wurde (wobei die Strafe die überlebenden Verwandten traf). Schließlich gibt es in moderner Zeit auch das kriegerische Selbstmordattentat in Gestalt der {{Glossar:Kamikaze}}-Piloten des Zweiten Weltkriegs.  
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Viel bekannter als die vereinzelten Fälle buddhistisch motivierter Selbstmorde ist die japanische Tradition des {{g|seppuku}} (''harakiri'').  Obwohl diese Praktik in einen aufwändigen Ritualismus eingebunden war, fehlt auf den ersten Blick jeder religiöse Bezug. Die Motivation für diese Art von  Selbstopferung war die Kriegerehre. Typischerweise ging es einfach darum, dem Feind nicht lebend in die Hände zu fallen oder einen aussichtslosen Kampf ehrenvoll zu beenden. Auch folgte man mitunter zum Beweis der eigenen Loyalität seinem Lehensherren in den Tod, eine Praxis, die Anfang der Edo-Zeit derart verbreitet gewesen zu sein scheint, dass sie sogar unter Strafe gestellt wurde (wobei die Strafe die überlebenden Verwandten traf). Schließlich gibt es in moderner Zeit auch das kriegerische Selbstmordattentat in Gestalt der {{g|Kamikaze}}-Piloten des Zweiten Weltkriegs.  
  
Derartige ritualisierte Selbstmorde sind seit dem japanischen Mittelalter in Krieger·epen wie {{Glossar:Heikemonogatari}} oder {{glossar:Taiheiki}} nachweisbar. Dies ist zugleich die Blütezeit des japanischen Buddhismus. Gibt es zwischen diesen Phänomenen einen Zusammenhang? Wurden blutige Opfer durch den Buddhismus aus dem Feld der Religion verbannt und daher in ein weltliches Gewand gekleidet? Wie verhielt es sich mit mit Opfern in vor- und früh-buddhistischer Zeit?
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Derartige ritualisierte Selbstmorde sind seit dem japanischen Mittelalter in Kriegerepen wie {{g|Heikemonogatari}} oder {{g|Taiheiki}} nachweisbar. Dies ist zugleich die Blütezeit des japanischen Buddhismus. Gibt es zwischen diesen Phänomenen einen Zusammenhang? Wurden blutige Opfer durch den Buddhismus aus dem Feld der Religion verbannt und daher in ein weltliches Gewand gekleidet?
 
 
== Prähistorische Menschenopfer ==
 
 
 
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|Grabfiguren (''haniwa'')
 
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Das chinesische Ge·schichts·werk {{glossar:Weizhi}} (Chronik der Wei, 297 u.Z.), das die ältesten histori·schen Berichte über Japan enthält, berichtet, dass anlässlich des Todes der Priester·königin {{glossar:Himiko}} über hundert Ge·folgs·leute gezwun·gen wurden, ihr in den Tod zu folgen.<ref>Seyock 2004: 58</ref> Auch das {{glossar:nihonshoki}} (720) erzählt vom Brauch der Todes·gefolg·schaft im früh·ge·schicht·lichen Japan, die allerdings nicht auf freiwilliger Basis erfolgte: Als der jüngere Bruder des semi-mythischen Herrschers {{glossar:Suinintennou}} starb, mussten seine persön·lichen Vassallen ihm in den Tod folgen, indem man sie aufrecht stehend mit ihm zu·sam·men begrub. Sie starben also einen lang·samen, qual·vollen Tod und ihr Weh·klagen war noch Tage nach dem Begräbnis zu ver·nehmen. Der Herrscher beschloss daraufhin, diesem Brauch ein Ende zu machen, und befahl, anstatt lebender Personen Grab·bei·gaben aus Ton ({{glossar:haniwa}}) zu ver·wenden.<ref>''Nihon shoki'', Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 178–181.</ref>
 
 
 
Die Histori·zität und zeitliche Ein·ordnung dieses Berichts ist allerdings nicht eindeutig erwiesen. Dagegen spricht, dass sich bei einer größeren Ver·breitung derartiger Bräuche ent·sprechende Skelette finden lassen müssten. Archäo·logisch ist jedoch bisher noch kein ein·deutiger Nach·weis von regel·mäßigen rituellen Menschen·opfern erbracht worden. Auch sind ''haniwa'' in Wirk·lichkeit älter, als sie gemäß der vorlie·genden Legende sein müssten. Ein interessanter Aspekt der ''haniwa''-Entstehungslegende im ''Nihon shoki'' besteht allerdings in dem expliziten Hinweis, dass man Töpfermeister aus {{g|Izumo}} mit der Herstellung der irdenen Grabfiguren  beauftragte. Das scheint auf eine besondere Kompetenz Izumos auf dem Gebiet dieser frühgeschichtlichen Bestattungskultur hinzuweisen.
 
  
 
== Opfer für Wassergottheiten ==
 
== Opfer für Wassergottheiten ==
  
Blutopfer von Rindern und Pferden werden hingegen auch in historisch verlässlichen Abschnitten des  ''Nihon shoki'' erwähnt, vor allem im Zu·sam·men·hang mit Regenriten.<ref>''Nihon shoki'', Buch 24; Aston 1972, Teil 2, S. 174–175.</ref> Noch in historischer Zeit findet man Berichte, dass bei Tro·cken·heit der abgetrennte Kopf eines Pferdes in ein Gewässer geworfen wurde. Dabei stand aber weniger die Demonstration von Verzicht im Vor·der·grund, als eine Art von Tabu·bruch: Der abgetrennte Kopf sollte die Was·ser·gott·heit in Zorn versetzen und auf diese Weise ein Un·wetter herbeiführen. Auch derartige Riten kamen aber unter bud·dhis·tischem Einfluss mehr und mehr außer Gebrauch.<!--
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Wie oben erwähnt richteten sich die meisten historisch verbrieften Blutopfer in Japan an Wassergottheiten in Form von [[Mythen/Imaginaere Tiere|Schlangen oder Drachen]]. Die gleichen Gottheiten sind auch die primären Adressaten von Menschenopfern in Legenden, deren Historizität wiederum nicht zweifelsfrei erwiesen ist.  
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So ist z.B. der mythologische Gott {{g|susanoo}} dafür bekannt, dass er die Welt von einem Schlangenmonster befreite, das regelmäßig Jungfrauen verschlang.  
Naumann 1959, S. 190. Auch die bereits zitierten Gesetze für Mönche und Nonnen legen fest, dass bei buddhistischen Zeremonien keine Sklaven, Sklavinnen, Rinder, Pferde oder Waffen als Opfergaben (''fuse'' 布施) dargebracht werden dürfen (Sōniryō 7/26, Dettmer 2010, S. 27).
 
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Wassergottheiten, zumeist in Form von [[Mythen/Imaginaere Tiere|Schlangen oder Drachen]], sind auch die primären Adressaten von Menschenopfern. Vor allem wassernahe Bauprojekte, in denen „menschliche Pfeiler“ ({{g|hitobashira}}), also menschliche Opfer, ertränkt oder gar in Dämme mit eingeschlossen wurden, finden sich in vielen Legenden. Diese Opfer werden in den Quellen selbst manchmal als unnötig dargestellt — was impliziert, dass die Wassergottheit „böse“ ist und beseitigt werden muss —, manchmal erscheint das Opfer aber auch als notwendig. Die meisten Geschichten spielen jedoch in grauer Vorzeit und erzählen, wie diese Opferpraxis ein Ende fand. Sie enthalten daher Kritik oder Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Menschenopfern.
 
 
 
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| Susanoo rettet ein Mädchen, das als Menschenopfer auserkoren wurde
 
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Schon der mythologische Gott {{g|susanoo}} ist u.a. dafür bekannt, dass er die Welt von einem Schlangenmonster befreite, das regelmäßig Jungfrauen verschlang.
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In der semi-mythologischen Erzählung von {{g|Yamatotakeru}} stoßen wir auf eine Episode, in der sich eine Gemahlin dieses kaiserlichen Prinzen ins Meer stürzt, als ungünstige Winde die Landung seines Schiffes verunmöglichen. Das Selbstopfer der jungen Frau beruhigt die missgünstigen Wassergottheiten und stellt sich demnach in der Logik der Erzählung als sinnvoll und notwendig dar.
In der semi-mythologischen Erzählung von {{g|Yamatotakeru}} stoßen wir auf eine Episode, in der sich eine Gemahlin dieses kaiserlichen Prinzen ins Meer stürzt, als ungünstige Winde die Landung seines Schiffes verunmöglichen. Das Selbstopfer der jungen Frau beruhigt die missgünstigen Wassergottheiten.
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In der Zeit des tugendhaften {{g|nintokutennou}}, gelingt ein Dammbau erst nach einem Menschenopfer, das dem Tennō durch Traumbotschaften abverlangt wird. Die Geschichte enthält allerdings eine interessante Doppeldeutigkeit: Als Opfer sind zwei Männer ausersehen. Doch während sich einer seinem Schicksal fügt, gelingt es dem anderen, den Flussgott zu überlisten. Ähnlich wie in der zitierten ''haniwa''-Episode wird hier also ausgesagt, dass man nicht unbedingt ein Menschenopfer benötigt.<ref>''Nihon shoki'', Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 281.</ref>
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In der Zeit des tugendhaften {{g|nintokutennou}}, gelingt ein Dammbau erst nach einem Menschenopfer, das dem Tennō durch Traumbotschaften abverlangt wird. Die Geschichte enthält allerdings eine interessante Doppeldeutigkeit: Als Opfer sind zwei Männer ausersehen. Doch während sich einer seinem Schicksal fügt, gelingt es dem anderen, den Flussgott zu überlisten und mit dem Leben davon zu kommen.<ref>''Nihon shoki'', Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 281.</ref>
Laut der mittelalterlichen Chronik {{g|Genpeijousuiki}} versuchte der Gewaltherrscher {{g|Tairanokiyomori}}, den Bau einer künstlichen Insel  durch dreißig Menschenopfer (''hitobashira'') für den Drachengott des Meeres voranzutreiben. Schließlich opferte sich ein Knabe freiwillig, indem er auf einem weißen Pferd in die Fluten ritt. Zusätzlich wurden buddhistische Sutren rezitiert. Beide Opferleistungen wurden angenommen und führten zum erfolgreichen Abschluss des Bauprojekts.<!--
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Gerade diese Verbindung von Dammbau und Menschenopfer zieht sich bis weit in historische Zeiten hinein. Laut der mittelalterlichen Chronik {{g|Genpeijousuiki}} versuchte der Gewaltherrscher {{g|Tairanokiyomori}}, den Bau einer künstlichen Insel  durch dreißig „menschliche Pfeiler“ ({{g|hitobashira}}), also menschliche Opfer, für den Drachengott des Meeres voranzutreiben. Schließlich opferte sich ein Knabe freiwillig, indem er auf einem weißen Pferd in die Fluten ritt. Zusätzlich wurden buddhistische Sutren rezitiert. Beide Opferleistungen wurden angenommen und führten zum erfolgreichen Abschluss des Bauprojekts.<!--
 
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Laut anderen Versionen des ''Heike monogatari'' wurden Menschenopfer bei dieser Gelegenheit erwogen, aber schließlich durch Sutren-Rezitate ersetzt (Triplett 2004, S. 35–36; Bialock 2001, S. 282).
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Laut anderen Versionen des {{gb|Heikemonogatari}} wurden Menschenopfer bei dieser Gelegenheit erwogen, aber schließlich durch Sutren-Rezitate ersetzt (Triplett 2004, S. 35–36; Bialock 2001, S. 282).
 
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Ähnliche Geschichten von Menschenopfern im Zusammenhang mit Dammbauten tauchen auch in der Edo-Zeit noch regelmäßig auf, ohne dass von der Forschung geklärt ist, ob und wann diese Praxis tatsächlich existierte.
 
  
Zu den wenigen Fällen, in denen Menschenopfer fordernde Gottheiten keine Schlangen oder Drachen sind, gehören ein Affengott aus dem {{g|konjakumonogatari}} und der halbmenschliche Unhold {{g|shutendouji}}. Beide Figuren sind seit der späten {{g|Heian}}-Zeit bekannt, beide verspeisen holde Jungfrauen und beide werden von mutigen Männern unschädlich gemacht. Ob nun fiktional oder real, Menschenopfer scheinen sich schon vor dem Mittelalter auf sexuell anziehende Gestalten wie junge Mädchen und — viel seltener — junge Knaben reduziert zu haben.
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Zu den wenigen Fällen, in denen Menschenopfer fordernde Gottheiten keine Schlangen oder Drachen sind, gehören ein Affengott aus dem {{g|konjakumonogatari}} und der halbmenschliche Unhold {{g|shutendouji}}. Beide Figuren sind seit der späten {{g|Heian}}-Zeit bekannt, beide verspeisen holde Jungfrauen und beide werden von mutigen Männern unschädlich gemacht. Ob nun fiktional oder real, Menschenopfer scheinen sich in der Regel auf sexuell anziehende Gestalten wie junge Mädchen und — viel seltener — junge Knaben beschränkt zu haben.
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Die meisten dieser Geschichten spielen jedoch in grauer Vorzeit und erzählen, wie eine Menschenopferpraxis auf kreativen Umwegen umgangen wurde und schließlich ihr Ende fand. Sie enthalten daher Kritik an der Sinnhaftigkeit von Menschenopfern. Am häufigsten wurde dieses narrative Muster auf eine Figur namens Sayohime, „Abschiedsjungfer“, angewandt.
  
