Matsuri: Religiöse Volksfeste

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Matsuri Religiöse Volksfeste

Vorlage:WmaxX Vorlage:Fler Begriff matsuri [matsuri (jap.) religiöses (Volks-)Fest] umschreibt im weiteren Sinne alle gemein·schaft·lichen Feste, ein·schließ·lich der landesweiten jahres·zeit·lichen Feiertage (nenjū gyōji [nenjū gyōji (jap.) 年中行事 Jahresfeste]). Im allgemeinen as·so·zi·iert man mit matsuri aber religiöse Feste mit sehr speziel·len lokalen Beson·der·heiten, also regio·nale religi·öse Volks·feste. Obwohl auch Tempel matsuri veranstal·ten können, werden diese Feste typi·scher·weise für kami [kami (jap.) Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō] abgehal·ten, gehen also von Schreinen aus. Bei den meisten matsuri steht eine Prozes·sion im Mittel·punkt und im Mittel·punkt der Prozes·sion steht ein trag·barer Schrein, mikoshi [mikoshi (jap.) 神輿 tragbarer Schrein], in dem die Gottheit des lokalen Schreins vo·rüber·ge·hend ihren Sitz einnimmt. Übli·cher·weise wird also der „Gott·leib“ (shintai [shintai (jap.) 神体 heiliges Objekt eines Shintō-Schreins; wtl. „Gottkörper“]) einer kami-Gottheit im mikoshi zu einem bes·timm·ten Ziel getragen, das man tabisho [tabisho (jap.) 旅所 wtl. „Reiseort“; Ziel einer Prozession mit tragbarem Schrein (mikoshi) bei Schreinfesten], „Reiseort“, nennt. Wie im Haupt·schrein bleibt der shintai auch während dieser „Reise“ verbor·gen. Hinge·gen zieht der trag·bare Schrein mit seinen reichen Ver·zierun·gen alle Blicke auf sich.

Meist wird der mikoshi gleich einer Sänfte von zahl·rei·chen An·hän·gern des Schreins auf den Schul·tern getragen. Rund um den mikoshi werden aller·hand traditionelle Tänze, Wett·kämpfe oder Schau·künste veranstal·tet, deren Varian·ten·reich·tum kaum Grenzen kennt. Oft drängen diese Seiten·aktivi·täten die eigent·liche Pro·zes·sion in den Hin·ter·grund. Aber auch die Formen des trag·baren Schreins und der umher·getra·genen Ver·eh·rungs·ge·gen·stän·de können sehr un·ter·schied·lich sein. Äußerlich ähneln matsuri einer Fron·leich·nams·prozes·sion in katho·lischen Ländern, doch stehen Spek·ta·kel und aus·gelas·sene Fröh·lich·keit unum·wunden im Mittel·punkt der Ver·an·stal·tung.

Beispiel Gion Matsuri

Das Gion Matsuri [Gion Matsuri (jap.) 祇園祭 Gion Fest; größtes matsuri Kyōtos; ursprünglich zur Abwehr zürnender Geister, später zur Besänftigung der Seuchengottheit Gozu Tennō abgehalten] in Kyōto, das den ganzen Juli über gefeiert wird, ist wohl das be·rühm·teste und vom touris·tischen Standpunkt aus spek·takulärste matsuri Japans. Es wird vom Yasaka Schrein [Yasaka Jinja (jap.) 八坂神社 Yasaka Schrein (Kyōto), ehemals als Gion Schrein bezeichnet] ver·an·stal·tet, dem es auch seinen Namen verdankt, denn der Schrein hieß bis zur Meiji [Meiji (jap.) 明治 posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt]-Zeit selbst Gion. Das Gion-Fest ist schon seit der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit belegt und geht auf eine Zeremonie zur Besänftigung zürnen·der Geister (goryō-e [goryō-e (jap.) 御霊会 Zeremonie zur Geisterbesänftigung]) zurück, die erstmals anlässlich einer Seuchen·plage im Jahr 869 abgehal·ten worden war. Die Gottheit, die damals für die Seuche ver·ant·wort·lich gemacht wurde, war Gozu Tennō [Gozu Tennō (jap.) 牛頭天王 „Ochsenköpfiger Himmelskönig“, Seuchengott; wird manchmal mit Susanoo identifiziert] (der „Ochsenköpfige Himmelskönig“), ein indischer Gott, der mit dem Bud·dhis·mus nach Japan gekom·men war. Er wurde aller·dings auch mit Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu], dem ab·trün·nigen Bruder der Son·nen·gott·heit gleich·ge·setzt. Es entspricht der japanischen Religiosität, dass man sich gerade für eine eher unheim·liche, furcht·ein·flößende Gott·heit bemühte, ein be·son·ders buntes, fröh·liches Fest auf die Beine zu stellen.

