Alltag/Matsuri: Unterschied zwischen den Versionen

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{{fl|D}}er Begriff {{g|matsuri}} um·schreibt im weiteren Sinne alle gemein·schaft·lichen Feste, ein·schließ·lich der landes·weiten [[Alltag/Jahr |  jahres·zeit·lichen Feiertage]] ({{g|nenjuugyouji}}). Im allgemeinen as·so·zi·iert man mit ''matsuri'' aber religiöse Feste mit sehr speziel·len lokalen Beson·der·heiten, also regio·nale religi·öse Volks·feste. Obwohl auch Tempel ''matsuri'' veranstal·ten können, werden diese Feste typi·scher·weise für {{g|kami|''kami''}} abgehal·ten, gehen also von Schreinen aus. Bei den meisten ''matsuri'' steht eine Prozes·sion im Mittel·punkt und im Mittel·punkt der Prozes·sion steht ein trag·barer Schrein, {{g|mikoshi}}, in dem die Gott·heit des lokalen Schreins vo·rüber·ge·hend ihren Sitz einnimmt. Übli·cher·weise wird also der „Gott·leib“ ({{g|shintai}}) einer ''kami''-Gottheit im ''mikoshi'' zu einem bes·timm·ten Ziel getragen, das man {{g|tabisho}}, „Reise·ort“, nennt. Wie im Haupt·schrein bleibt der ''shintai'' auch während dieser „Reise“ verbor·gen. Hinge·gen zieht der trag·bare Schrein mit seinen reichen Ver·zierun·gen alle Blicke auf sich.
 
 
 
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Meist wird der ''mikoshi'' gleich einer Sänfte von zahl·rei·chen An·hän·gern des Schreins auf den Schul·tern getragen. Rund um den ''mikoshi'' werden aller·hand tra·di·tio·nelle Tänze, Wett·kämpfe oder Schau·künste veranstal·tet, deren Varian·ten·reich·tum kaum Grenzen kennt. Oft drängen diese Seiten·aktivi·täten die eigent·liche Pro·zes·sion in den Hin·ter·grund. Aber auch die Formen des trag·baren Schreins und der umher·getra·genen Ver·eh·rungs·ge·gen·stän·de können sehr un·ter·schied·lich sein. Äußer·lich ähneln ''matsuri'' einer Fron·leich·nams·prozes·sion in katho·lischen Ländern, doch stehen Spek·ta·kel und aus·gelas·sene Fröh·lich·keit unum·wunden im Mittel·punkt der Ver·an·stal·tung.
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{{fl|D}}er Begriff {{g|matsuri}} umschreibt im weiteren Sinne alle gemeinschaftlichen Feste, einschließlich der landesweiten [[Alltag/Jahr |  jahreszeitlichen Feiertage]] ({{g|nenjuugyouji}}). Im gebräuchlichsten Wortsinn assoziiert man mit ''matsuri'' aber religiöse Feste mit sehr speziellen lokalen Besonderheiten, also regionale religiöse Volksfeste. Obwohl auch Tempel ''matsuri'' veranstalten können, werden diese Feste typischerweise für {{g|kami|''kami''}} abgehalten, gehen also von Schreinen aus. Bei den meisten ''matsuri'' steht eine Prozession im Mittelpunkt und im Mittelpunkt der Prozession steht ein tragbarer Schrein, {{g|mikoshi}}, in dem die Gottheit des lokalen Schreins vorübergehend ihren Sitz einnimmt. Üblicherweise wird also der „Gottleib“ ({{g|shintai}}) einer ''kami''-Gottheit im ''mikoshi'' zu einem bestimmten Ziel getragen, das man {{g|tabisho}}, „Reiseort“, nennt. Wie im Hauptschrein bleibt der ''shintai'' auch während dieser „Reise“ verborgen. Hingegen zieht der tragbare Schrein mit seinen reichen Verzierungen alle Blicke auf sich.
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Meist wird der ''mikoshi'' gleich einer Sänfte von zahlreichen Anhängern des Schreins auf den Schultern getragen. Rund um den ''mikoshi'' werden allerhand traditionelle Tänze, Wettkämpfe oder Schaukünste veranstaltet, deren Variantenreichtum kaum Grenzen kennt. Oft drängen diese Seitenaktivitäten die eigentliche Prozession in den Hintergrund. Aber auch die Formen des tragbaren Schreins und der umhergetragenen Verehrungsgegenstände können sehr unterschiedlich sein. Äußerlich ähneln ''matsuri'' einer Fronleichnamsprozession in katholischen Ländern, doch stehen Spektakel und ausgelassene Fröhlichkeit unumwunden im Mittelpunkt der Veranstaltung.
  