 
== Sayohime ==
 
== Sayohime ==
  
{{g|Matsurasayohime}} ist eine Gestalt, die sich unter verschiedenen Namen bereits in mehreren Quellen aus dem Altertum findet. Sie wird dort mit der Region {{g|Matsura}} im Nordwesten-Kyūshūs verknüpft. Im {{g|Manyoushuu}} tritt sie in mehreren Gedichten als sehnsuchstvoll trauernde Ehefrau auf. Als ihr Mann nach Korea entsendet wurde, winkte sie ihm mit ihrem Schal so lange nach, bis sie sich in Stein verwandelte. Deshalb wurde der Hügel, auf dem sie stand,  „Hügel des Schalwinkens“ (Hirefuri no mine) genannt. Das geschilderte Ereignis soll sich im Jahr 562 zugetragen haben.  
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{{g|Matsurasayohime}} (mögliche Übersetzung: die „Abschiedsjungfer von Matsura“) ist eine Gestalt, die sich unter verschiedenen Namen bereits in mehreren Quellen aus dem Altertum findet. Sie wird dort mit der Region {{g|Matsura}} im Nordwesten-Kyūshūs verknüpft. Im {{g|Manyoushuu}} tritt sie in mehreren Gedichten als sehnsuchtsvoll trauernde Ehefrau auf. Als ihr Mann im Jahr 562 nach Korea entsendet wird, winkt sie ihm mit ihrem Schal so lange nach, bis sie sich in Stein verwandelt. Deshalb soll der Hügel, auf dem sie stand,  „Hügel des Schalwinkens“ (Hirefuri no mine) genannt worden sein.  
  
 
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Die Lokalchronik {{g|Hizenfudoki}} enthält anstelle der Steinverwandlung eine inter·essantere Variante des traurigen Abschieds: Kurze Zeit nach der Trennung erschien der Mann wieder, verbrachte mehrmals die Nacht mit seiner Frau, verschwand aber bei Tagesanbruch. Als die Frau zusammen mit einer Dienerin den Mann verfolgte, fanden sie ihn am Meeresstrand in Gestalt eine Schlange. Die Dienerin holte Hilfe, doch man fand schlussendlich nur noch ein paar Knochenreste an dem Ort, wo man das vermeintliche Ehepaar zuletzt gesehen hatte.<!--
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Die Lokalchronik {{g|Hizenfudoki}} enthält anstelle der Steinverwandlung eine interessantere Variante des traurigen Abschieds: Kurze Zeit nach der Trennung erscheint der Mann wieder, verbringt mehrmals die Nacht mit seiner Frau, verschwindet aber bei Tagesanbruch. Als die Frau zusammen mit einer Dienerin den Mann verfolgt, findet sie ihn am Meeresstrand in Gestalt einer Schlange. Die Dienerin holte Hilfe, doch man findet schlussendlich nur noch ein paar Knochenreste an dem Ort, wo man das vermeintliche Ehepaar zuletzt gesehen hatte.<!--
 
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S. dazu Triplett 2004, S. 191–202; Aoki 1997, S. 260–261; s.a. ''Kamigraphie'', „[http://www.univie.ac.at/rel_jap/kami/Hizen_fudoki Hizen fudoki]“ und „[http://www.univie.ac.at/rel_jap/kami/Schlangen#Hirefuri_no_mine Schlangen]“.
 
S. dazu Triplett 2004, S. 191–202; Aoki 1997, S. 260–261; s.a. ''Kamigraphie'', „[http://www.univie.ac.at/rel_jap/kami/Hizen_fudoki Hizen fudoki]“ und „[http://www.univie.ac.at/rel_jap/kami/Schlangen#Hirefuri_no_mine Schlangen]“.
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| Sayohime rezitiert ein Sutra für die Schlange
 
| Sayohime rezitiert ein Sutra für die Schlange
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Dieser Terminus scheint im Mittelalter stark mit Menschen·opfer·legenden verbunden gewesen zu sein, obwohl er auch für Tiere verwendet werden kann und nicht not·wendiger·weise eine Tötung impliziert. Es gibt jedenfalls auch ein Nō-Stück dieses Titels, das von einem letztlich nicht voll·zogenen Opfer eines jungen Mädchens für die Berg·gottheit des Fuji erzählt.   
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Dieser Terminus scheint im Mittelalter stark mit Menschenopferlegenden verbunden gewesen zu sein, obwohl er auch für Tiere verwendet werden kann und nicht notwendigerweise eine Tötung impliziert. Es gibt jedenfalls auch ein Nō-Stück dieses Titels, das von einem letztlich nicht vollzogenen Opfer eines jungen Mädchens für die Berggottheit des Fuji erzählt.   
 
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-->einer bösen Riesenschlange dienen.
 
-->einer bösen Riesenschlange dienen.
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| Sayohimes Ritt auf der Schlange
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''Sayohime'' in Form eines illuminierten handgeschriebenen Buchs (''Nara ehon'') aus dem Museum Angewandter Kunst Frankfurt, Ü.: Triplett 2004, S. 65–125.
 
''Sayohime'' in Form eines illuminierten handgeschriebenen Buchs (''Nara ehon'') aus dem Museum Angewandter Kunst Frankfurt, Ü.: Triplett 2004, S. 65–125.
 
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gibt es am Ende eine interessante Pointe: Sayohime erlöst die Riesen·schlange, indem sie ihr eine Stelle aus dem Lotos Sutra vorliest, die besagt, dass einst die Tochter des Drachen·königs Buddha·schaft erlangte.<!--
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gibt es am Ende eine interessante Pointe: Sayohime erlöst die Riesenschlange, indem sie ihr eine Stelle aus dem Lotos Sutra vorliest, die besagt, dass einst die Tochter des Drachenkönigs Buddhaschaft erlangte.<!--
 
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Es handelt sich um das Devadatta-Kapitel, das 12. Kapitel des Lotos Sutras. (Vgl. Deeg, S. 196–202.)
 
Es handelt sich um das Devadatta-Kapitel, das 12. Kapitel des Lotos Sutras. (Vgl. Deeg, S. 196–202.)
 
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Die Schlange verwandelt sich darauf in ein junges Mädchen und erzählt, dass sie ihren Schlangen·leib erhielt, als die Menschen des Dorfes sie einst als Menschenopfer (''hitobashira'') für den Bau einer Brücke im Wasser versenkten. Aus Hass verwandelte sie sich nach ihrem Tod in eine Schlange, um sich an den Dorf·bewohnern zu rächen. Schluss·endlich nimmt das Schlangen·mädchen noch einmal ihre Tiergestalt an, um Sayohime – die gleich Kannon auf ihrem Kopf reitet – zurück in die Heimat zu bringen und steigt schließlich als Drache in den Himmel auf.  
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Die Schlange verwandelt sich darauf in ein junges Mädchen und erzählt, dass sie ihren Schlangenleib erhielt, als die Menschen des Dorfes sie einst als Menschenopfer (''hitobashira'') für den Bau einer Brücke im Wasser versenkten. Aus Hass verwandelte sie sich nach ihrem Tod in eine Schlange, um sich an den Dorfbewohnern zu rächen. Schlussendlich nimmt das Schlangenmädchen noch einmal ihre Tiergestalt an, um Sayohime – die gleich Kannon auf ihrem Kopf reitet – zurück in die Heimat zu bringen und steigt schließlich als Drache in den Himmel auf.  
  
In einer weiteren Variante aus der Edo-Zeit, die weniger stark buddhistisch gefärbt ist, ist es die kindliche Pietät einer gewissen {{g|Atsutanoenneme}} und das Erbarmen der Schrein·gottheit von {{g|Atsutajinguu|Atsuta}}, die dem Tun der Schlange ein Ende bereiten, doch die Struktur der Handlung bleibt die gleiche.<ref>Die Legende steht wahrscheinliche auch mit einem Nō-Stück namens Uneme in Verbindung, in dem sich die Protagonistin gleichen Namens aus enttäuschter Liebe in einem Teich ertränkt.</ref>
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In einer weiteren Variante aus der Edo-Zeit, die weniger stark buddhistisch gefärbt ist, ist es die kindliche Pietät einer gewissen {{g|Atsutanoenneme}} und das Erbarmen der Schreingottheit von {{g|Atsutajinguu|Atsuta}}, die dem Tun der Schlange ein Ende bereiten, doch die Struktur der Handlung bleibt die gleiche.<ref>Die Legende steht wahrscheinliche auch mit einem Nō-Stück namens Uneme in Verbindung, in dem sich die Protagonistin gleichen Namens aus enttäuschter Liebe in einem Teich ertränkt.</ref>
 
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| Atsuta no Enneme in Vorbereitung auf ihr Selbstopfer  
 
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Eine weitere Parallelgeschichte, die möglicherweise für die buddhistische Ausschmückung der Sayohime zum Vorbild genommen wurde, erzählt vom indischen Knaben {{g|Houmyoudouji}}, der sich ebenfalls zum Wohl eines verstorbenen Elternteils (in diesem Fall die Mutter) als Schlangenopfer verkauft. Schlussendlich greift hier {{g|Amida}} rettend ein (was Rückschlüsse auf Verbindungen zum {{g|joudoshuu|Jōdo}}-Buddhismus zulässt), alles in allem entspricht die Handlung aber trotz der vertauschten Geschlechterrollen ziemlich genau dem Sayohime-Plot.  
 
Eine weitere Parallelgeschichte, die möglicherweise für die buddhistische Ausschmückung der Sayohime zum Vorbild genommen wurde, erzählt vom indischen Knaben {{g|Houmyoudouji}}, der sich ebenfalls zum Wohl eines verstorbenen Elternteils (in diesem Fall die Mutter) als Schlangenopfer verkauft. Schlussendlich greift hier {{g|Amida}} rettend ein (was Rückschlüsse auf Verbindungen zum {{g|joudoshuu|Jōdo}}-Buddhismus zulässt), alles in allem entspricht die Handlung aber trotz der vertauschten Geschlechterrollen ziemlich genau dem Sayohime-Plot.  
  
Im Vergleich mit der ursprünglichen Version aus dem ''Hizen fudoki'' verschiebt sich die Thematik von einer Liebes·geschichte zu einer Geschichte kindlicher Ergeben·heit, in der vor allem zwei Motive auffallen: Selbstverkauf an Menschen·händler zum Wohle der Eltern und ein religiöses Menschen·opfer für eine Schlange. Diese Verschiebung ist möglicherweise unter dem Einfluss  
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Im Vergleich mit der ursprünglichen Version aus dem ''Hizen fudoki'' verschiebt sich die Thematik von einer Liebesgeschichte zu einer Geschichte kindlicher Ergebenheit, in der vor allem zwei Motive auffallen: Selbstverkauf an Menschenhändler zum Wohle der Eltern und ein religiöses Menschenopfer für eine Schlange. Diese Verschiebung ist möglicherweise unter dem Einfluss  
einer chinesischen Legende, die seit Beginn der {{g|heian}}-Zeit in Japan bekannt gewesen sein dürfte, erfolgt. Es handelt sich um die Geschichte der {{g|Liji}} aus dem 4. Jh.,<!--
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einer chinesischen Legende, die seit Beginn der {{g|heian}}-Zeit in Japan bekannt gewesen sein dürfte, erfolgt. Es handelt sich um die Geschichte der {{g|Liji}} aus dem 4. Jahrhundert.,<!--
 
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Triplett 2004, S. 206. Für eine Übersetzung der Geschichte s. Robin Wang (Hg.), ''Images of Women in Chinese Thought and Culture: Writings from the Pre-Qin Period Through the Song Dynasty''. Hackett Publishing, 2003, S. 205–206.
 
Triplett 2004, S. 206. Für eine Übersetzung der Geschichte s. Robin Wang (Hg.), ''Images of Women in Chinese Thought and Culture: Writings from the Pre-Qin Period Through the Song Dynasty''. Hackett Publishing, 2003, S. 205–206.
</ref>, in der sowohl der Selbstverkauf als auch das Schlangenopfer vorkommen.  
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Allerdings handelt es sich um eine reine Gespenster·geschichte, in der die Heldin die Schlange schlussendlich mithilfe eines Hundes und eines Schwerts zur Strecke bringt.
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in der sowohl der Selbstverkauf als auch das Schlangenopfer vorkommen.  
Die Betonung des elterlichen Seelenheils und das Motiv der buddhistischen Erlösung der Schlange, die nicht getötet wird, sondern ihr tierisches Dasein aus eigenem Antrieb beendet, sind Spezifika des japanischen Mittelalters. Dies scheint dem Umstand geschuldet zu sein, dass die Legende von verschiedenen religiösen Institutionen aufgegriffen und durch religiöse Prediger wie {{g|biwahoushi}} oder {{g|goze}} verbreitet wurde.  
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Allerdings handelt es sich um eine reine Gespenstergeschichte, in der die Heldin die Schlange schlussendlich mithilfe eines Hundes und eines Schwerts zur Strecke bringt.
  