Prozessionswagen

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Prozessionswagen, Gion-Fest

Höhepunkt des Gion Matsuri ist die Parade der sogenannten dashi [dashi (jap.) 山車 Prozessionswagen bei Schreinfesten] am 16. und 17. Juli. Dashi-Pro·zes·sions·wagen un·ter·teilen sich in zwei Gruppen: (1) yama (wtl. Berge), von denen es ingesamt zwei·und·zwan·zig gibt. Sie ähneln den üblichen mikoshi-Schreinen und werden auf den Schul·tern getragen. (2) hoko (wtl. Lanzen, insgesamt sieben), das sind riesige bunt geschmück·ten Wagen, auf denen Helle·barden in über·dimen·sionaler Form nach·gebil·det sind. Diese Helle·barden sollen schon in der ur·sprüng·lichen Zeremonie zur Abwehr der Seuche eingesetzt worden sein. Yama und hoko dienen beide zugleich als Bühne für diverse Schau·künste und -gegen·stände. Die Ausstat·tung wird von den Bezirks·gemein·den rund um den Yasaka-Schrein übernom·men. Eigentlich handelt es sich nur um das Vorspiel zur Pro·zes·sion des mikoshi, doch dank der beson·deren Aus·gestal·tung der Pro·zes·sions·wagen zieht dieser „Side-Event“ die meiste Auf·merk·sam·keit der Besucher auf sich. Übrigens gibt es in ganz Japan Zweig·schreine des Yasaka Schreins, die ähnliche Pro·zes·sionen veranstalten.

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Gion Fest in der Edo-Zeit (1806)
Prozession der Schauwagen beim Gion Matsuri in Kyōto aus der Edo-Zeit. Die Schauwagen sehen ihren heutigen Nachfahren recht ähnlich, als Datum des Umzugs ist hier jedoch der 7. Tag des 6. Monats angegeben.
Werk von Hayami Shungyōsai (1767–1823). Edo-Zeit. Waseda University Library.

Weitere Beispiele

Nackt-Feste

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Zu den typischen Veranstaltungen im Zusammen·hang mit matsuri zählen sportliche Ereig·nisse, die große Gruppen von Menschen umfas·sen. Etwa groß angeleg·tes Tau·ziehen. Auch Pferde- oder Boots·rennen in großen Gruppen gehören dazu. Eine be·son·dere He·raus·forderung, sowohl in kör·per·licher als auch in so·zia·ler Hinsicht, stellen die soge·nannten Nackt·feste (hadaka matsuri [hadaka matsuri (jap.) 裸祭 wtl. Nackt-Fest; religiöses Fest]) dar, bei denen Gruppen junger Männer, nur mit einem Lenden·schurz (fundoshi [fundoshi (jap.) traditionelle, japanische Unterwäsche für Männer]) bekleidet bei eisiger Kälte ins Wasser sprin·gen. Das Bad im Fluss wird als rituelle Reinigung (misogi [misogi (jap.) Purifikation, Reinigungsritus, rituelle Waschung]) verstan·den.

Feuer Feste

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Ebenso wie das Wasser kann auch das Feuer rituelle Rei·ni·gung her·bei·führen und spielt daher in vielen religiösen Feiern ein Rolle. Es gibt auch groß angelegte matsuri, die das Feuer in den Mittel·punkt stellen. In den meisten Fällen besteht der Höhe·punkt eines solchen Feuer-matsuri im Gang durch die glühenden Kohlen (hiwatari [hiwatari (jap.) 火渡り Feuer-Gang, Gang durch glühende Kohlen]), der von Priestern und Laien gemein·sam durch·geführt wird. Solche Feuer·gänge sind aus vielen Kulturen bekannt. In Japan werden sie fast immer von bud·dhis·tischen Tempeln, be·ziehungs·weise vom synkretis·tischen Orden der Bergasketen (yamabushi [yamabushi (jap.) 山伏 Bergasket, wtl. der in den Bergen schläft; Praktikant des Shugendō]) durchgeführt.