 
==Beispiel Gion Matsuri==
 
==Beispiel Gion Matsuri==
  
Das {{g|gionmatsuri|Gion Matsuri}} in Kyōto, das den ganzen Juli über gefeiert wird, ist wohl das be·rühm·teste und vom touris·tischen Standpunkt aus spek·takulärste ''matsuri'' Japans. Es wird vom {{g|yasakajinja|Yasaka Schrein}} ver·an·stal·tet, dem es auch seinen Namen verdankt, denn der Schrein hieß bis zur {{g|meiji}}-Zeit selbst Gion. Das Gion-Fest ist schon seit der {{g|heian}}-Zeit belegt und geht auf eine Zeremonie zur Be·sänf·tigung zürnen·der Geister ({{g|goryoue}}) zurück, die erstmals an·läss·lich einer Seuchen·plage im Jahr 869 abgehal·ten worden war. Die Gott·heit, die damals für die Seuche ver·ant·wort·lich gemacht wurde, war {{g|gozutennou}} (der „Ochsenköpfige Himmelskönig“), ein indischer Gott, der mit dem Bud·dhis·mus nach Japan gekom·men war. Er wurde aller·dings auch mit {{g|Susanoo}}, dem ab·trün·nigen Bruder der Son·nen·gott·heit gleich·ge·setzt. Es entspricht der ja·pa·nischen Religio·sität, dass man sich gerade für eine eher unheim·liche, furcht·ein·flößende Gott·heit bemühte, ein be·son·ders buntes, fröh·liches Fest auf die Beine zu stellen.
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Das {{g|gionmatsuri|Gion Matsuri}} in Kyōto, das den ganzen Juli über gefeiert wird, ist wohl das berühmteste und vom touristischen Standpunkt aus spektakulärste ''matsuri'' Japans. Es wird vom {{g|yasakajinja|Yasaka Schrein}} veranstaltet, dem es auch seinen Namen verdankt, denn der Schrein hieß bis zur {{g|meiji}}-Zeit selbst Gion. Das Gion-Fest ist schon seit der {{g|heian}}-Zeit belegt und geht auf eine Zeremonie zur Besänftigung zürnender Geister ({{g|goryoue}}) zurück, die erstmals anlässlich einer Seuchenplage im Jahr 869 abgehalten worden war. Die Gottheit, die damals für die Seuche verantwortlich gemacht wurde, war {{g|gozutennou}} (der „Ochsenköpfige Himmelskönig“), ein indischer Gott, der mit dem Buddhismus nach Japan gekommen war. Er wurde allerdings auch mit {{g|Susanoo}}, dem abtrünnigen Bruder der Sonnengottheit gleichgesetzt. Es entspricht der japanischen Religiosität, dass man sich gerade für eine eher unheimliche, furchteinflößende Gottheit bemühte, ein besonders buntes, fröhliches Fest auf die Beine zu stellen.
===Prozessionswagen===
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Das Gion Matsuri ist der Prototyp für ''matsuri'', bei denen eine ganze Prozession von Schauwägen ({{g|dashi}}) den Umzug einer einzelnen Göttersänfte (''mikoshi'') vorbereitet oder ersetzt. In Kyōto wurden und werden die Schauwägen von den Bezirksgemeinden rund um den Yasaka-Schrein in Schuss gehalten. Die Gemeinden sind von alten Handwerksgilden geprägt, die auf diese Weise — wenn auch in ganz traditionellem Rahmen — eine Art Werbung oder Leistungsschau ihrer eigenen Produkte inszenieren.
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===''Yamaboko''-Parade===
  