Dass Eltern aus materieller Not ihre Töchter — zumeist an Freudenviertel — verkauften, ist jedenfalls nicht nur aus China, sondern auch aus dem vormodernen Japan bekannt. Ähnlich wie im Märchen von Hänsel und Gretel wird das Tun der Eltern in keiner Variante des Sayohime-Motivs grundsätzlich in Frage gestellt. In der stets betonten kindlichen Pietät Sayohimes lässt sich hingegen eine unterschwellige Rechtfertigung solcher Formen des Menschenhandels erkennen. Die Menschen·opferpraxis, die ja stets durch Sayohime oder andere Heldinnen ein Ende findet, ist wie bereits erwähnt, viel schwieriger nachzuweisen.  
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Das Motiv der Schlange, die nicht getötet wird, sondern ihr tierisches Dasein aus eigenem Antrieb beendet, findet sich wiederum im {{g|Konjakumonogatari}} aus der späten Heian-Zeit. Hier ist nicht von Menschopfern die Rede, sondern lediglich von einem Mann, der sich aus nicht genannten Umständen in eine menschenfressende Schlange verwandelt hat. Als ein Mönch, den der Schlangenmann als Opfer auserkoren hat, allerdings das Lotos Sutra rezitiert, verwandelt er sich wieder in seine menschliche Gestalt, bereut seine Taten und der Spuk hat ein Ende.<ref>''Konjaku monogatari'' 13/17, zitiert nach Kōriyama et al. 2015:49–50.</ref> Hier fehlt also auch der starke Bezug zwischen Schlangen und Frauen, aber das Motiv der reinen Frömmigkeit, die dämonische Schlangen ohne jede Anwendung von Gewalt überwindet und so die Überlegenheit des Buddhismus demonstriert, ist hier deutlich präsent. 
Sie scheint eher zur Heroisierung der Heldin und zur Dramatisierung der Schlangen-Erlösung eingesetzt worden zu sein. Als Ritualisten werden in der ausführlichen Sayohime-Legende  im übrigen explizit Schreinpriester ({{g|kannushi}}) genannt und auch die Illustrationen erinnern an shintōistische Opferriten. Die Geschichte enthält somit einen Hinweis, dass aufrichtige buddhistische Praxis den konventionellen Riten für die ''kami''-Gottheiten überlegen ist.
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Die religiöse Deutung des Schlangen-Motivs hängt wohl auch damit zusammen, dass die Legende von verschiedenen religiösen Institutionen aufgegriffen und durch religiöse Prediger wie {{g|biwahoushi}} oder {{g|goze}} verbreitet wurde.
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Dass Eltern aus materieller Not ihre Töchter — zumeist an Freudenviertel — verkauften, ist jedenfalls nicht nur aus China, sondern auch aus dem vormodernen Japan bekannt. Dass es dabei zur Opferung von Mädchen kam, liegt hingegen nicht auf der Hand. Schließlich erzählen die  Geschichten von Sayohime oder anderen Heldinnen ja stets vom Ende der
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die Menschenopferpraxis.
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Es liegt daher nahe, die Sayohime-Geschichte als narrative Verarbeitung des Verkaufs eigener Kinder zu interpretieren. Ähnlich wie im Märchen von Hänsel und Gretel wird das Tun der Eltern in keiner Variante des Sayohime-Motivs grundsätzlich in Frage gestellt. In der stets betonten kindlichen Pietät Sayohimes lässt sich sogar eine unterschwellige Rechtfertigung des elterlichen Tuns erkennen.
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Das Opfermotiv dient hingegen der Heroisierung der Heldin und kulminiert in der buddhistischen Erlösung der Schlange. Als Ritualisten werden in der ausführlichen Sayohime-Legende  im übrigen explizit Schreinpriester ({{g|kannushi}}) genannt und auch die Illustrationen erinnern an shintōistische Opferriten. Die Geschichte enthält somit einen Hinweis, dass aufrichtige buddhistische Praxis den konventionellen Riten für die ''kami''-Gottheiten überlegen sei.
  
 
== Zusammenfassung ==
 
== Zusammenfassung ==
  
Es gibt keine eindeutigen Hinweise, dass irgend eine bekannte religiöse Institution in historisch gut dokumentierter Zeit je ein Menschenopfer vorgeschrieben hätte.  Auf der Ebene regelmäßiger, von höchster Stelle autorisierter Rituale scheinen Menschenopfer, so es sie überhaupt je gab, irgend·wann zwischen dem 4. und 7. Jahr·hundert abge·schafft worden zu sein. Ähnliche Entwicklungen beobachtet man auch in China, wo bereits im ersten Jahr·tausend vor unserer Zeit·rechnung eine Ächtung von Menschenopfern einsetzte. Der Buddhismus bewirkte außerdem eine Abkehr von der rituellen Opferung von Tieren.  
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Es gibt keine eindeutigen Hinweise, dass irgend eine bekannte religiöse Institution in historisch gut dokumentierter Zeit je ein Menschenopfer vorgeschrieben hätte.  Auf der Ebene regelmäßiger, von höchster Stelle autorisierter Rituale scheinen Menschenopfer, so es sie überhaupt je gab, irgendwann zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert abgeschafft worden zu sein. Ähnliche Entwicklungen beobachtet man auch in China, wo bereits im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eine Ächtung von Menschenopfern einsetzte. Der Buddhismus bewirkte außerdem eine Abkehr von der rituellen Opferung von Tieren.  
  
Doch wird die Erinnerung an grausame (Selbst)-Opfer selbst im Buddhismus lebendig erhalten, und sei es nur durch Erzählungen wie die erwähnte Episode des Medizin-Königs, die Selbstopferungen zwar hinter andere Praktiken reihen, den Protagonisten solcher Opfer in ihrer ausführlichen Schilderung aber doch auch Bewunderung zollen. Dies führte in Japan immer wieder zu „Nachahmungstätern“, die ihre Selbstmorde bisweilen öffentlich inszenierten. Ein wichtiger Unterschied zu Selbstopfern im christlichen und islamischen Kontext scheint jedoch darin zu liegen, dass buddhistischen Beispielen kein mär·ty·rer·hafter Bei·ge·schmack anhaftet. Eher ging es darum, ähnlich wie die Krieger, durch die Art des gewählten Freitods Respekt zu generieren.
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Doch wird die Erinnerung an grausame (Selbst)-Opfer selbst im Buddhismus lebendig erhalten, und sei es nur durch Erzählungen wie die erwähnte Episode des Medizin-Königs, die Selbstopferungen zwar hinter andere Praktiken reihen, den Protagonisten solcher Opfer in ihrer ausführlichen Schilderung aber doch auch Bewunderung zollen. Dies führte in China und Japan immer wieder zu „Nachahmungstätern“, die ihre Selbstmorde bisweilen öffentlich inszenierten. Ein wichtiger Unterschied zu Selbstopfern im christlichen und islamischen Kontext scheint jedoch darin zu liegen, dass buddhistischen Beispielen nur selten ein märtyrerhafter Beigeschmack anhaftet. Eher ging es darum, ähnlich wie die Krieger, durch die Art des gewählten Freitods Respekt zu generieren oder einfach schneller die Gnade der „Hinübergeburt“ in ein buddhistisches Paradies zu erfahren.
  
Die Notwendigkeit blutiger Opferungen als Kom·pen·sations·leis·tung an die Götter scheint unter buddhis·tischer Deutungs·hoheit nicht ganz aus der Welt geschafft worden zu sein. Vor allem von Schlangen·gottheiten, die eine tief·sitzende Ver·bindung zum Wasser haben und u.a. das für die Landwirt·schaft elemen·tare Element des Regens steuerten, erwartete man sich die positive Auf·nahme von blutigen Opfern jeglicher Art.
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Die Notwendigkeit blutiger Opferungen als Kompensationsleistung an die Götter scheint unter buddhistischer Deutungshoheit nicht ganz aus der Welt geschafft worden zu sein. Vor allem von Schlangengottheiten, die eine tiefsitzende Verbindung zum Wasser haben und u.a. das für die Landwirtschaft elementare Element des Regens steuerten, erwartete man sich die positive Aufnahme von blutigen Opfern jeglicher Art.
Hier mag das generelle Tabu von Blut·opfern möglicher·weise den Effekt gehabt haben, dass Tiere zwar weit·gehend ver·schont blieben, vereinzelt jedoch Menschen – in der Regel junge Frauen — rituell getötet  wurden.
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Hier mag das generelle Tabu von Blutopfern möglicherweise den Effekt gehabt haben, dass Tiere zwar weitgehend verschont blieben, vereinzelt jedoch Menschen – in der Regel junge Frauen — rituell getötet  wurden.
Besonders  in der japa·ni·schen Volks·kunde sind die Meinungen bis heute geteilt, ob die vielen Legenden zu diesem Thema nur der Abschreckung dienten oder doch von der realen Existenz ritueller Menschen·opfer im historischen Japan zeugen.
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Besonders  in der japanischen Volkskunde sind die Meinungen bis heute geteilt, ob die vielen Legenden zu diesem Thema nur der Abschreckung dienten oder doch von der realen Existenz ritueller Menschenopfer im historischen Japan zeugen.
 
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Version vom 7. Februar 2022, 18:18 Uhr

Religiöse Gewalt in Japan Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer

Vorlage:Flenn man vom abendländischen Religionsverständnis ausgeht, verbindet sich mit dem Begriff „Opfer“ die Vorstellung des Blutopfers oder der Vernichtung von essentiellen Ressourcen (vgl. die biblische Episode von Kain und Abel: Abel opfert Fleisch, Kain Getreide, indem sie es verbrennen). Auch wenn die moderne christliche Religion keine derartigen Opfer mehr fordert, existiert die Idee des Blutopfers weiter fort, manifestiert sie sich doch nicht zuletzt in Christus, der sich selbst zum Opfer machte bzw. von Gott-Vater für die Opferrolle ausersehen wurde (vgl. diesbez. auch das von Abraham geforderte Opfer des eigenen Sohnes). Opfer impliziert demnach Gewalt gegen die eigenen Interessen oder Gewalt an sich selbst.

Sayohime 1.jpg
1 Japanische Legende eines Menschenopfers für eine Schlangengottheit
Matsura Sayohime, die sich selbst einem Menschenhändler verkauft hat, wird einer Schlangengottheit als Opfer dargebracht. Durch Rezitation des Lotos Sutras wird die Schlange bekehrt und das Mädchen gerettet. Die Legende wurde in der vorliegenden Version wahrscheinlich in der Muromachi-Zeit verschriftlicht, ist aber in der Heian-Zeit, also in grauer Vorzeit, angesiedelt.
Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze.

Ähnliche Opfer-Konzepte existierten auch in Indien, insbesondere im Veda [Veda (skt.) वेद „Wissen“, älteste indische Textsammlung zur brahmanischen Religion, in Versform; ursp. nur mündlich tradiert], wo neben detaillierten Opferritualen auch Theorien zu finden sind, die jedes Opfer (auch das Opfer von Pflanzen) explizit mit dem Töten von Lebewesen gleichsetzen und diese Gewaltanwendung zu einem zentralen Teil des Opfers erklären.1 Interessanterweise schließen vedische Opfervorschriften mit ein, dass der Opfernde eine vorbereitende Phase des Vegetarismus (sowie des Gewalt- und Sexualverzichts) durchläuft, an dessen Ende Blutopfer und Fleischkonsum stehen. Blutopfer/ Fleischkonsum einerseits und Gewaltverzicht/ Vegetarismus andererseits standen also in einem zyklischen Verhältnis zu einander.2 Erst später setzte sich der Vegetarismus als generelle ethische Norm in Indien durch und wurde in dieser Form auch vom Buddhismus übernommen.

In Japan ist von blutigen Opfern in den imaginären Beziehungen zwischen Mensch und Gottheit auf den ersten Blick nichts zu erkennen (s. Kapitel Alltag, Opfergaben). Wendet man sich aber religiösen Legenden aus alter Zeit zu, wird allmählich klar, das Blut und Gewalt wohl auch in Japan einen festen Platz in der religiösen Vorstellungswelt gehabt haben müssen.

Prähistorische Menschenopfer

Haniwa mukade.jpg
2 Grabfiguren (haniwa)
Die vier haniwa-Figuren stammen aus einem Hügelgrab in Kyūshū, dem Mukadezuke, das in der späten Kofun-Zeit errichtet wurde. Die beiden Figuren im Vordergrund tragen wahrscheinlich buddhistische Stolen (kesa), die Figur mit dem Hut dürfte ein Mann sein. Die Figuren wurden an der Außenseite der Hügelgräber in Reihen nebeneinander aufgestellt.
Kofun-Zeit, 6. Jh. Japanese Archaeological Association, 2006.

Das chinesische Geschichtswerk Weizhi [Weizhi (chin.) 魏志 Chin. Chronik der Wei Dynastie (220–266) aus dem 3. Jh. u.Z.; enthält die frühesten Berichte über Japan (Wa) (vgl. wo)] (Chronik der Wei, 297 u.Z.), das die ältesten einigermaßen verlässlichen historischen Berichte über Japan enthält, berichtet, dass anlässlich des Todes der Priesterkönigin Himiko [Himiko (jap.) 卑弥呼 ca. 170–248; frühgeschichtliche Priesterkönigin; auch Pimiko (wahrscheinliche Bedeutung: „Kind der Sonne“); chin. Pei-mi-hu] über hundert Gefolgsleute gezwungen wurden, ihr in den Tod zu folgen.3 Auch das Nihon shoki [Nihon shoki (jap.) 日本書紀 Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)] (720) erzählt vom Brauch der Todesgefolgschaft im frühgeschichtlichen Japan: Als der jüngere Bruder des semi-mythischen Herrschers Suinin Tennō [Suinin Tennō (jap.) 垂仁天皇 11. kaiserl. Herrscher Japans, leg. Regiergungszeit 29 v.–70 n.u.Z.] starb, mussten seine persönlichen Vassallen ihm in den Tod folgen, indem man sie aufrecht stehend mit ihm zusammen begrub. Sie starben also einen langsamen, qualvollen Tod und ihr Wehklagen war noch Tage nach dem Begräbnis zu vernehmen. Der Herrscher beschloss daraufhin, diesem Brauch ein Ende zu machen, und befahl, anstatt lebender Personen Grabbeigaben aus Ton (haniwa [haniwa (jap.) 埴輪 frühgeschichtliche Grabbeigaben aus Ton, meist in Form einfacher Skulpturen]) zu verwenden.4

Die Historizität und zeitliche Einordnung dieses Berichts ist nicht eindeutig erwiesen. Dagegen spricht, dass sich bei einer größeren Verbreitung derartiger Bräuche entsprechende Skelette finden lassen müssten. Archäologisch ist jedoch bisher noch kein eindeutiger Nachweis von regelmäßigen rituellen Menschenopfern erbracht worden. Auch sind haniwa in Wirklichkeit älter, als sie gemäß der vorliegenden Legende sein müssten. Ein interessanter Aspekt der haniwa-Entstehungslegende im Nihon shoki besteht allerdings in dem expliziten Hinweis, dass man Töpfermeister aus Izumo [Izumo (jap.) 出雲 alter Namen der Präfektur Shimane in West-Japan; auch kurz für Izumo Taisha] mit der Herstellung der irdenen Grabfiguren beauftragte. Das scheint auf eine besondere Kompetenz Izumos auf dem Gebiet dieser frühgeschichtlichen Bestattungskultur hinzuweisen.