Ernte- und Fruchtbarkeitsfeste

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In der ehemals agrarischen, tra·di·tio·nel·len Gesellschaft spielten Ernte·bitt- und Ernte·dank·feste stets eine große Rolle. Wie in anderen Kulturen bediente man sich bei rituel·len Bitten um reiche Ernte (hōnen matsuri [hōnen matsuri (jap.) 豊年祭 Erntebitt-Fest, Fruchtbarkeitsfest]) auch in Japan häufig einer sexuel·len Symbolik. Spuren von ent·sprech·enden Phal·lus·kulten sind in ganz Japan zu finden, aller·dings sind die ent·sprech·enden Kult·gegen·stände zumeist in diskrete Seiten·schreine ausgelagert worden. In ein paar wenigen Schreinen haben sich phal·lische matsuri-Prozes·sionen aller·dings als besondere Tou·ris·ten·attrak·tionen erwiesen und werden mit großer Aus·ge·lassen·heit gefeiert. Ur·sprüng·lich mit der Bitte um fruchtbare Ernte oder Kin·der·segen verbunden, haben manche dieser matsuri heute die Züge von love parades angenom·men.

Matsuri — Allgemeine Merkmale

Matsuri sind heutzutage besonders für den inner·japanischen Touris·mus attrak·tiv und werden daher zu·nehmend bunter und viel·ge·stal·tiger. Nicht selten erweisen sich angeb·lich Jahr·hunderte alte Traditionen als kürzlich ent·stan·dene invented traditions. Berühmte Schrein·feste wie das Gion Matsuri in Kyōto können aber anderer·seits sehr wohl auf eine lange Geschichte zurück·blicken. Ästhetisch gesehen sind die meisten matsuri von den Stil·ele·men·ten des Kabuki-Theaters geprägt. Man kann daher davon ausgehen, dass das heute typische matsuri seine Aus·gestal·tung der Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-zeit·lichen Stadtkul·tur verdankt.

Soziologisch betrachtet fällt der gruppen·betonte Charak·ter japanischer matsuri ganz besonders ins Auge. Dieser erstreckt sich nicht nur auf die Teil·nah·me am Fest, sondern auch auf die Vor·be·rei·tung. Ob Tänze, Wett·kämpfe oder Prozes·sionen, stets ist eine ver·hältnis·mäßig große Anzahl von Helfern nötig, die sich zumeist unentgeltlich und auf der Basis lokaler Ver·bunden·heit für die Ver·an·stal·tung engagieren. Während des matsuri sind sie durch ein·heit·liche Ge·wän·der als zusam·men·gehörige Gruppe gekenn·zeich·net. Matsuri haben somit eine wichtige Funktion in der Er·rich·tung und Auf·recht·erhal·tung eines lokalen Ge·mein·schafts·bewusst·seins, da ohne eine funk·tio·nie·ren·de mit dem Schrein (oder Tempel) in Verbindung stehende Gemeinde kein matsuri zustande kommen könnte.

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Fukagawa Matsuri
Fröhliche rituelle Reinigung/Kühlung beim sommerlichen Fukagawa Matsuri in Tōkyō.
Wada Toshio, 2005 (mit freundlicher Genehmigung).

Trotz des üblicherweise spek·ta·ku·lären Charakters von matsuri sollte ihr sakraler Aspekt nicht übersehen werden. Die Aus·gelas·sen·heit der Teil·neh·mer steht nur schein·bar im Wider·spruch zu religiöser Ernst·haftig·keit, oder genauer, sie schließt religiöse Ernst·haftig·keit keines·wegs aus. Vor allem die Vor·be·rei·tungen verlan·gen sowohl ge·wissen·hafte Arbeits·teilung als auch die Befolgung zeremoniel·ler Tabu·regeln. Dies betrifft insbesondere die beteiligten Pries·ter. Sie bereiten sich tradi·tio·neller·weise durch asketische Übungen und die Ein·haltung von Tabu·regeln (Vermeidung jeden Kontakts mit „Unreinem“) mehrere Tage oder Wochen auf das Fest vor, das ja im Grunde eine be·son·dere Be·geg·nung mit der ge·feier·ten Gottheit darstellt.

Matsuri sind Zeiten, in denen die Regeln des Alltags aufgehoben sind. Das kann heiligen Ernst bedeuten oder exzes·sive Aus·ge·lassen·heit, in vielen Fällen beides. Diese schein·bare Wider·sprüch·lich·keit ist typisch, nicht nur für Japan (vgl. Faschings- oder Fron·leich·nams·prozes·sionen). Die Ver·drän·gung des Exzes·ses, die aus der Sicht christ·licher Pietät und auf·geklär·ter Rationa·lität ganz natür·lich erscheint, ist wohl eher die Aus·nahme als die Regel in der Kultur religiöser Feiern.

Religion in JapanAlltag
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Matsuri: Religiöse Volksfeste.“ In: Bernhard Scheid, Religion-in-Japan: Ein digitales Handbuch. Universität Wien, seit 2001