 
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Höhepunkt des Gion Matsuri ist die Parade der sogenannten {{g|dashi}} am 16. und 17. Juli. ''Dashi''-Pro·zes·sions·wagen un·ter·teilen sich in zwei Gruppen: (1) ''yama'' (wtl. Berge), von denen es ingesamt zwei·und·zwan·zig gibt. Sie ähneln den üblichen ''mikoshi''-Schreinen und werden auf den Schul·tern getragen. (2) ''hoko'' (wtl. Lanzen, insgesamt sieben), das sind riesige bunt geschmück·ten Wagen, auf denen Helle·barden in über·dimen·sionaler Form nach·gebil·det sind. Diese Helle·barden sollen schon in der ur·sprüng·lichen Zeremonie zur Abwehr der Seuche eingesetzt worden sein. ''Yama'' und ''hoko'' dienen beide zugleich als Bühne für diverse Schau·künste und -gegen·stände. Die Ausstat·tung wird von den Bezirks·gemein·den rund um den Yasaka-Schrein übernom·men. Eigentlich handelt es sich nur um das Vor·spiel zur Pro·zes·sion des ''mikoshi'', doch dank der beson·deren Aus·gestal·tung der Pro·zes·sions·wagen zieht dieser „Side-Event“ die meiste Auf·merk·sam·keit der Besucher auf sich. Übrigens gibt es in ganz Japan Zweig·schreine des Yasaka Schreins, die ähnliche Pro·zes·sionen veranstalten.
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Die Parade der sogenannten {{g|yamaboko}}-Schauwägen findet am 17. Juli statt. ''Yamaboko'' ist die Gion-spezifische Bezeichnung für zwei Gruppen von ''dashi''-Festwägen: (1) ''yama'' (wtl. Berge, insgesamt 23), sind etwas kleiner und werden auf den Schultern zahlreicher Träger transportiert. Sie bestehen aus einem stilisierten Berg mit einem kleinen natürlichen Baum darauf und einer kleinen Bühne. (2) ''Hoko'' (wtl. Lanzen, insgesamt 10) sind Wägen mit mannshohen Rädern, auf denen sich Bühnen für ganze Orchester befinden. Die ''hoko''-Bühnen sind überdacht und tragen als Dachschmuck Hellebarden in überdimensionaler Form. Ihre Gesamthöhe beträgt bis zu 25 Metern. (Die Hellebarden sollen schon in der ursprünglichen Zeremonie zur Abwehr von Seuchen eingesetzt worden sein.) ''Yama'' bieten Einzelspektakel, während die ''hoko'' auch für die Akustik zuständig sind. Beide Bühnen sind zudem mit diversen Ziergegenständen ausgestattet, darunter auch europäische Gobelins und persische Teppiche aus dem 16. Jahrhundert. Schließlich bilden auf manchen Wägen Kinder oder lebensgroße Puppen den Mittelpunkt. Sie verkörpern eine Gottheit, die im jeweiligen Wagen residieren soll.  
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Eigentlich handelt es sich bei der Parade der ''yamaboko'' nur um das Vorspiel zur Prozession des Haupt-''mikoshi'', doch dank der besonderen Ausgestaltung zieht dieser „Side-Event“ die meiste Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Übrigens gibt es in ganz Japan Zweigschreine des Yasaka Schreins, die ähnliche Prozessionen veranstalten.
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Zu den typischen Ver·an·stal·tungen im Zusammen·hang mit ''matsuri'' zählen sportliche Ereig·nisse, die große Gruppen von Menschen umfas·sen. Etwa groß angeleg·tes Tau·ziehen. Auch Pferde- oder Boots·rennen in großen Gruppen gehören dazu. Eine be·son·dere He·raus·forderung, sowohl in kör·per·licher als auch in so·zia·ler Hinsicht, stellen die soge·nannten Nackt·feste ({{g|hadakamatsuri}}) dar, bei denen Gruppen junger Männer, nur mit einem Lenden·schurz ({{g|fundoshi}}) bekleidet bei eisiger Kälte ins Wasser sprin·gen. Das Bad im Fluss wird als rituelle Reinigung ({{g|misogi}}) verstan·den.
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Zu den typischen Veranstaltungen im Zusammenhang mit ''matsuri'' zählen sportliche Ereignisse, die große Gruppen von Menschen umfassen. Etwa groß angelegtes Tauziehen. Auch Pferde- oder Bootsrennen in großen Gruppen gehören dazu. Eine besondere Herausforderung, sowohl in körperlicher als auch in sozialer Hinsicht, stellen die sogenannten Nacktfeste ({{g|hadakamatsuri}}) dar, bei denen Gruppen junger Männer, nur mit einem Lendenschurz ({{g|fundoshi}}) bekleidet bei eisiger Kälte ins Wasser springen. Das Bad im Fluss wird als rituelle Reinigung ({{g|misogi}}) verstanden.
  