Während die Frage nach der Existenz von prähistorischen Menschenopfern also nicht restlos geklärt ist, lassen sich Blutopfer von Rindern und Pferden aus historisch verlässlichen Abschnitten des Nihon shoki vor allem im Zusammenhang mit Regenriten nachweisen.5 Noch in historischer Zeit findet man Berichte, dass bei Trockenheit der abgetrennte Kopf eines Pferdes in ein Gewässer geworfen wurde. Dabei stand aber weniger die Demonstration von Verzicht im Vordergrund, als eine Art von Tabubruch: Der abgetrennte Kopf sollte die Wassergottheit in Zorn versetzen und auf diese Weise ein Unwetter herbeiführen. Auch derartige Riten kamen aber unter buddhistischem Einfluss mehr und mehr außer Gebrauch.6

Selbstopfer im Buddhismus

Dass blutige religiöse Zeremonien in Japan schließlich an Bedeutung verloren, war wohl in erster Linie dem buddhistischen Tötungsverbot zuzuschreiben. Dieses Tötungsverbot bezieht sich jedoch nicht auf das eigene Leben und in der Tat kennt der Buddhismus Beispiele von willentlich durchgeführten Selbstopfern. In den Geschichten von den Vorleben des historischen Buddhas, den Jataka [Jātaka (skt.) जातक „Wiedergeburtsgeschichte“, Heiligenlegende des Buddha (jap. Honjōtan 本生譚 oder Honjōkyō 本生経)], finden sich dafür zahlreiche Beispiele. Beispielsweise war der Buddha einst ein Hase gewesen, der sich einem Brahmanen als Speise anbot, damit dieser gestärkt eine Askese vollziehen könne.7 Der vielleicht prominenteste Fall einer buddhistischen Selbstopferung ist jedoch die Selbstverbrennung des Bodhisattvas Yakuō im Lotos Sutra (Saddharma pundarika sutra [Saddharma puṇḍarīka sūtra (skt.) सद्धर्मपुण्डरीकसूत्र „Sutra vom weißen Lotos des wunderbaren Dharma“, Lotos Sutra (jap. Myōhō renge kyō 妙法蓮華経 oder Hoke-kyō 法華経)]). Dieser eminent wichtige Texte des Mahayana [Mahāyāna (skt.) महायान „Großes Fahrzeug“, buddhistische Richtung (jap. daijō bukkyō 大乗)]-Buddhismus enthält zum Thema Opfer/Spende (kuyō [kuyō (jap.) 供養 Opfer(ritus), Spende; auch: Totenritual], skt. pūjā) ein erstaunliches Kapitel, das man sowohl als Anleitung zur rituellen Selbstverbrennung als auch als deren Gegenteil interpretieren kann. Es handelt sich um das Kapitel 23, in dem es um das Vorleben des Yakuō Bosatsu [Yakuō Bosatsu (jap.) 薬王菩薩 Bodhisattva Medizinkönig; Bodhisattva im Lotos Sutra], wtl. „Bodhisattva Medizin-König“, geht. Abgesehen vom Thema „Opfer“ ist dieses Kapitel ein typisches Beispiel für die rekursive Form, in welcher buddhistische Sutren ihren eigenen Wert anpreisen. Der Wert einer Rezitation des Lotos Sutras ist — so die Botschaft in diesem Fall — höher als ein Selbstopfer im Dienste der buddhistischen Lehre.

Die Geschichte des Medizinkönigs

Die weitschweifige Erzählung des Yakuō-Kapitels lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:8

Yakuo.jpg
3 Yakuō Bosatsu (1202)
Der selten dargestellte Yakuō Bosatsu tritt im Kōfuku-ji zusammen mit seinem „Bruder“, Yakujō Bosatsu, auf.
Kamakura-Zeit, 1202. Bildquelle: Kurokawa Takao.

Wir befinden uns in einem lange zurück liegenden Zeitalter, in dem der Buddha der Lichtreinen Tugend9 auf Erden weilt. Auch dieser Buddha predigt bereits das Lotos Sutra und führt dadurch den Bodhisattva des Freudigen Anblicks10, den zukünftigen Yakuō, in einen Zustand meditativer Versenkung (samadhi), in dem dieser alle Formen annehmen kann.

Zum Dank offenbart der Bodhisattva dem Buddha allerlei Spenden (Blumen, Räucherwerk, Parfüm), doch schlussendlich beschließt er, seinen eigenen Körper zu opfern (kuyō), um der erwiesenen Gnade gerecht zu werden. Nach aufwändigen Vorbereitungen (unter anderem trinkt er Öl, um seinen Körper brennbar zu machen) gelingt dies in einem Akt der Selbstverbrennung, dessen Licht bis in alle anderen Welten dringt. Die Buddhas aller dieser Welten würdigen dies: „Wohlgetan, wohlgetan! Oh Sohn aus gutem Hause! Dies ist echte Anstrengung! Dies nennt man eine wahre Gesetzesspende an den Tathagata!“

Der Bodhisattva wird sogleich wiedergeboren und begibt sich ein weiteres Mal zum Budda der Lichtreinen Tugend. Dieser erklärt ihn zu seinem Nachfolger und geht sodann ins Nirvana ein. Der Bodhisattva kümmert sich um die Verbrennung der sterblichen Überreste des Buddhas und die Beisetzung seiner Reliquien. Dann bringt er den Reliquien ein weiteres Selbstopfer dar, indem er seine Arme verbrennt. Als Zeichen seiner zukünftigen Buddhaschaft wachsen dem Bodhisattva allerdings wieder neue Arme nach.

In der heutigen Welt (zur Zeit des historischen Buddhas) zeigt sich dieser Bodhisattva als Yakuō Bosatsu (Bodhisattva Medizinkönig).

Interpretation des Medizinkönig-Kapitels

Aus dieser Geschichte zieht das Lotos Sutra selbst folgenden Schluss: Wenn jemand ein Selbstopfer begeht, und sei es auch nur ein Finger oder eine Zehe, so bringt dies mehr karmische Verdienste als die Spende der größten Schätze und Reichtümer. All diese Verdienste sind jedoch immer noch geringer als jene von einem, „der dieses Sutra vom Lotos des Gesetzes annimmt und bewahrt, und seien es auch nur vier Verse daraus! Dieser erlangt das höchste Heil.“

Die Botschaft des Kapitels läuft also darauf hinaus, dass es besser ist, das Lotos Sutra auswendig zu lernen, zu rezitieren und zu kopieren, als sich durch Selbstopfer der Gnade Buddhas würdig erweisen zu wollen. Insofern wird der Wert eines Selbstopfers relativiert. Dennoch enthält das Kapitel auch die ausführliche Biographie eines Bodhisattvas, dessen Besonderheit in mehrfachen Selbstopferungen besteht, die explizit von „den Buddhas aller Welten“ als höchste Form des Opfers gepriesen werden. Das Kapitel, in dem das Thema Verbrennung auch in Form der Kremation eines Toten angesprochen wird, kann also nicht nur als Aufruf zum Studium des Lotos Sutras gelesen werden, sondern enthält durchaus Ermutigungen zur teilweisen oder vollständigen Selbstverbrennung, wie sie gerade in der buddhistischen Welt ja auch heute noch immer wieder vorkommt. Daher wird Kapitel 23 des Lotos Sutra auch als locus classicus der buddhistischen Praxis der Selbstverbrennung bezeichnet.

Schlussendlich offenbart das Sutra, dass das betreffende Kapitel von den früheren Leben des Medizinkönigs wie Medizin wirkt: „Wenn jemand krank ist und dieses Sutra vernimmt, so wird seine Krankheit sogleich verschwinden und er wird ohne Alter und ohne Tod sein.“ Offenbar hängt die besondere Betonung der körperlichen Verstümmelung mit den heilenden Fähigkeiten zusammen, die diesem Bodhisattva zugesprochen werden. Dies rechtfertigt natürlich umgekehrt auch den Namen Medizinkönig.

Dass das Kapitel über den Medizinkönig zum Vorbild tatsächlicher Selbstverbrennungen wurde, ist laut dem Sinologen James Benn ein chinesisches Phänomen. Die berühmte Sammlung von Biographien ehrwürdiger Mönche (Gaoseng zhuan [Gaoseng zhuan (chin.) 高僧伝 Überlieferungen ehrwürdiger Mönche; Sammlung von etwa 500 Biographien (die Hälfte ausführlich, andere kürzer) von Huijiao (519 u.Z.); alle Biographien handeln von chinesischen Mönchen zwischen 57 und 519 u.Z.]) erwähnt als frühesten Fall ein buddhistisches Selbstopfer aus dem Jahr 396 und begründet es damit, dass der betreffende Mönch schon “lange danach trachtete, den Spuren des Medizin-Königs zu folgen und seinen Körper zu Ehren des Buddha hinzugeben.”11 Zahllose ähnliche Schilderungen erwähnen, wie sogar Details wie das Drinken von Öl zur besseren Brennbarkeit aus der Episode vom Medizin-König übernommen wurden. Möglicherweise wurde diese Praxis aber von vor-buddhistischen Formen der Selbstopferung, etwa zum Zweck des Regenmachens, beeinflusst.12

Blut als Tinte

Das Brahma-Netz Sūtra (Bonmō-kyō [Bonmō-kyō (jap.) 梵網經 Brahma-Netz Sūtra; nur in chin. Version (406) bekannt; gilt als apokrypher Text, der aber wichtig zur Standardisierung der buddhistischen Gebote (Vinaya) in Ostasien war]) enthält eine zumindest verwandte Anleitung der Selbstopferung, indem es den Praktizierenden zu folgendem Vorgehen ermutigt:

Söhne des Buddha, haltet und verbreitet stets aus ganzem Herzen die Gebote der Mahayana Sutren. Eure Haut macht zu Papier, euer Blut zu Tinte, euer Mark zu Wasser und eure Knochen zu Pinsel. So kopiert die Gebote des Buddha. 13

Auch diese Anleitung wurde bisweilen wörtlich genommen, wie gleich zu sehen sein wird. Sie findet einen Nachklang in der im japanischen Mittelalter weithin üblichen Praxis, Verträge bzw. Eide mit der vom eigenen Blut getränkten Hand zu unterzeichnen.

Selbstmorde und Selbstverstümmelungen in Japan

In Japan ist der „Medizin-Buddha“, Yakushi Nyorai [Yakushi Nyorai (jap.) 薬師如来 Buddha der Medizin; skt. Bhaisajyaguru], wesentlich populärer als der hier erwähnte Bodhisattva Medizinkönig. Von den Taten des Medizinkönigs ist daher im heutigen japanischen Buddhismus glücklicherweise nicht allzu oft die Rede. Doch findet man schon in den gesetzlichen Bestimmungen für Mönche und Nonnen aus dem japanischen Altertum das Verbot: „Mönche und Nonnen dürfen sich nicht verbrennen oder Selbstmord begehen.“14 Dies legt im Umkehrschluss nahe, dass es schon in der Frühzeit des japanischen Buddhismus Mönche gab, die aus Sicht der Behörden Ärger stifteten, indem sie sich selbst Gewalt antaten. Dem einflussreichen Nara [Nara (jap.) 奈良 Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō]-zeitlichen Prediger Gyōki [Gyōki (jap.) 行基 668–749; Nara-zeitlicher Mönch, Popularisierer des Buddhismus] wurde in der Tat zur Last gelegt, dass er sich (zusammen mit anderen Häretikern) die Haut von den Unterarmen ziehe und sie verbrenne, um auf diese Weise Almosen zu erbetteln.15 Diese Schilderung erinnert erstaunlich stark an Yakuō.

Buddhistische Lehrerzählungen

Von Mönchen, die die Askese bis zum Selbstmord trieben, berichtet auch das Nihon ryōiki [Nihon ryōiki (jap.) 日本霊異記 „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)] aus dem neunten Jahrhundert. Eine Episode aus dieser frühen buddhistischen Legendensammlung erzählt von einem Mönch, der stets das Lotos Sutra rezitierte, bis er sich in den Bergen der Halbinsel Kii (s.u.) schließlich freiwillig von einem Felsen stürzte. Als man seine verblichenen Gebeine Jahre später fand, war die Zunge noch unversehrt und rezitierte nach wie vor das Sutra.16 Der Autor des Ryōiki, der Mönch Kyōkai [Kyōkai (jap.) 景戒 buddhistischer Mönch des Yakushi-ji 薬師寺 (ein Tempel der Hossō-Schule) zur Nara-Zeit], erzählt außerdem — und dies ist eine große Seltenheit in derartigen Texten — von einem eigenen Traum, in dem er der Verbrennung seines eigenen Körpers beiwohnt.

