Die En no Gyōja Legende


Nara National Museum
En no Ozuno, der später den Beinamen En no Gyōja (En, der Asket) erhielt, galt zu Lebzeiten (um 700) wohl noch nicht als der über jeden Zweifel erhabene Heilige und Ordensgründer, als der er später von den Bergasketen (yamabushi) verehrt wurde. In frühen Berichten wird er oft als ubasoku, dh. als nicht offiziell geweihter bzw. selbsternannter buddhistischer Mönch bezeichnet. Das bedeutet, dass er zu Lebzeiten lediglich eine Außenseiterposition innerhalb der buddhistischen Mönchsschaft inne hatte. Auf dieser Seite wird die Legende in verschiedenen Stadien ihrer Entstehung überblicksartig dargestellt.
Früheste Fassungen
En taucht erstmals in der zweiten offiziellen Reichschronik Shoku Nihongi (797) auf und wird dort als E no Kimi Ozunu bezeichnet. Er lebt in der Zeit des Monmu Tennō (r. 697–707) als Einsiedler auf Berg Katsuragi im Südwesten des Nara Beckens und ist für seine magischen Fähigkeiten bekannt. Ein Hofbeamter und Mediziner nimmt eine Zeit lang bei ihm Unterricht, schließlich klagt er aber seinen Meister an, verschwörerische Umtriebe zu planen, worauf En in die Verbannung nach Izu geschickt wird. Soweit die Fakten, die heute als glaubwürdig eingestuft werden. Das Shoku nihongi fügt allerdings noch hinzu, dass En Götter und Dämonen durch magische Sprüche dazu brachte, für ihn Wasser und Feuerholz einzuholen, und sie durch Bannsprüche fesselte, wenn sie ihm nicht gehorchten. Dies deutet darauf hin, dass er eher als Heiliger im Sinne eines daoistischen Unsterblichen denn als erleuchteter Buddhist angesehen werden muss. Seine Verbannung könnte letztlich auf den Umstand zurückzuführen sein, dass man von derartigen selbsternannten „heiligen Männern“, die sich der Kontrolle der Obrigkeiten entziehen, unheilvolle Einflüsse auf die Untertanen des jungen Tennō-Staates befürchtete.
Fast zeitgleich mit dem Shoku Nihongi berichtet die buddhistische Legendensammlung Nihon ryōiki (frühes 9. Jh.) von E no Ubasoku. Hier wird genauer auf die magischen Fähigkeiten des Asketen eingegangen, die zwar stark an daoistische Legenden erinnern, in diesem Text aber seiner Kenntnis bestimmter magischer Formeln aus dem Buddhismus zugeschrieben werden.1
Spätere Ausschmückungen
Aus diesen Anfängen entstand im Laufe der Jahrhunderte eine komplexe Erzählung mit vielfachen Varianten, die folgende Hauptmotive2 beinhaltet:
- En lebt auf dem Berg Katsuragi und durchstreift von dort aus das Bergland von Yoshino und Ōmine (die späteren Zentren der yamabushi).


Bildquelle: Taima-dera, gokuraku jōdo e no akogare (Ausstellungskatalog). Nara National Museum 2013, Abb. 11, S. 45
- Auf Berg Katsuragi hat En eine magische Begegnung mit einem Skelett, das einen vajra fest umklammert hält und sich als Ens eigener Leichnam aus einer früheren Existenz herausstellt. Miroku (Maitreya), der Buddha der Zukunft, offenbart En das „Mantra des Pfauen-Königs (Kujaku Myōō)“, um den Vajra aus der Umklammerung des Skeletts zu lösen. Nebenbei erlernt En damit auch die Kunst des Fliegens.


Metropolitan Museum of Art
- En entdeckt den Berg Kinpusen (Goldgipfel), der eigentlich ein Teil des Geierberges (Grdhrakuta) in Indien ist, wo Buddha Shakyamuni einst das Lotos Sutra predigte, der aber im Jahr 552(!) nach Japan geflogen kam. Auf dem Kinpusen offenbart sich En der furchteinflößende Zaō Gongen (neben Fudō Myōō einer der Hauptgottheiten des Shugendō), den En als persönlichen Schutzgott annimmt.
- En plant mit Hilfe einer lokalen Gottheit seines Heimatberges Katsuragi — Hitokotonushi (wtl. Herr oder Herrin3 des einen Wortes) — eine Brücke vom Katsuragi-Gipfel zum Kinpusen zu bauen. Die Gottheit verweigert ihm allerdings den Gehorsam, worauf En sie mithilfe magischer Sprüche fesselt und tief in einem Bergtal einkerkert. Es gelingt der Gottheit allerdings, En no Gyōja zu verleumden, indem sie sich durch ein Medium am Hof des Tennō Gehör verschafft.
- En wird daraufhin nach Izu, einer Halbinsel nahe des Berges Fuji, verbannt (nachdem seine Mutter in Geiselhaft genommen wurde, um seiner habhaft zu werden). Nach einer Reihe von Wundern wird klar, dass die Verbannung zu Unrecht erfolgte, doch En hat nun mit Japan nichts mehr am Hut und fliegt nach Korea.
- In Korea gibt sich En einem Mönch, der zu Studienzwecken nach China reist, zu erkennen, indem er ihn auf Japanisch anspricht.
- Schließlich erhält En vom großen indischen Mönch Nagarjuna das Wasser der Reinen Erkenntnis und verwandelt sich in ein himmlisches Wesen. Er tritt nur noch vereinzelt in Japan auf, wenn jemand versucht, seinen Gegenspieler Hitokotonushi von den magischen Bannsprüchen zu befreien, mit denen En ihn fesselte.