 
=== Feuer Feste ===
 
=== Feuer Feste ===
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Ebenso wie das Wasser kann auch das Feuer rituelle Rei·ni·gung her·bei·führen und spielt daher in vielen religiösen Feiern ein Rolle. Es gibt auch groß angelegte ''matsuri'', die das Feuer in den Mittel·punkt stellen. In den meisten Fällen besteht der Höhe·punkt eines solchen Feuer-''matsuri'' im Gang durch die glühen·den Kohlen ({{g|hiwatari}}), der von Priestern und Laien gemein·sam durch·geführt wird. Solche Feuer·gänge sind aus vielen Kulturen bekannt. In Japan werden sie fast immer von bud·dhis·tischen Tempeln, be·ziehungs·weise vom synkretis·tischen Orden der Bergasketen ({{g|yamabushi}}) durchgeführt.
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Ebenso wie das Wasser kann auch das Feuer rituelle Reinigung herbeiführen und spielt daher in vielen religiösen Feiern ein Rolle. Es gibt auch groß angelegte ''matsuri'', die das Feuer in den Mittelpunkt stellen. In den meisten Fällen besteht der Höhepunkt eines solchen Feuer-''matsuri'' im Gang durch die glühenden Kohlen ({{g|hiwatari}}), der von Priestern und Laien gemeinsam durchgeführt wird. Solche Feuergänge sind aus vielen Kulturen bekannt. In Japan werden sie fast immer von buddhistischen Tempeln, beziehungsweise vom synkretistischen Orden der Bergasketen ({{g|yamabushi}}) durchgeführt.
  
 
=== Ernte- und Fruchtbarkeitsfeste ===
 
=== Ernte- und Fruchtbarkeitsfeste ===
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In der ehemals agrarischen, tra·di·tio·nel·len Gesellschaft spielten Ernte·bitt- und Ernte·dank·feste stets eine große Rolle. Wie in anderen Kulturen bediente man sich bei rituel·len Bitten um reiche Ernte ({{g|hounenmatsuri}}) auch in Japan häufig einer sexuel·len Symbolik. Spuren von ent·sprech·enden Phal·lus·kulten sind in ganz Japan zu finden, aller·dings sind die ent·sprech·enden Kult·gegen·stände zumeist in diskrete Seiten·schreine aus·gelagert worden. In ein paar wenigen Schreinen haben sich phal·lische ''matsuri''-Prozes·sionen al·ler·dings als besondere Tou·ris·ten·attrak·tionen erwiesen und werden mit großer Aus·ge·lassen·heit gefeiert. Ur·sprüng·lich mit der Bitte um frucht·bare Ernte oder Kin·der·segen verbunden, haben manche dieser ''matsuri'' heute die Züge von ''love parades'' angenom·men.
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In der ehemals agrarischen, traditionellen Gesellschaft spielten Erntebitt- und Erntedankfeste stets eine große Rolle. Wie in anderen Kulturen bediente man sich bei rituellen Bitten um reiche Ernte ({{g|hounenmatsuri}}) auch in Japan häufig einer sexuellen Symbolik. Spuren von entsprechenden Phalluskulten sind in ganz Japan zu finden, allerdings sind die entsprechenden Kultgegenstände zumeist in diskrete Seitenschreine ausgelagert worden. In ein paar wenigen Schreinen haben sich phallische ''matsuri''-Prozessionen allerdings als besondere Touristenattraktionen erwiesen und werden mit großer Ausgelassenheit gefeiert. Ursprünglich mit der Bitte um fruchtbare Ernte oder Kindersegen verbunden, haben manche dieser ''matsuri'' heute die Züge von ''love parades'' angenommen.
  
 
==''Matsuri'' — Allgemeine Merkmale==
 
==''Matsuri'' — Allgemeine Merkmale==
  
''Matsuri'' sind heutzutage besonders für den inner·japanischen Touris·mus attrak·tiv und werden daher zu·nehmend bunter und viel·ge·stal·tiger. Nicht selten erweisen sich angeb·lich Jahr·hunderte alte Traditionen als kürzlich ent·stan·dene ''invented traditions''. Berühmte Schrein·feste wie das Gion Matsuri in Kyōto können aber anderer·seits sehr wohl auf eine lange Geschichte zurück·blicken. Ästhetisch gesehen sind die meisten ''matsuri'' von den Stil·ele·men·ten des Kabuki-Theaters geprägt. Man kann daher davon ausgehen, dass das heute typische ''matsuri'' seine Aus·gestal·tung der {{g|edo}}-zeit·lichen Stadtkul·tur verdankt.
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''Matsuri'' sind heutzutage besonders für den innerjapanischen Tourismus attraktiv und werden daher zunehmend bunter und vielgestaltiger. Nicht selten erweisen sich angeblich Jahrhunderte alte Traditionen als kürzlich entstandene ''invented traditions''. Berühmte Schreinfeste wie das Gion Matsuri in Kyōto können aber andererseits sehr wohl auf eine lange Geschichte zurückblicken. Ästhetisch gesehen sind die meisten ''matsuri'' von den Stilelementen des Kabuki-Theaters geprägt. Man kann daher davon ausgehen, dass das heute typische ''matsuri'' seine Ausgestaltung der {{g|edo}}-zeitlichen Stadtkultur verdankt.
  