Im Frühling des Holz/Büffel-Jahres Enryaku 7[788], in einer Erd/Drache-Nacht am 17. des Dritten Monats, träumte Kyōkai:

Als Kyōkais Körper gestorben war, sammelte man Brennholz und zündeten ihn an. Kyōkais irdische Seele (konshin 魂神) stand neben dem brennenden Körper und sah, dass dieser nicht wunschgemäß verbrannte. So nahm Kyōkai selbst einen Stock, durchbohrte damit den eigenen brennenden Körper, wendete ihn, und verbrannte ihn wieder. Dann erklärte er den Menschen, die [das Feuer] zuvor entzündet hatten: „Verbrennt ihn so gut wie ich!“. Als er dann dem eigenen Körper beim Brennen zusah, entbrannten die Gelenke an Füßen, Knien, Händen und am Kopf und alles brach und fiel ab. Daraufhin stieß Kyōkais Seele (shinshiki 神職) einen Schrei aus. Er presste seinen Mund an das Ohr eines Menschen in seiner Nähe und diktierte ihm seinen letzten Willen. Doch der Klang der Worte war leer und unhörbar und der Mensch antwortete nicht. Da dachte Kyōkai bei sich: „Die Seele (神) eines Verstorbenen hat keine Stimme. Daher kann man nicht hören, was ich gerufen habe.“

Noch habe ich keine Antwort auf diesen Traum erhalten. Doch wenn ich es recht bedenke, könnte er ein langes Leben und einen hohen Rang bedeutet haben. Ich werde es wohl nur erfahren, wenn ich weiter auf eine Traumantwort warte. Doch [immerhin] erhielt ich, Kyōkai, im Winter des Holz/Eber-Jahres Enryaku 14 [795]/12/30 den Titel eines Lampenträgers vom Zweiten Rang verliehen.17

Kyōkai deutet also an, dass der (Selbst-)Verbrennungstraum ein gutes Omen gewesen sein könnte und seine Ernennung zum dentō [dentō (jap.) 伝燈 Mönchstitel, wtl. „Übertragen der Lampe“; Weiterführen der Lehre [eines buddhistischen Meisters]; wurde 860 zu einem Ehrentitel in vier (später fünf) Abstufungen; implizierte eine Auszeichnung für Mönche außerhalb der staatlichen Mönchsverwaltung (sōgō), die sich um die Ausbreitung der buddhistischen Lehre verdient gemacht hatten], wtl. „Lampenträger“, voraus gedeutet hätte. Er assoziiert demnach den traditionellen buddhistischen Ehrentitel „Lampenträger“, oder genauer „Lichtverbreiter“, mit dem Akt der Selbstverbrennung.

In der späteren setsuwa [setsuwa (jap.) 説話 Lehrerzählung, didaktische Anekdote; meist von buddh. Mönchen in Form umfangreicher Sammlungen kompiliert]-Literatur findet man die gleiche Metaphorik — Ausbreitung des Lichts = Selbstverbrennung — in konkreten Berichten von Fundamentalisten, die „aus ihrem Körper eine Lampe machen“ wollten, wie man das ehemals nannte. Als erste rituelle Selbstverbrennung in Japan gilt der Fall eines gewissen Ōshō [Ōshō (jap.) 応照 Asket der Heian-Zeit; bekannt durch Selbstverbrennung], der in den Bergen von Kumano [Kumano (jap.) 熊野 Region im Süden der Halbinsel Kii (Wakayama-ken), bekannt für ihre alten Pilgerzentren (s. Kumano Sanzan)] am Nachi-Wasserfall lebte. Er ist im Hokke genki [Dainihonkoku hokke genki (jap.) 大日本国法華験記 „Berichte von den Wundern des Lotos Sutras im Großen Reich Japan“; buddh. Legendensammlung (setsuwa) von Chingen 鎮源, 11. Jh.; behandelt in erster Linie Hagiographien], einem Werk, das schon im Titel auf die durch das Lotos Sutra in Japan hervorgerufenen Wunder hinweist, ausführlich beschrieben. Hier wird das Beispiel des Medizinkönigs explizit als Vorlage der Selbstverbrennung Ōshōs angeführt. Und wie im oben erwähnten Ryōiki zeugt auch hier die Zunge des Asketen von der Beispielhaftigkeit seiner Tat, indem sie seine Verbrennung unbeschadet übersteht, um weiter Gebete zu rezitieren.18 In der Folge, sprich ab Mitte der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit, scheint es zu einer Art Boom von Selbstverbrennungen gekommen zu sein, die auch in der Literatur als bewundernswert herausgestellt wurden.19 In der Kamakura [Kamakura (jap.) 鎌倉 Stadt im Süden der Kantō Ebene, Sitz des Minamoto Shōgunats 1185–1333 (= Kamakura-Zeit)]-Zeit machen sich allerdings erste Zweifel bemerkbar, wenn etwa der Satiriker Mujū Ichien [Mujū Ichien (jap.) 無住一円 1226–1312; buddh. Mönch und Autor essayistischer und anekdotischer Werke] abfällig von einem vorgetäuschten Selbstverbrennungsritual berichtet. Gegen Ende des japanischen Mittelalters scheint diese Form der Selbstopferung schließlich ganz aus der Mode gekommen zu sein.

Weitere Beispiele

Ähnlich spektakulär wie die Selbstverbrennung war ein ritueller Selbstmord namens Fudaraku tokai [Fudaraku tokai (jap.) 補陀落渡海 „Überfahrt nach Fudaraku“ (Paradies des Bodhisattva Kannon); buddhistische Form des rituellen Selbstmords] (Überfahrt nach Fudaraku), bei dem sich der Weltflüchtige in ein Boot einzimmern ließ. Dieses wurde dann den Wellen übergeben, um schließlich in Fudaraku [Fudaraku (jap.) 補陀落 paradisische Insel des Kannon (Avalokiteshvara), abgeleitet von skt. Potalaka], dem Reinen Land des Bodhisattvas Kannon [Kannon (jap.) 観音 auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt], anzukommen. Da dieses Paradies im Süden jenseits des Meeres liegen soll, etablierte sich die Südspitze der Halbinsel Kii [Kii Hantō (jap.) 紀伊半島 Halbinsel Kii, Wakayama-ken], unweit des erwähnten Nachi-Wasserfalls, als Ausgangspunkt solcher selbstmörderischer Expeditionen.20 In diesem Fall steht jedoch das Selbstopfer nicht im Vordergrund, denn das Erreichen des Paradieses noch während der eigenen Lebenszeit wurde zu mindest von den Pionieren dieser Praxis für möglich erachtet. Allerdings hoffte man im Falle des eigenen Todes auf „Hinübergeburt“ in Kannons Paradies. So oder so ging es also um das Erreichen einer Vorstufe des Nirvana [Nirvāṇa (skt.) निर्वाण „Erloschen, ausgelöscht“, Ort der Erlösung von allem Leid, absolutes Jenseits (jap. Nehan 涅槃)], sei es als Lebender oder als Toter.

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4 Aufbruch ins Ungewisse
Unter einem großen torii vollziehen buddhistische Mönche einen Ritus. Davor sieht man ein Schiff, das ebenfalls mit torii bestückt ist, doch auf dem Segel steht „Ehre dem Buddha Amida“ namu amida butsu. Die Szene ist ein Ausschnitt eines Schrein-Mandalas, auf dem die Umgebung des Nachi Schreins in Kumano dargestellt ist. Der Ort war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auch dafür berühmt, dass sich Amida-Gläubige in Boote aussetzen ließen, um von hier Fudaraku, das Reine Land von Amidas Begleiter Kannon Bosatsu, zu erreichen, das man südlich der Halbinsel von Kumano wähnte. Das Boot mit den torii ist für diese Fahrt ins Ungewisse gedacht. Die Praktikanten ließen sich in einer Art Hütte an Bord einsperren und hofften, dass ihnen die Wiedergeburt in Kannons Paradies sicher wäre, wenn sie auf diese Weise den Tod finden würden. (S.a. Religiöse Selbstmorde.)
Frühe Edo-Zeit. Kokugakuin University Library.

Die extremste Form der Selbstopferung, für die es Beispiele aus Japan gibt, ist die Selbstmumifizierung. Dabei nehmen Mönche Monate hindurch nur giftige pflanzliche Extrakte zu sich, sodass sie letztlich in völlig ausgezehrtem Zustand verhungern, ihre Körper aber anschließend nicht verwesen. Einige Mumien dieser Art sind aus Nord-Japan bekannt, der letze Fall ereignete sich 1903.

Kriegerethos

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5 Seppuku des Erdbebenwelses
Der Erdbeben-Wels (namazu), der das Erdbeben von 1855 hervorgerufen hat, ist von einem Pfeil des Gottes Kashima Daimyōjin getroffen worden und begeht Selbstmord durch seppuku (harakiri). Im Hintergrund, unterhalb des Gottes, sind links die verstorbenen Opfer des Bebens, rechts die Geschädigten (Großhändler, Daimyōs, etc.) zu sehen. Aus dem Bauch des Welses strömt Geld (das offenbar den Armen zugute kommt).
Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995, S. 9.

Viel bekannter als die vereinzelten Fälle buddhistisch motivierter Selbstmorde ist die japanische Tradition des seppuku [seppuku (jap.) 切腹 ritueller Selbstmord durch Bauchschnitt; „Harakiri“] (harakiri). Obwohl diese Praktik in einen aufwändigen Ritualismus eingebunden war, fehlt auf den ersten Blick jeder religiöse Bezug. Die Motivation für diese Art von Selbstopferung war die Kriegerehre. Typischerweise ging es einfach darum, dem Feind nicht lebend in die Hände zu fallen oder einen aussichtslosen Kampf ehrenvoll zu beenden. Auch folgte man mitunter zum Beweis der eigenen Loyalität seinem Lehensherren in den Tod, eine Praxis, die Anfang der Edo-Zeit derart verbreitet gewesen zu sein scheint, dass sie sogar unter Strafe gestellt wurde (wobei die Strafe die überlebenden Verwandten traf). Schließlich gibt es in moderner Zeit auch das kriegerische Selbstmordattentat in Gestalt der kamikaze [kamikaze (jap.) 神風 Götterwind; urspr. ein poetischer Beinamen der Provinz Ise, wird der Begriff seit den Mongolenangriffen des 13. Jh.s mit göttlichem Schutz im Krieg assoziiert und daher auch mit den Selbstmord-Piloten des 2. Weltkriegs in Verbindung gebracht]-Piloten des Zweiten Weltkriegs.

Derartige ritualisierte Selbstmorde sind seit dem japanischen Mittelalter in Kriegerepen wie Heike monogatari [Heike monogatari (jap.) 平家物語 „Geschichte der Heike [= Taira]“; mittelalterliches Kriegerepos] oder Taiheiki [Taiheiki (jap.) 太平記 Historisches Epos aus dem späten 14. Jh., behandelt den Konflikt zwischen Nördlichem und Südlichem Kaiserhof] nachweisbar. Dies ist zugleich die Blütezeit des japanischen Buddhismus. Gibt es zwischen diesen Phänomenen einen Zusammenhang? Wurden blutige Opfer durch den Buddhismus aus dem Feld der Religion verbannt und daher in ein weltliches Gewand gekleidet?

Opfer für Wassergottheiten

Wie oben erwähnt richteten sich die meisten historisch verbrieften Blutopfer in Japan an Wassergottheiten in Form von Schlangen oder Drachen. Die gleichen Gottheiten sind auch die primären Adressaten von Menschenopfern in Legenden, deren Historizität wiederum nicht zweifelsfrei erwiesen ist. So ist z.B. der mythologische Gott Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu] dafür bekannt, dass er die Welt von einem Schlangenmonster befreite, das regelmäßig Jungfrauen verschlang.

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6 Susanoo rettet ein Mädchen, das als Menschenopfer auserkoren wurde
Susanoo rettet Prinzessin Kushinada vor der Schlange Yamata no Orochi, die hier ausnahmsweise als Schlange mit einem Kopf dargestellt ist. Kushinada-hime scheint sich mit Hilfe shintoistischer Rituale selbst schützen zu wollen.
Werk von Tsukioka Yoshitoshi (1839–1892). Spätere Edo-Zeit. Bildquelle: unbekannt.

In der semi-mythologischen Erzählung von Yamato Takeru [Yamato Takeru (jap.) 倭建/日本武 Mythologischer Prinz, Sohn des Keikō Tennō; wtl. der Held/der Tapfere von Yamato] stoßen wir auf eine Episode, in der sich eine Gemahlin dieses kaiserlichen Prinzen ins Meer stürzt, als ungünstige Winde die Landung seines Schiffes verunmöglichen. Das Selbstopfer der jungen Frau beruhigt die missgünstigen Wassergottheiten und stellt sich demnach in der Logik der Erzählung als sinnvoll und notwendig dar.

In der Zeit des tugendhaften Nintoku Tennō [Nintoku Tennō (jap.) 仁徳天皇 eig. Ōsazaki; semi-historischer Tennō der Frühzeit, der als Inbegriff des weisen, gerechten Herrschers gilt], gelingt ein Dammbau erst nach einem Menschenopfer, das dem Tennō durch Traumbotschaften abverlangt wird. Die Geschichte enthält allerdings eine interessante Doppeldeutigkeit: Als Opfer sind zwei Männer ausersehen. Doch während sich einer seinem Schicksal fügt, gelingt es dem anderen, den Flussgott zu überlisten und mit dem Leben davon zu kommen.21

Gerade diese Verbindung von Dammbau und Menschenopfer zieht sich bis weit in historische Zeiten hinein. Laut der mittelalterlichen Chronik Genpei jōsuiki [Genpei jōsuiki (jap.) 源平盛衰記 auch Genpei seisuiki; „Aufstieg und Fall der Minamoto und der Taira“; Kriegerepos, erweiterte (späte) Version des Heike monogatari, 13.–14. Jh.] versuchte der Gewaltherrscher Taira no Kiyomori [Taira no Kiyomori (jap.) 平清盛 1118–1181; Feldherr und Diktator am Ende der Heian-Zeit; unterlag im Genpei-Krieg den Minamoto], den Bau einer künstlichen Insel durch dreißig „menschliche Pfeiler“ (hitobashira [hitobashira (jap.) 人柱 wtl. menschlicher Pfeiler; Menschenopfer bei Damm- oder Brückenbauten]), also menschliche Opfer, für den Drachengott des Meeres voranzutreiben. Schließlich opferte sich ein Knabe freiwillig, indem er auf einem weißen Pferd in die Fluten ritt. Zusätzlich wurden buddhistische Sutren rezitiert. Beide Opferleistungen wurden angenommen und führten zum erfolgreichen Abschluss des Bauprojekts.22

Zu den wenigen Fällen, in denen Menschenopfer fordernde Gottheiten keine Schlangen oder Drachen sind, gehören ein Affengott aus dem Konjaku monogatari [Konjaku monogatari (jap.) 今昔物語 „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext] und der halbmenschliche Unhold Shuten Dōji [Shuten Dōji (jap.) 酒顛童子 wtl. etwa Sauf-Knabe; berüchtigter Dämon (oni) der Heian-Zeit]. Beide Figuren sind seit der späten Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit bekannt, beide verspeisen holde Jungfrauen und beide werden von mutigen Männern unschädlich gemacht. Ob nun fiktional oder real, Menschenopfer scheinen sich in der Regel auf sexuell anziehende Gestalten wie junge Mädchen und — viel seltener — junge Knaben beschränkt zu haben.