Princeton University Art Museum
Verweise
Fußnoten
- ↑ Für eine genaue Auseinandersetzung mit dieser Geschichte s. Nihon Ryo-Wiki, Erzählung I-28
- ↑ Zusammengefasst nach En no gyōja Nara ehon in der Übersetzung von Royall Tyler (Tyler 1987)
- ↑ Laut Kennan (1999, S. 347) wird Hitokotonushi in späteren Legenden als weibliche Gottheit ausgewiesen. Auch sonst sind japanische Berggottheiten üblicherweise weiblich.
Internetquellen
- Die Pfauenkönigs-Mantra-Weise übend..., Hermann Bohner
Übersetzung und Materialien der Gyōja-Legende aus dem Nihon Ryōiki, Buch 1, Erzählung 28 (unter Verwendung Bohners Studie aus dem Jahr 1934, für das Internet aufbereitet von Adi Meyerhofer). [Über Internet Archive, 2010/8] - Shugendō Mark Schumacher
Umfangreiche Hintergrundinformationen und Links zu weiteren Quellen.
Literatur
Bilder
Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite:
- ^
Statue des En no Gyōja aus dem 13. Jahrhundert. Werk von Keishun. Kamakura-Zeit, 1286
Nara National Museum - ^
En no Gyōja findet im Ōmine Gebirge ein Skelett, dass einen vajra fest umklammert. Abbildung aus einer illustrierten Ursprungslegende des Taima-dera, der unweit des Berges Katsuragi errichtet wurde, wo En seine spirituelle Basis errichtete. Der Legende nach soll En dem Bau des Tempels ausdrücklich zugestimmt haben. Muromachi Zeit, 1531
Bildquelle: Taima-dera, gokuraku jōdo e no akogare (Ausstellungskatalog). Nara National Museum 2013, Abb. 11, S. 45
- ^
Zaō Gongen ist eine der Hauptgottheiten der yamabushi. Seinem Titel (gongen) nach ist er ein einheimischer kami, er trägt jedoch die Züge eines buddhistischen Myōō. Ursprünglich hielt er wohl einen vajra, also ein buddhistisches Ritualinstrument, in der Hand. Heian-Zeit, 11. Jh.
Metropolitan Museum of Art - ^
Abbildung von En no Gyōja. Werk von Katsushika Hokusai. Edo-Zeit, 1834
Princeton University Art Museum
Glossar
Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite:
- Gṛdhrakūṭa (skt.) गृध्रकूट ^ „Geiergipfel“, indischer Berg bei Rajagrha (Rajgir), auf dem Buddha predigte (jap. Ryōjusen 霊鷲山)
- Nihon ryōiki 日本霊異記 ^ „Wundersame Begebenheiten aus Japan“; buddhistische Legendensammlung von Kyōkai (Anfang 9. Jh.)
- Śākyamuni (skt.) शाक्यमुनि ^ „Der Weise des Shakya-Klans“, buddhistischer Name des historischen Buddha (Gautama Siddhartha) (jap. Shaka 釈迦 oder Shakamuni 釈迦牟尼)
- Shoku Nihongi 続日本紀 ^ 2. offizielle Reichschronik (797), Nachfolger des Nihon shoki (Nihongi), daher der Name „Fortsetzung des Nihongi“
- 一 Grundbegriffe
- 二 Bauten
- 五 Mythen
- Einleitung
- Mythologie:
- Götter des Himmels
- Götter der Erde
- Jenseits:
- Jenseits
- Geister:
- Totengeister
- Tengu
- Oni und kappa
- Tiere:
- Imaginäre Tiere
- Verwandlungskünstler
- Symboltiere
- 六 Geschichte
- Einleitung
- Altertum:
- Prähistorie
- Frühzeit
- Nara-Zeit
- Frühe kami-Kulte
- Heian-Zeit
- Saichō
- Kūkai
- Honji suijaku
- Mittelalter:
- Kamakura-Zeit
- Amidismus
- Zen Buddhismus
- Nichiren Buddhismus
- Mittelalterl. Shintō
- Frühe Neuzeit:
- Reichseinigung
- Christentum
- Inquisition
- Neo-Konfuzianismus
- Kokugaku
- Moderne und Gegenwart:
- Bakumatsu-Zeit
- Staatsshintō
- Neue Religionen
- 七 Denken
- 八 Essays
- Überblick
- Buddhismus, Asien:
- Arhats in China und Japan
- Vajrapani: Der Feldherr des esoterischen Buddhismus
- Bishamon-ten: Wächter und Glücksgott
- Riesen-Buddhas: Im Kampf gegen die Unbeständigkeit des irdischen Daseins
- Lokale Vorstellungen, Japan:
- Jindō und shintō: Zum Begriffsinhalt des ‚Weges der kami‘
- Ōkuninushi als heimlicher Gegenspieler der Himmlischen Götter
- Religiöse Gewalt in Japan: Blutopfer, Selbstopfer, Menschenopfer
- Unterhändler des Imaginären: Regenmachen im vormodernen Japan
- Lieber das Herz in der Hand als die Taube über dem Heer
- Feuer mit Feuer bekämpfen: Der Gehörnte Meister und sein Kult
- Hundert Geschichten: Horrorklassiker aus der Edo-Zeit
- Religion und Politik:
- Die Tenshō-Mission: Beginn einer schwierigen transnationalen Beziehung
- Yasukuni: Der Schrein des ‚friedlichen Landes‘
- Herrigels Zen und das Bogenschießen
- Werkzeuge
- Glossare
- Themenglossar
- Künstler-Glossar
- Ressourcen
- Literatur
- Suche
- Suche
- Feedback
- Anmelden
Diese Seite:
„Die En no Gyōja Legende.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001