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| Matsuri der Edo-Zeit, 1867
 
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Soziologisch betrachtet fällt der gruppen·betonte Charak·ter japanischer ''matsuri'' ganz besonders ins Auge. Dieser er·streckt sich nicht nur auf die Teil·nah·me am Fest, sondern auch auf die Vor·be·rei·tung. Ob Tänze, Wett·kämpfe oder Prozes·sionen, stets ist eine ver·hältnis·mäßig große Anzahl von Helfern nötig, die sich zumeist un·ent·gelt·lich und auf der Basis lokaler Ver·bunden·heit für die Ver·an·stal·tung engagieren. Während des ''matsuri'' sind sie durch ein·heit·liche Ge·wän·der als zusam·men·gehörige Gruppe gekenn·zeich·net. ''Matsuri'' haben somit eine wichtige Funktion in der Er·rich·tung und Auf·recht·erhal·tung eines lokalen Ge·mein·schafts·bewusst·seins, da ohne eine funk·tio·nie·ren·de mit dem Schrein (oder Tempel) in Verbindung stehende Gemeinde kein ''matsuri'' zustande kommen könnte.
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Soziologisch betrachtet fällt der gruppenbetonte Charakter japanischer ''matsuri'' ganz besonders ins Auge. Dieser erstreckt sich nicht nur auf die Teilnahme am Fest, sondern auch auf die Vorbereitung. Ob Tänze, Wettkämpfe oder Prozessionen, stets ist eine verhältnismäßig große Anzahl von Helfern nötig, die sich zumeist unentgeltlich und auf der Basis lokaler Verbundenheit für die Veranstaltung engagieren. Während des ''matsuri'' sind sie durch einheitliche Gewänder als zusammengehörige Gruppe gekennzeichnet. ''Matsuri'' haben somit eine wichtige Funktion in der Errichtung und Aufrechterhaltung eines lokalen Gemeinschaftsbewusstseins, da ohne eine funktionierende mit dem Schrein (oder Tempel) in Verbindung stehende Gemeinde kein ''matsuri'' zustande kommen könnte.
  
 
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Trotz des üblicherweise spek·ta·ku·lären Charakters von ''matsuri'' sollte ihr sakraler Aspekt nicht über·sehen werden. Die Aus·gelas·sen·heit der Teil·neh·mer steht nur schein·bar im Wider·spruch zu re·ligiöser Ernst·haftig·keit, oder genauer, sie schließt religiöse Ernst·haftig·keit keines·wegs aus. Vor allem die Vor·be·rei·tungen verlan·gen sowohl ge·wissen·hafte Arbeits·teilung als auch die Befolgung zeremoniel·ler Tabu·regeln. Dies betrifft ins·be·sondere die be·tei·ligten Pries·ter. Sie bereiten sich tradi·tio·neller·weise durch asket·ische Übungen und die Ein·haltung von Tabu·regeln (Ver·meidung jeden Kontakts mit „Unreinem“) mehrere Tage oder Wochen auf das Fest vor, das ja im Grunde eine be·son·dere Be·geg·nung mit der ge·feier·ten Gott·heit darstellt.
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Trotz des üblicherweise spektakulären Charakters von ''matsuri'' sollte ihr sakraler Aspekt nicht übersehen werden. Die Ausgelassenheit der Teilnehmer steht nur scheinbar im Widerspruch zu religiöser Ernsthaftigkeit, oder genauer, sie schließt religiöse Ernsthaftigkeit keineswegs aus. Vor allem die Vorbereitungen verlangen sowohl gewissenhafte Arbeitsteilung als auch die Befolgung zeremonieller Taburegeln. Dies betrifft insbesondere die beteiligten Priester. Sie bereiten sich traditionellerweise durch asketische Übungen und die Einhaltung von Taburegeln (Vermeidung jeden Kontakts mit „Unreinem“) mehrere Tage oder Wochen auf das Fest vor, das ja im Grunde eine besondere Begegnung mit der gefeierten Gottheit darstellt.
  