Die meisten dieser Geschichten spielen jedoch in grauer Vorzeit und erzählen, wie eine Menschenopferpraxis auf kreativen Umwegen umgangen wurde und schließlich ihr Ende fand. Sie enthalten daher Kritik an der Sinnhaftigkeit von Menschenopfern. Am häufigsten wurde dieses narrative Muster auf eine Figur namens Sayohime, „Abschiedsjungfer“, angewandt.

Sayohime

Matsura Sayohime [Matsura Sayohime (jap.) 松浦佐用姫 legendäre Figur eines jungen Mädchens, das als Menschenopfer für eine Schlangengottheit ausersehen ist, diese aber Kraft ihrer Tugend aus dem Schlangendasein erlöst] (mögliche Übersetzung: die „Abschiedsjungfer von Matsura“) ist eine Gestalt, die sich unter verschiedenen Namen bereits in mehreren Quellen aus dem Altertum findet. Sie wird dort mit der Region Matsura [Matsura (jap.) 松浦 alter Regionalbezirk in Nord-Kyūshū, heute Matsuura; auch Familienname dortiger Fürsten] im Nordwesten-Kyūshūs verknüpft. Im Manyōshū [Manyōshū (jap.) 萬葉集/万葉集 759?; die älteste japanische Gedichtesammlung; wtl. Sammlung der zehntausend Blätter;] tritt sie in mehreren Gedichten als sehnsuchtsvoll trauernde Ehefrau auf. Als ihr Mann im Jahr 562 nach Korea entsendet wird, winkt sie ihm mit ihrem Schal so lange nach, bis sie sich in Stein verwandelt. Deshalb soll der Hügel, auf dem sie stand, „Hügel des Schalwinkens“ (Hirefuri no mine) genannt worden sein.

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7 Matsura Sayohime
Das Bild zeigt die u.a. im Manyōshū besungene Legende der Sayohime aus Kyūshū, die ihrem Mann, der 562 nach Korea in den Krieg zog, beim Abschied so lange nachwinkte, bis sie sich in Stein verwandelte.
Werk von Utagawa Hiroshige. Edo-Zeit. The British Museum.

Die Lokalchronik Hizen fudoki [Hizen fudoki (jap.) 肥前風土記 auch Hizen no kuni fudoki, Lokalchronik (fudoki) aus Hizen (N-Kyūshū), wahrsch. 8. Jh.] enthält anstelle der Steinverwandlung eine interessantere Variante des traurigen Abschieds: Kurze Zeit nach der Trennung erscheint der Mann wieder, verbringt mehrmals die Nacht mit seiner Frau, verschwindet aber bei Tagesanbruch. Als die Frau zusammen mit einer Dienerin den Mann verfolgt, findet sie ihn am Meeresstrand in Gestalt einer Schlange. Die Dienerin holte Hilfe, doch man findet schlussendlich nur noch ein paar Knochenreste an dem Ort, wo man das vermeintliche Ehepaar zuletzt gesehen hatte.23

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8 Sayohime rezitiert ein Sutra für die Schlange
Matsura Sayohime rezitiert auf dem Opferplatz das Lotos-Sutra für die Schlangengottheit. In dieser Version wird die Schlange von einem Helden getötet.
Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō.

Während die Figur der winkenden Sayohime bis heute in Kyūshū verwurzelt ist, löste sich die Schlangenlegende von der Region Matsura und verband sich mit verschiedenen lokalen Wasserheiligtümern, u.a. mit der Insel Chikubushima [Chikubushima (jap.) 竹生島 kleine Insel im nördlichen Biwa-See in Nagahama, Präf. Shiga] im Biwa-See, aber auch mit zahlreichen Seen in Nord-Japan. An die Stelle der ehelichen Trennung trat die Trennung von Eltern und Kind. Ende des japanischen Mittelalters enthielt die Legende der Matsura Sayohime die folgenden Elemente:

  • Ein junges Mädchen verkauft sich selbst, um eine Seelenmesse für ihren verstorbenen Vater zu finanzieren.
  • Sie soll als Opfer (ikenie [ikenie (jap.) 生贄 wtl. Lebensopfer; wird heute zumeist für Pferde verwendet, die in Schreinen gehalten werden; in zahlreichen Legenden aber auch Terminus für Menschenopfer])24 einer bösen Riesenschlange dienen.
  • Kraft der Tugend des Mädchens und des Lotos Sutras wird die Schlange aus ihrem Dasein erlöst und verschont das Mädchen.25
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9 Sayohimes Ritt auf der Schlange
Matsura Sayohime, wird von einer Schlangengottheit, die sie zum Buddhismus bekehrt hat, auf wundersame Weise durch ganz Japan transportiert. Die Legende wurde in der vorliegenden Version wahrscheinlich in der Muromachi-Zeit verschriftlicht, ist aber in der Heian-Zeit, also in grauer Vorzeit, angesiedelt.
Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze.

In einer sehr ausführlichen Variante dieser Legende26 gibt es am Ende eine interessante Pointe: Sayohime erlöst die Riesenschlange, indem sie ihr eine Stelle aus dem Lotos Sutra vorliest, die besagt, dass einst die Tochter des Drachenkönigs Buddhaschaft erlangte.27 Die Schlange verwandelt sich darauf in ein junges Mädchen und erzählt, dass sie ihren Schlangenleib erhielt, als die Menschen des Dorfes sie einst als Menschenopfer (hitobashira) für den Bau einer Brücke im Wasser versenkten. Aus Hass verwandelte sie sich nach ihrem Tod in eine Schlange, um sich an den Dorfbewohnern zu rächen. Schlussendlich nimmt das Schlangenmädchen noch einmal ihre Tiergestalt an, um Sayohime – die gleich Kannon auf ihrem Kopf reitet – zurück in die Heimat zu bringen und steigt schließlich als Drache in den Himmel auf.

In einer weiteren Variante aus der Edo-Zeit, die weniger stark buddhistisch gefärbt ist, ist es die kindliche Pietät einer gewissen Atsuta no Enneme [Atsuta no Enneme (jap.) 熱田縁采女 auch En’uneme; Heldin einer Edo-zeitlichen Schlangenlegende] und das Erbarmen der Schreingottheit von Atsuta [Atsuta Jingū (jap.) 熱田神宮 wichtigster und ältester Schrein in Nagoya], die dem Tun der Schlange ein Ende bereiten, doch die Struktur der Handlung bleibt die gleiche.28

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10 Atsuta no Enneme in Vorbereitung auf ihr Selbstopfer
Die tugendhafte En-Uneme bereitet sich mit einem shintōistischen Papieropferstab (gohei) auf die Begegnung mit einer bösen Schlangengottheit vor. Das Bild entstammt einer Legende, die Anfang der Edo-Zeit unter dem Titel „Enneme aus Atsuta“ von Asai Ryōi Asai Ryōi (1612–1691) verschriftlicht wurde. Die Legende berichtet von einem Waisenkind aus der Gegend des Atsuta Schreins (heute Nagoya), das in ärmlichen Verhältnissen bei einer Tante aufwächst und sich grämt, kein Grab für die Eltern errichten zu können. Sie verkauft sich einem Menschenhändler, um in einer Nachbarprovinz einer Schlangengottheit als Lebendopfer (ikenie) vorgeworfen zu werden, und gibt das Geld der Tante, um damit ein Grab für die Eltern zu finanzieren. Die Gottheit von Atsuta interveniert im letzten Moment und tötet die Schlange. Der eingeschriebene Text erzählt dies in folgenden Worten:
Atsuta no En-Uneme
Als Tochter aus namhaftem Haus verlor sie früh ihre Eltern. In ihrem 15. Jahr hörte sie, dass ein tugendhaftes Mädchen von 15 Jahren gesucht wird, um als Lebendopfer einer Riesenschlange aus Ashihara in der Provinz Suruga vorgeworfen zu werden. Selbst ohne Zukunft, verkaufte sie sich als Lebendopfer. Kraft ihrer Kindesliebe erhielt sie den Schutz der Kami und Buddhas. Diese töteten die Schlange und ließen sie zum Himmel emporsteigen. Fürwahr, dies ist die Kraft kindlicher Pietät.
(Moderne Version der Legende: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2201370)
Werk von Utagawa Kuniyoshi. Edo-Zeit, 1842/43. Museum of Fine Arts, Boston.
Utagawa Kuniyoshi, 1842

Vorlage:Sidebox3 Eine weitere Parallelgeschichte, die möglicherweise für die buddhistische Ausschmückung der Sayohime zum Vorbild genommen wurde, erzählt vom indischen Knaben Hōmyō Dōji [Hōmyō Dōji (jap.) 法妙童子 wtl. Knabe des Wunderbaren Dharma; Held einer in Indien angesiedelten buddhistischen Legende aus dem japanischen Mittelalter], der sich ebenfalls zum Wohl eines verstorbenen Elternteils (in diesem Fall die Mutter) als Schlangenopfer verkauft. Schlussendlich greift hier Amida [Amida (jap.) 阿弥陀 Buddha Amitabha; Hauptbuddha der Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū bzw. Jōdo Shinshū)] rettend ein (was Rückschlüsse auf Verbindungen zum Jōdo [Jōdo-shū (jap.) 浄土宗 Schule des Amida-Buddhismus]-Buddhismus zulässt), alles in allem entspricht die Handlung aber trotz der vertauschten Geschlechterrollen ziemlich genau dem Sayohime-Plot.

Im Vergleich mit der ursprünglichen Version aus dem Hizen fudoki verschiebt sich die Thematik von einer Liebesgeschichte zu einer Geschichte kindlicher Ergebenheit, in der vor allem zwei Motive auffallen: Selbstverkauf an Menschenhändler zum Wohle der Eltern und ein religiöses Menschenopfer für eine Schlange. Diese Verschiebung ist möglicherweise unter dem Einfluss einer chinesischen Legende, die seit Beginn der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit in Japan bekannt gewesen sein dürfte, erfolgt. Es handelt sich um die Geschichte der Li Ji [Li Ji (chin.) 李寄 schlangentötende Heldin aus der Geschichtensammlung Soushenji 搜神記 („Geistersuche“, 4. Jh.) von Gan Bao 干寶.] aus dem 4. Jahrhundert.,29 in der sowohl der Selbstverkauf als auch das Schlangenopfer vorkommen. Allerdings handelt es sich um eine reine Gespenstergeschichte, in der die Heldin die Schlange schlussendlich mithilfe eines Hundes und eines Schwerts zur Strecke bringt.

Das Motiv der Schlange, die nicht getötet wird, sondern ihr tierisches Dasein aus eigenem Antrieb beendet, findet sich wiederum im Konjaku monogatari [Konjaku monogatari (jap.) 今昔物語 „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext] aus der späten Heian-Zeit. Hier ist nicht von Menschopfern die Rede, sondern lediglich von einem Mann, der sich aus nicht genannten Umständen in eine menschenfressende Schlange verwandelt hat. Als ein Mönch, den der Schlangenmann als Opfer auserkoren hat, allerdings das Lotos Sutra rezitiert, verwandelt er sich wieder in seine menschliche Gestalt, bereut seine Taten und der Spuk hat ein Ende.30 Hier fehlt also auch der starke Bezug zwischen Schlangen und Frauen, aber das Motiv der reinen Frömmigkeit, die dämonische Schlangen ohne jede Anwendung von Gewalt überwindet und so die Überlegenheit des Buddhismus demonstriert, ist hier deutlich präsent. Die religiöse Deutung des Schlangen-Motivs hängt wohl auch damit zusammen, dass die Legende von verschiedenen religiösen Institutionen aufgegriffen und durch religiöse Prediger wie biwa hōshi [biwa hōshi (jap.) 琵琶法師 Spieler der Biwa-Laute in vormoderner Zeit, in der Regel blinde Mönche] oder goze [goze (jap.) 瞽女 blinde Musikerinnen, die sich zu Gilden zusammen schlossen und einen eigenen Rezitationsstil pflegten; bis ins 20. Jh. verbreitet] verbreitet wurde.

Dass Eltern aus materieller Not ihre Töchter — zumeist an Freudenviertel — verkauften, ist jedenfalls nicht nur aus China, sondern auch aus dem vormodernen Japan bekannt. Dass es dabei zur Opferung von Mädchen kam, liegt hingegen nicht auf der Hand. Schließlich erzählen die Geschichten von Sayohime oder anderen Heldinnen ja stets vom Ende der die Menschenopferpraxis. Es liegt daher nahe, die Sayohime-Geschichte als narrative Verarbeitung des Verkaufs eigener Kinder zu interpretieren. Ähnlich wie im Märchen von Hänsel und Gretel wird das Tun der Eltern in keiner Variante des Sayohime-Motivs grundsätzlich in Frage gestellt. In der stets betonten kindlichen Pietät Sayohimes lässt sich sogar eine unterschwellige Rechtfertigung des elterlichen Tuns erkennen. Das Opfermotiv dient hingegen der Heroisierung der Heldin und kulminiert in der buddhistischen Erlösung der Schlange. Als Ritualisten werden in der ausführlichen Sayohime-Legende im übrigen explizit Schreinpriester (kannushi [kannushi (jap.) 神主 Shintō-Priester; wtl. „Meister der Götter“]) genannt und auch die Illustrationen erinnern an shintōistische Opferriten. Die Geschichte enthält somit einen Hinweis, dass aufrichtige buddhistische Praxis den konventionellen Riten für die kami-Gottheiten überlegen sei.