''Matsuri'' sind Zeiten, in denen die Regeln des Alltags auf·gehoben sind. Das kann heiligen Ernst bedeuten oder exzes·sive Aus·ge·lassen·heit, in vielen Fällen beides. Diese schein·bare Wider·sprüch·lich·keit ist typisch, nicht nur für Japan (vgl. Faschings- oder Fron·leich·nams·prozes·sionen). Die Ver·drän·gung des Exzes·ses, die aus der Sicht christ·licher Pietät und auf·geklär·ter Rationa·lität ganz natür·lich erscheint, ist wohl eher die Aus·nahme als die Regel in der Kultur religiöser Feiern.
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''Matsuri'' sind Zeiten, in denen die Regeln des Alltags aufgehoben sind. Das kann heiligen Ernst bedeuten oder exzessive Ausgelassenheit, in vielen Fällen beides. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit ist typisch, nicht nur für Japan (vgl. Faschings- oder Fronleichnamsprozessionen). Die Verdrängung des Exzesses, die aus der Sicht christlicher Pietät und aufgeklärter Rationalität ganz natürlich erscheint, ist wohl eher die Ausnahme als die Regel in der Kultur religiöser Feiern.
  
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* [http://photojpn.org/matsuri/fukagawa/index.html Photoguide Japan], Philbert Ono (en.)<br/>Ausführlicher Foto-Essay über das Fukagawa Hachiman Matsuri, eines der bekanntesten ''matsuri'' Tōkyōs. Insbesondere die rituellen Vor·berei·tungen des Umzugs sind hier genau dokumentiert.
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* [http://photojpn.org/matsuri/fukagawa/index.html Photoguide Japan], Philbert Ono (en.)<br/>Ausführlicher Foto-Essay über das Fukagawa Hachiman Matsuri, eines der bekanntesten ''matsuri'' Tōkyōs. Insbesondere die rituellen Vorbereitungen des Umzugs sind hier genau dokumentiert.
 
* [http://farstrider.net/Japan/Festivals/ Festivals of Japan], Jeff Mendoza (en.)<br/> Gut gemachte Website, die eher an den schrägen Aspekten von ''matsuri'' interessiert ist.
 
* [http://farstrider.net/Japan/Festivals/ Festivals of Japan], Jeff Mendoza (en.)<br/> Gut gemachte Website, die eher an den schrägen Aspekten von ''matsuri'' interessiert ist.
 
* [http://wadaphoto.jp/ wadaphoto.jp], Wada Toshio (jap.)<br/>Website mit Dokumentationen und wunderschönen Bildern zu verschiedenen ''matsuri''.<!--
 
* [http://wadaphoto.jp/ wadaphoto.jp], Wada Toshio (jap.)<br/>Website mit Dokumentationen und wunderschönen Bildern zu verschiedenen ''matsuri''.<!--

Version vom 15. Dezember 2021, 15:35 Uhr

Matsuri Religiöse Volksfeste

Vorlage:WmaxX Vorlage:Fler Begriff matsuri [matsuri (jap.) religiöses (Volks-)Fest] umschreibt im weiteren Sinne alle gemeinschaftlichen Feste, einschließlich der landesweiten jahreszeitlichen Feiertage (nenjū gyōji [nenjū gyōji (jap.) 年中行事 Jahresfeste]). Im gebräuchlichsten Wortsinn assoziiert man mit matsuri aber religiöse Feste mit sehr speziellen lokalen Besonderheiten, also regionale religiöse Volksfeste. Obwohl auch Tempel matsuri veranstalten können, werden diese Feste typischerweise für kami [kami (jap.) Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō] abgehalten, gehen also von Schreinen aus. Bei den meisten matsuri steht eine Prozession im Mittelpunkt und im Mittelpunkt der Prozession steht ein tragbarer Schrein, mikoshi [mikoshi (jap.) 神輿 tragbarer Schrein], in dem die Gottheit des lokalen Schreins vorübergehend ihren Sitz einnimmt. Üblicherweise wird also der „Gottleib“ (shintai [shintai (jap.) 神体 heiliges Objekt eines Shintō-Schreins; wtl. „Gottkörper“]) einer kami-Gottheit im mikoshi zu einem bestimmten Ziel getragen, das man tabisho [tabisho (jap.) 旅所 wtl. „Reiseort“; Ziel einer Prozession mit tragbarem Schrein (mikoshi) bei Schreinfesten], „Reiseort“, nennt. Wie im Hauptschrein bleibt der shintai auch während dieser „Reise“ verborgen. Hingegen zieht der tragbare Schrein mit seinen reichen Verzierungen alle Blicke auf sich.

Kanda matsuri.jpg
1 Kanda Matsuri, Tōkyō
Trotz Regen ausgelassene Fröhlichkeit bei der Prozession des mikoshi zu Ehren des Kanda Schreins.
2013. Bildquelle: JAPONIA, 2013/5.

Meist wird der mikoshi gleich einer Sänfte von zahlreichen Anhängern des Schreins auf den Schultern getragen. Rund um den mikoshi werden allerhand traditionelle Tänze, Wettkämpfe oder Schaukünste veranstaltet, deren Variantenreichtum kaum Grenzen kennt. Oft drängen diese Seitenaktivitäten die eigentliche Prozession in den Hintergrund. Aber auch die Formen des tragbaren Schreins und der umhergetragenen Verehrungsgegenstände können sehr unterschiedlich sein. Äußerlich ähneln matsuri einer Fronleichnamsprozession in katholischen Ländern, doch stehen Spektakel und ausgelassene Fröhlichkeit unumwunden im Mittelpunkt der Veranstaltung.

Beispiel Gion Matsuri

Das Gion Matsuri [Gion Matsuri (jap.) 祇園祭 Gion Fest; größtes matsuri Kyōtos; ursprünglich zur Abwehr zürnender Geister, später zur Besänftigung der Seuchengottheit Gozu Tennō abgehalten] in Kyōto, das den ganzen Juli über gefeiert wird, ist wohl das berühmteste und vom touristischen Standpunkt aus spektakulärste matsuri Japans. Es wird vom Yasaka Schrein [Yasaka Jinja (jap.) 八坂神社 Yasaka Schrein (Kyōto), ehemals als Gion Schrein bezeichnet] veranstaltet, dem es auch seinen Namen verdankt, denn der Schrein hieß bis zur Meiji [Meiji (jap.) 明治 posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt]-Zeit selbst Gion. Das Gion-Fest ist schon seit der Heian [Heian (jap.) 平安 auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)]-Zeit belegt und geht auf eine Zeremonie zur Besänftigung zürnender Geister (goryō-e [goryō-e (jap.) 御霊会 Zeremonie zur Geisterbesänftigung]) zurück, die erstmals anlässlich einer Seuchenplage im Jahr 869 abgehalten worden war. Die Gottheit, die damals für die Seuche verantwortlich gemacht wurde, war Gozu Tennō [Gozu Tennō (jap.) 牛頭天王 „Ochsenköpfiger Himmelskönig“, Seuchengott; wird manchmal mit Susanoo identifiziert] (der „Ochsenköpfige Himmelskönig“), ein indischer Gott, der mit dem Buddhismus nach Japan gekommen war. Er wurde allerdings auch mit Susanoo [Susanoo (jap.) 須佐之男/素戔男 mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu], dem abtrünnigen Bruder der Sonnengottheit gleichgesetzt. Es entspricht der japanischen Religiosität, dass man sich gerade für eine eher unheimliche, furchteinflößende Gottheit bemühte, ein besonders buntes, fröhliches Fest auf die Beine zu stellen.

Das Gion Matsuri ist der Prototyp für matsuri, bei denen eine ganze Prozession von Schauwägen (dashi [dashi (jap.) 山車 Prozessionswagen bei Schreinfesten]) den Umzug einer einzelnen Göttersänfte (mikoshi) vorbereitet oder ersetzt. In Kyōto wurden und werden die Schauwägen von den Bezirksgemeinden rund um den Yasaka-Schrein in Schuss gehalten. Die Gemeinden sind von alten Handwerksgilden geprägt, die auf diese Weise — wenn auch in ganz traditionellem Rahmen — eine Art Werbung oder Leistungsschau ihrer eigenen Produkte inszenieren.