Zusammenfassung

Es gibt keine eindeutigen Hinweise, dass irgend eine bekannte religiöse Institution in historisch gut dokumentierter Zeit je ein Menschenopfer vorgeschrieben hätte. Auf der Ebene regelmäßiger, von höchster Stelle autorisierter Rituale scheinen Menschenopfer, so es sie überhaupt je gab, irgendwann zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert abgeschafft worden zu sein. Ähnliche Entwicklungen beobachtet man auch in China, wo bereits im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eine Ächtung von Menschenopfern einsetzte. Der Buddhismus bewirkte außerdem eine Abkehr von der rituellen Opferung von Tieren.

Doch wird die Erinnerung an grausame (Selbst)-Opfer selbst im Buddhismus lebendig erhalten, und sei es nur durch Erzählungen wie die erwähnte Episode des Medizin-Königs, die Selbstopferungen zwar hinter andere Praktiken reihen, den Protagonisten solcher Opfer in ihrer ausführlichen Schilderung aber doch auch Bewunderung zollen. Dies führte in China und Japan immer wieder zu „Nachahmungstätern“, die ihre Selbstmorde bisweilen öffentlich inszenierten. Ein wichtiger Unterschied zu Selbstopfern im christlichen und islamischen Kontext scheint jedoch darin zu liegen, dass buddhistischen Beispielen nur selten ein märtyrerhafter Beigeschmack anhaftet. Eher ging es darum, ähnlich wie die Krieger, durch die Art des gewählten Freitods Respekt zu generieren oder einfach schneller die Gnade der „Hinübergeburt“ in ein buddhistisches Paradies zu erfahren.

Die Notwendigkeit blutiger Opferungen als Kompensationsleistung an die Götter scheint unter buddhistischer Deutungshoheit nicht ganz aus der Welt geschafft worden zu sein. Vor allem von Schlangengottheiten, die eine tiefsitzende Verbindung zum Wasser haben und u.a. das für die Landwirtschaft elementare Element des Regens steuerten, erwartete man sich die positive Aufnahme von blutigen Opfern jeglicher Art. Hier mag das generelle Tabu von Blutopfern möglicherweise den Effekt gehabt haben, dass Tiere zwar weitgehend verschont blieben, vereinzelt jedoch Menschen – in der Regel junge Frauen — rituell getötet wurden. Besonders in der japanischen Volkskunde sind die Meinungen bis heute geteilt, ob die vielen Legenden zu diesem Thema nur der Abschreckung dienten oder doch von der realen Existenz ritueller Menschenopfer im historischen Japan zeugen.

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11 Ikenie (Lebendopfer) bei Hokusai
Inmitten einer Anzahl von Skizzen, assoziiert mit dem Buchstaben „i“ findet sich bei Hokusai auch das Wort ikenie (Lebendopfer), das Hokusai als blutiges Opfer einer jungen Frau durch einen Shintō-Priester imaginiert.
Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit. British Museum.

Verweise

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Fußnoten

  1. Heestermann 1984, S. 119.
  2. Heestermann (1984) sieht darin die Reste einer ursprünglichen Kriegerkultur, aus der sich das Brahmanentum entwickelte.
  3. Seyock 2004: 58
  4. Nihon shoki, Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 178–181.
  5. Nihon shoki, Buch 24; Aston 1972, Teil 2, S. 174–175.
  6. Naumann 1959, S. 190. Auch die bereits zitierten Gesetze für Mönche und Nonnen legen fest, dass bei buddhistischen Zeremonien keine Sklaven, Sklavinnen, Rinder, Pferde oder Waffen als Opfergaben (fuse 布施) dargebracht werden dürfen (Sōniryō 7/26, Dettmer 2010, S. 27).
  7. Jātaka 316, nach Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten (2021/10/01).
  8. Zusammengefasst nach Deeg 2009, S. 290–98
  9. Nichigatsu Jōmyō Toku Nyorai 日月浄明徳如来, wtl. „Buddha, dessen Tugend rein ist wie das Licht von Sonne und Mond“
  10. Issaishujō Kiken Bosatsu 一切衆生憙見菩薩, „Bodhisattva, dessen Anblick alle Lebewesen erfreut“
  11. Benn 2012, S. 203–204.
  12. Benn 2012, S. 207.
  13. Übersetzung nach SAT, T 1484.24.1009a20-22, S.a. Faure 1996, S. 207.
  14. Sōni-ryō 7/27 (nach Dettmer 2010, S. 27); die Schlüsselbegriffe lauten funshin 焚身 (Verbrennen des Körpers) shashin 捨身 (Fortwerfen des Körpers).
  15. Shoku Nihongi, 717/4/23; Augustine 2005, S. 47.
  16. Nihon ryōiki, Bd. 3, Erzählung 1. Siehe Nihon Ryo-Wiki.
  17. Nihon ryōiki, Bd. 3, Erzählung 38. Siehe Nihon Ryo-Wiki. Ü.: B. Scheid, Ph. Hofwimmer
  18. Mace 2012.
  19. Kleine 2003.
  20. Siehe dazu Moerman 2005, Kap. 3, „Mortuary Practices“.
  21. Nihon shoki, Buch 11; Aston 1972, Teil 1, S. 281.
  22. Laut anderen Versionen des Heike monogatari wurden Menschenopfer bei dieser Gelegenheit erwogen, aber schließlich durch Sutren-Rezitate ersetzt (Triplett 2004, S. 35–36; Bialock 2001, S. 282).
  23. S. dazu Triplett 2004, S. 191–202; Aoki 1997, S. 260–261; s.a. Kamigraphie, „Hizen fudoki“ und „Schlangen“.
  24. Dieser Terminus scheint im Mittelalter stark mit Menschenopferlegenden verbunden gewesen zu sein, obwohl er auch für Tiere verwendet werden kann und nicht notwendigerweise eine Tötung impliziert. Es gibt jedenfalls auch ein Nō-Stück dieses Titels, das von einem letztlich nicht vollzogenen Opfer eines jungen Mädchens für die Berggottheit des Fuji erzählt.
  25. Nach Triplett 2004, S. 50.
  26. Sayohime in Form eines illuminierten handgeschriebenen Buchs (Nara ehon) aus dem Museum Angewandter Kunst Frankfurt, Ü.: Triplett 2004, S. 65–125.
  27. Es handelt sich um das Devadatta-Kapitel, das 12. Kapitel des Lotos Sutras. (Vgl. Deeg, S. 196–202.)
  28. Die Legende steht wahrscheinliche auch mit einem Nō-Stück namens Uneme in Verbindung, in dem sich die Protagonistin gleichen Namens aus enttäuschter Liebe in einem Teich ertränkt.
  29. Triplett 2004, S. 206. Für eine Übersetzung der Geschichte s. Robin Wang (Hg.), Images of Women in Chinese Thought and Culture: Writings from the Pre-Qin Period Through the Song Dynasty. Hackett Publishing, 2003, S. 205–206.
  30. Konjaku monogatari 13/17, zitiert nach Kōriyama et al. 2015:49–50.

Literatur

Siehe auch Literaturliste

Michiko Aoki (Ü.), Records of Wind and Earth: A Translation of Fudoki with Introduction and Commentaries. Ann Arbor, Mich.: Association for Asian Studies, 1997.
William George Aston (Ü.), Nihongi: Chronicles of Japan from the Earliest Times to A.D. 697. Rutland, Vt: Tuttle, 1972. (Online.) [Erste Ausgabe: London 1896.]
Jonathan Morris Augustine, Buddhist Hagiography in Early Japan: Images of Compassion in the Gyōki Tradition. London, New York: Routledge, 2005.
James Benn, „Multiple Meanings of Buddhist Self-Immolation in China: A Historical Perspective“. Revue d´Etudes Tibétaines 25 (2012), 203–212.
Max Deeg (Ü.), Das Lotos Sutra. Darmstadt: WBG, 2009. [2. korrigierte Auflage.]
Hans Adalbert Dettmer (Ü.), Der Yōrō-Kodex: Die Gebote (Band 2). Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. [Übersetzung des Ryō no gige, Teil 2, Bücher 2-10.]
Bernard Faure, Visions of Power: Imagining Medieval Japanese Buddhism. Princeton: Princeton University Press, 1996. [Übersetzung aus dem Französischen von Phyllis Brooks.]
Johannes C. Heesterman, „Non-violence and sacrifice“. Indologica Taurinensia 12 (1984), 223–44.
Christoph Kleine, „Sterben für den Buddha, Sterben wie der Buddha: Zu Praxis und Begründung ritueller Suizide im ostasiatischen Buddhismus“. Zeitschrift für Religionswissenschaft 11 (2003), 3–43.
Naoshi Koriyama, Bruce Allen (Ü.), Japanese Tales from Times Past: Stories of Fantasy and Folklore from the Konjaku Monogatari Shu. Tokyo: Tuttle, 2015.
François Macé, „Immolations in Japan“. Revue d’Etudes Tibétaines 25 (2012), 191–201.
Max Moerman, Localizing Paradise: Kumano Pilgrimage and the Religious Landscape of Premodern Japan. Cambridge (MA): Harvard University Press, 2005.
Nelly Naumann, „Das Pferd in Sage und Brauchtum Japans“. Folklore Studies 18 (1959), 145–287. [Artikel beruht auf Naumanns Dissertation, Wien 1946.]
Barbara Seyock, Auf den Spuren der Ostbarbaren: Zur Archäologie protohistorischer Kulturen in Südkorea und Westjapan. Münster: Lit Verlag, 2004.
Katja Triplett, Menschenopfer und Selbstopfer in den japanischen Legenden: Das Frankfurter Manuskript der Matsura Sayohime-Legende. Münster: Lit, 2004.

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite

  1. ^ 
    Sayohime 1.jpg
    Matsura Sayohime, die sich selbst einem Menschenhändler verkauft hat, wird einer Schlangengottheit als Opfer dargebracht. Durch Rezitation des Lotos Sutras wird die Schlange bekehrt und das Mädchen gerettet. Die Legende wurde in der vorliegenden Version wahrscheinlich in der Muromachi-Zeit verschriftlicht, ist aber in der Heian-Zeit, also in grauer Vorzeit, angesiedelt.
    Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze.
  2. ^ 
    Haniwa mukade.jpg
    Die vier haniwa-Figuren stammen aus einem Hügelgrab in Kyūshū, dem Mukadezuke, das in der späten Kofun-Zeit errichtet wurde. Die beiden Figuren im Vordergrund tragen wahrscheinlich buddhistische Stolen (kesa), die Figur mit dem Hut dürfte ein Mann sein. Die Figuren wurden an der Außenseite der Hügelgräber in Reihen nebeneinander aufgestellt.
    Kofun-Zeit, 6. Jh. Japanese Archaeological Association, 2006.
  3. ^ 
    Yakuo.jpg
    Der selten dargestellte Yakuō Bosatsu tritt im Kōfuku-ji zusammen mit seinem „Bruder“, Yakujō Bosatsu, auf.
    Kamakura-Zeit, 1202. Bildquelle: Kurokawa Takao.
  4. ^ 
    Kumano nachi mandara.jpg
    Unter einem großen torii vollziehen buddhistische Mönche einen Ritus. Davor sieht man ein Schiff, das ebenfalls mit torii bestückt ist, doch auf dem Segel steht „Ehre dem Buddha Amida“ namu amida butsu. Die Szene ist ein Ausschnitt eines Schrein-Mandalas, auf dem die Umgebung des Nachi Schreins in Kumano dargestellt ist. Der Ort war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auch dafür berühmt, dass sich Amida-Gläubige in Boote aussetzen ließen, um von hier Fudaraku, das Reine Land von Amidas Begleiter Kannon Bosatsu, zu erreichen, das man südlich der Halbinsel von Kumano wähnte. Das Boot mit den torii ist für diese Fahrt ins Ungewisse gedacht. Die Praktikanten ließen sich in einer Art Hütte an Bord einsperren und hofften, dass ihnen die Wiedergeburt in Kannons Paradies sicher wäre, wenn sie auf diese Weise den Tod finden würden. (S.a. Religiöse Selbstmorde.)
    Frühe Edo-Zeit. Kokugakuin University Library.
  5. ^ 
    Seppuku namazu.jpg
    Der Erdbeben-Wels (namazu), der das Erdbeben von 1855 hervorgerufen hat, ist von einem Pfeil des Gottes Kashima Daimyōjin getroffen worden und begeht Selbstmord durch seppuku (harakiri). Im Hintergrund, unterhalb des Gottes, sind links die verstorbenen Opfer des Bebens, rechts die Geschädigten (Großhändler, Daimyōs, etc.) zu sehen. Aus dem Bauch des Welses strömt Geld (das offenbar den Armen zugute kommt).
    Edo-Zeit, 1855. Bildquelle: Miyata Noboru, Takada Mamoru, Namazue: Shinsai to Nihon bunka. Tokyo: Ribun Shuppan, 1995, S. 9.
  6. ^ 
    Susanoo yoshitoshi.jpg
    Susanoo rettet Prinzessin Kushinada vor der Schlange Yamata no Orochi, die hier ausnahmsweise als Schlange mit einem Kopf dargestellt ist. Kushinada-hime scheint sich mit Hilfe shintoistischer Rituale selbst schützen zu wollen.
    Werk von Tsukioka Yoshitoshi (1839–1892). Spätere Edo-Zeit. Bildquelle: unbekannt.
  1. ^ 
    Sayohime hiroshige.jpg
    Das Bild zeigt die u.a. im Manyōshū besungene Legende der Sayohime aus Kyūshū, die ihrem Mann, der 562 nach Korea in den Krieg zog, beim Abschied so lange nachwinkte, bis sie sich in Stein verwandelte.
    Werk von Utagawa Hiroshige. Edo-Zeit. The British Museum.
  2. ^ 
    Sayohime.jpg
    Matsura Sayohime rezitiert auf dem Opferplatz das Lotos-Sutra für die Schlangengottheit. In dieser Version wird die Schlange von einem Helden getötet.
    Edo-Zeit. National Diet Library, Tōkyō.
  3. ^ 
    Sayohime 2.jpg
    Matsura Sayohime, wird von einer Schlangengottheit, die sie zum Buddhismus bekehrt hat, auf wundersame Weise durch ganz Japan transportiert. Die Legende wurde in der vorliegenden Version wahrscheinlich in der Muromachi-Zeit verschriftlicht, ist aber in der Heian-Zeit, also in grauer Vorzeit, angesiedelt.
    Edo-Zeit, 17. Jh. Museum Angewandte Kunst Frankfurt, Foto: Ute Kunze.
  4. ^ 
    Uneme.jpg
    Die tugendhafte En-Uneme bereitet sich mit einem shintōistischen Papieropferstab (gohei) auf die Begegnung mit einer bösen Schlangengottheit vor. Das Bild entstammt einer Legende, die Anfang der Edo-Zeit unter dem Titel „Enneme aus Atsuta“ von Asai Ryōi Asai Ryōi (1612–1691) verschriftlicht wurde. Die Legende berichtet von einem Waisenkind aus der Gegend des Atsuta Schreins (heute Nagoya), das in ärmlichen Verhältnissen bei einer Tante aufwächst und sich grämt, kein Grab für die Eltern errichten zu können. Sie verkauft sich einem Menschenhändler, um in einer Nachbarprovinz einer Schlangengottheit als Lebendopfer (ikenie) vorgeworfen zu werden, und gibt das Geld der Tante, um damit ein Grab für die Eltern zu finanzieren. Die Gottheit von Atsuta interveniert im letzten Moment und tötet die Schlange. Der eingeschriebene Text erzählt dies in folgenden Worten:
    Atsuta no En-Uneme
    Als Tochter aus namhaftem Haus verlor sie früh ihre Eltern. In ihrem 15. Jahr hörte sie, dass ein tugendhaftes Mädchen von 15 Jahren gesucht wird, um als Lebendopfer einer Riesenschlange aus Ashihara in der Provinz Suruga vorgeworfen zu werden. Selbst ohne Zukunft, verkaufte sie sich als Lebendopfer. Kraft ihrer Kindesliebe erhielt sie den Schutz der Kami und Buddhas. Diese töteten die Schlange und ließen sie zum Himmel emporsteigen. Fürwahr, dies ist die Kraft kindlicher Pietät.

    (Moderne Version der Legende: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2201370)
    Werk von Utagawa Kuniyoshi. Edo-Zeit, 1842/43. Museum of Fine Arts, Boston.

  5. ^ 
    Ikenie hokusai.jpg
    Inmitten einer Anzahl von Skizzen, assoziiert mit dem Buchstaben „i“ findet sich bei Hokusai auch das Wort ikenie (Lebendopfer), das Hokusai als blutiges Opfer einer jungen Frau durch einen Shintō-Priester imaginiert.
    Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit. British Museum.

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • Amida 阿弥陀 ^ Buddha Amitabha; Hauptbuddha der Schulen des Reinen Landes (Jōdo-shū bzw. Jōdo Shinshū)
  • Atsuta Jingū 熱田神宮 ^ wichtigster und ältester Schrein in Nagoya
  • Atsuta no Enneme 熱田縁采女 ^ auch En’uneme; Heldin einer Edo-zeitlichen Schlangenlegende
  • Benn, James (west.) ^ Sinologe und Religionshistoriker des Buddhism an der McMaster University, Kanada
  • biwa hōshi 琵琶法師 ^ Spieler der Biwa-Laute in vormoderner Zeit, in der Regel blinde Mönche
  • Bonmō-kyō 梵網經 ^ Brahma-Netz Sūtra; nur in chin. Version (406) bekannt; gilt als apokrypher Text, der aber wichtig zur Standardisierung der buddhistischen Gebote (Vinaya) in Ostasien war
  • brāhmaṇa (skt.) ब्राह्मण ^ Angehöriger der obersten indischen Priesterkaste; Brahmane, Brahmin (jap. baramon 婆羅門)
  • Chikubushima 竹生島 ^ kleine Insel im nördlichen Biwa-See in Nagahama, Präf. Shiga
  • Dainihonkoku hokke genki 大日本国法華験記 ^ „Berichte von den Wundern des Lotos Sutras im Großen Reich Japan“; buddh. Legendensammlung (setsuwa) von Chingen 鎮源, 11. Jh.; behandelt in erster Linie Hagiographien
  • dentō 伝燈 ^ Mönchstitel, wtl. „Übertragen der Lampe“; Weiterführen der Lehre [eines buddhistischen Meisters]; wurde 860 zu einem Ehrentitel in vier (später fünf) Abstufungen; implizierte eine Auszeichnung für Mönche außerhalb der staatlichen Mönchsverwaltung (sōgō), die sich um die Ausbreitung der buddhistischen Lehre verdient gemacht hatten
  • Edo 江戸 ^ Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);
  • Fudaraku 補陀落 ^ paradisische Insel des Kannon (Avalokiteshvara), abgeleitet von skt. Potalaka
  • Fudaraku tokai 補陀落渡海 ^ „Überfahrt nach Fudaraku“ (Paradies des Bodhisattva Kannon); buddhistische Form des rituellen Selbstmords
  • Gaoseng zhuan (chin.) 高僧伝 ^ Überlieferungen ehrwürdiger Mönche; Sammlung von etwa 500 Biographien (die Hälfte ausführlich, andere kürzer) von Huijiao (519 u.Z.); alle Biographien handeln von chinesischen Mönchen zwischen 57 und 519 u.Z.
  • Genpei jōsuiki 源平盛衰記 ^ auch Genpei seisuiki; „Aufstieg und Fall der Minamoto und der Taira“; Kriegerepos, erweiterte (späte) Version des Heike monogatari, 13.–14. Jh.
  • goze 瞽女 ^ blinde Musikerinnen, die sich zu Gilden zusammen schlossen und einen eigenen Rezitationsstil pflegten; bis ins 20. Jh. verbreitet
  • Gyōki 行基 ^ 668–749; Nara-zeitlicher Mönch, Popularisierer des Buddhismus
  • haniwa 埴輪 ^ frühgeschichtliche Grabbeigaben aus Ton, meist in Form einfacher Skulpturen
  • Heian 平安 ^ auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)
  • Heike monogatari 平家物語 ^ „Geschichte der Heike [= Taira]“; mittelalterliches Kriegerepos
  • Himiko 卑弥呼 ^ ca. 170–248; frühgeschichtliche Priesterkönigin; auch Pimiko (wahrscheinliche Bedeutung: „Kind der Sonne“); chin. Pei-mi-hu
  • Hirefuri no mine 褶振峯 ^ „Hügel des Schalwinkens“; Ort wo Matsura Sayohime sich von ihrem nach Korea segelnden Mann verabschiedet haben soll, bis sie sich in Stein verwandelte
  • hitobashira 人柱 ^ wtl. menschlicher Pfeiler; Menschenopfer bei Damm- oder Brückenbauten
  • Hizen fudoki 肥前風土記 ^ auch Hizen no kuni fudoki, Lokalchronik (fudoki) aus Hizen (N-Kyūshū), wahrsch. 8. Jh.
  • Hōmyō Dōji 法妙童子 ^ wtl. Knabe des Wunderbaren Dharma; Held einer in Indien angesiedelten buddhistischen Legende aus dem japanischen Mittelalter
  • ikenie 生贄 ^ wtl. Lebensopfer; wird heute zumeist für Pferde verwendet, die in Schreinen gehalten werden; in zahlreichen Legenden aber auch Terminus für Menschenopfer
  • Izumo 出雲 ^ alter Namen der Präfektur Shimane in West-Japan; auch kurz für Izumo Taisha
  • Jātaka (skt.) जातक ^ „Wiedergeburtsgeschichte“, Heiligenlegende des Buddha (jap. Honjōtan 本生譚 oder Honjōkyō 本生経)
  • Jōdo-shū 浄土宗 ^ Schule des Amida-Buddhismus
  • Kamakura 鎌倉 ^ Stadt im Süden der Kantō Ebene, Sitz des Minamoto Shōgunats 1185–1333 (= Kamakura-Zeit)
  • kami^ Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō
  • kamikaze 神風 ^ Götterwind; urspr. ein poetischer Beinamen der Provinz Ise, wird der Begriff seit den Mongolenangriffen des 13. Jh.s mit göttlichem Schutz im Krieg assoziiert und daher auch mit den Selbstmord-Piloten des 2. Weltkriegs in Verbindung gebracht
  • Kannon 観音 ^ auch Kanzeon 観世音, wtl. der den Klang der Welt erhört; skt. Avalokiteśvara; chin. Guanyin; als Bodhisattva des Mitleids bekannt
  • kannushi 神主 ^ Shintō-Priester; wtl. „Meister der Götter“
  • Kii Hantō 紀伊半島 ^ Halbinsel Kii, Wakayama-ken
  • Konjaku monogatari 今昔物語 ^ „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ (12. Jh.); umfangreiche Sammlung von Geschichten und Anekdoten, meist aus einem buddhistischen Kontext
  • Kumano 熊野 ^ Region im Süden der Halbinsel Kii (Wakayama-ken), bekannt für ihre alten Pilgerzentren (s. Kumano Sanzan)
  • kuyō 供養 ^ Opfer(ritus), Spende; auch: Totenritual
  • Kyōkai 景戒 ^ buddhistischer Mönch des Yakushi-ji 薬師寺 (ein Tempel der Hossō-Schule) zur Nara-Zeit
  • Li Ji (chin.) 李寄 ^ schlangentötende Heldin aus der Geschichtensammlung Soushenji 搜神記 („Geistersuche“, 4. Jh.) von Gan Bao 干寶.
  • Mahāyāna (skt.) महायान ^ „Großes Fahrzeug“, buddhistische Richtung (jap. daijō bukkyō 大乗)
  • Manyōshū 萬葉集/万葉集 ^ 759?; die älteste japanische Gedichtesammlung; wtl. Sammlung der zehntausend Blätter;
  • Matsura 松浦 ^ alter Regionalbezirk in Nord-Kyūshū, heute Matsuura; auch Familienname dortiger Fürsten
  • Matsura Sayohime 松浦佐用姫 ^ legendäre Figur eines jungen Mädchens, das als Menschenopfer für eine Schlangengottheit ausersehen ist, diese aber Kraft ihrer Tugend aus dem Schlangendasein erlöst
  • Mujū Ichien 無住一円 ^ 1226–1312; buddh. Mönch und Autor essayistischer und anekdotischer Werke
  • Nara 奈良 ^ Hauptstadt und Sitz des Tennō, 710–784 (= Nara-Zeit); auch: Heijō-kyō
  • Nihon ryōiki 日本霊異記 ^ „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)
  • Nihon shoki 日本書紀 ^ Zweitältestes Schriftwerk und erste offizielle Reichschronik Japans (720)
  • Nintoku Tennō 仁徳天皇 ^ eig. Ōsazaki; semi-historischer Tennō der Frühzeit, der als Inbegriff des weisen, gerechten Herrschers gilt
  • Nirvāṇa (skt.) निर्वाण ^ „Erloschen, ausgelöscht“, Ort der Erlösung von allem Leid, absolutes Jenseits (jap. Nehan 涅槃)
  • Ōshō 応照 ^ Asket der Heian-Zeit; bekannt durch Selbstverbrennung
  • pūjā (skt.) पूजा ^ „Verehrung“, auch rituelle Opfergabe (jap. kuyō 供養)
  • Saddharma puṇḍarīka sūtra (skt.) सद्धर्मपुण्डरीकसूत्र ^ „Sutra vom weißen Lotos des wunderbaren Dharma“, Lotos Sutra (jap. Myōhō renge kyō 妙法蓮華経 oder Hoke-kyō 法華経)
  • samādhi (skt.) समाधि ^ meditative Versenkung (jap. sanmai 三昧)
  • seppuku 切腹 ^ ritueller Selbstmord durch Bauchschnitt; „Harakiri“
  • setsuwa 説話 ^ Lehrerzählung, didaktische Anekdote; meist von buddh. Mönchen in Form umfangreicher Sammlungen kompiliert
  • Shuten Dōji 酒顛童子 ^ wtl. etwa Sauf-Knabe; berüchtigter Dämon (oni) der Heian-Zeit
  • Sōni-ryō 僧尼令 ^ "Bestimmungen für Mönche und Nonnen"; gesetzliche Bestimmungen über das Verhalten von Mönchen und Nonnen
  • Suinin Tennō 垂仁天皇 ^ 11. kaiserl. Herrscher Japans, leg. Regiergungszeit 29 v.–70 n.u.Z.
  • Susanoo 須佐之男/素戔男 ^ mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu
  • Taiheiki 太平記 ^ Historisches Epos aus dem späten 14. Jh., behandelt den Konflikt zwischen Nördlichem und Südlichem Kaiserhof
  • Taira no Kiyomori 平清盛 ^ 1118–1181; Feldherr und Diktator am Ende der Heian-Zeit; unterlag im Genpei-Krieg den Minamoto
  • Veda (skt.) वेद ^ „Wissen“, älteste indische Textsammlung zur brahmanischen Religion, in Versform; ursp. nur mündlich tradiert
  • Weizhi (chin.) 魏志 ^ Chin. Chronik der Wei Dynastie (220–266) aus dem 3. Jh. u.Z.; enthält die frühesten Berichte über Japan (Wa) (vgl. wo)
  • Yakuō Bosatsu 薬王菩薩 ^ Bodhisattva Medizinkönig; Bodhisattva im Lotos Sutra
  • Yakushi Nyorai 薬師如来 ^ Buddha der Medizin; skt. Bhaisajyaguru
  • Yamato Takeru 倭建/日本武 ^ Mythologischer Prinz, Sohn des Keikō Tennō; wtl. der Held/der Tapfere von Yamato