Yamaboko-Parade

Gion dashi.jpg
2
Da die handgezogenen Wägen (dashi) des Gion Matsuri, welches vom Yasaka Jinja veranstaltet wird, keine lenkbaren Räder haben, ist das Kurvenfahren eine höchst aufwendige Angelegenheit.
Heisei-Zeit. Kansai Digital Archives, 1996, über Internet Archive.
Gion 2005.jpg
3
Das Gion Matsuri in Kyōto ist eines der größten und bekanntesten religiösen Feste (matsuri) Japans. Es hat buddhistische Wurzeln, wird heute aber von einem Shintō-Schrein, dem Yasaka Jinja, veranstaltet.
Heisei-Zeit. Bildquelle: unbekannt.
Naginata chigo.jpg
4
Detail des Naginata-hoko, des prächtigsten Schauwagens (dashi) beim Gion Matsuri, der stets die Parade anführt. Das reich geschmückte Kind in der Bildmitte ist ein Knabe, der während des Festivals eine Gottheit repräsentiert. Er eröffnet die Prozession, indem er ein Götterseil (shimenawa) mit einem Schwert durchschneidet, dabei wird er von den ihn begleitenden Helfern des Festivals wie eine Puppe geführt.
Kansai Digital Archives, 1996.
Prozessionswagen, Gion-Fest

Die Parade der sogenannten yamaboko [yamaboko (jap.) 山鉾 Festwägen (eig. dashi) des Gion Matsuri in Kyoto in Form stilisierter Berge (yama) und Lanzen (hoko)]-Schauwägen findet am 17. Juli statt. Yamaboko ist die Gion-spezifische Bezeichnung für zwei Gruppen von dashi-Festwägen: (1) yama (wtl. Berge, insgesamt 23), sind etwas kleiner und werden auf den Schultern zahlreicher Träger transportiert. Sie bestehen aus einem stilisierten Berg mit einem kleinen natürlichen Baum darauf und einer kleinen Bühne. (2) Hoko (wtl. Lanzen, insgesamt 10) sind Wägen mit mannshohen Rädern, auf denen sich Bühnen für ganze Orchester befinden. Die hoko-Bühnen sind überdacht und tragen als Dachschmuck Hellebarden in überdimensionaler Form. Ihre Gesamthöhe beträgt bis zu 25 Metern. (Die Hellebarden sollen schon in der ursprünglichen Zeremonie zur Abwehr von Seuchen eingesetzt worden sein.) Yama bieten Einzelspektakel, während die hoko auch für die Akustik zuständig sind. Beide Bühnen sind zudem mit diversen Ziergegenständen ausgestattet, darunter auch europäische Gobelins und persische Teppiche aus dem 16. Jahrhundert. Schließlich bilden auf manchen Wägen Kinder oder lebensgroße Puppen den Mittelpunkt. Sie verkörpern eine Gottheit, die im jeweiligen Wagen residieren soll.

Eigentlich handelt es sich bei der Parade der yamaboko nur um das Vorspiel zur Prozession des Haupt-mikoshi, doch dank der besonderen Ausgestaltung zieht dieser „Side-Event“ die meiste Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Übrigens gibt es in ganz Japan Zweigschreine des Yasaka Schreins, die ähnliche Prozessionen veranstalten.

Gion edo.jpg
5 Gion Fest in der Edo-Zeit (1806)
Prozession der Schauwagen beim Gion Matsuri in Kyōto aus der Edo-Zeit. Die Schauwagen sehen ihren heutigen Nachfahren recht ähnlich, als Datum des Umzugs ist hier jedoch der 7. Tag des 6. Monats angegeben.
Werk von Hayami Shungyōsai (1767–1823). Edo-Zeit. Waseda University Library.

Weitere Beispiele

Nackt-Feste

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Zu den typischen Veranstaltungen im Zusammenhang mit matsuri zählen sportliche Ereignisse, die große Gruppen von Menschen umfassen. Etwa groß angelegtes Tauziehen. Auch Pferde- oder Bootsrennen in großen Gruppen gehören dazu. Eine besondere Herausforderung, sowohl in körperlicher als auch in sozialer Hinsicht, stellen die sogenannten Nacktfeste (hadaka matsuri [hadaka matsuri (jap.) 裸祭 wtl. Nackt-Fest; religiöses Fest]) dar, bei denen Gruppen junger Männer, nur mit einem Lendenschurz (fundoshi [fundoshi (jap.) traditionelle, japanische Unterwäsche für Männer]) bekleidet bei eisiger Kälte ins Wasser springen. Das Bad im Fluss wird als rituelle Reinigung (misogi [misogi (jap.) Purifikation, Reinigungsritus, rituelle Waschung]) verstanden.

Feuer Feste

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Ebenso wie das Wasser kann auch das Feuer rituelle Reinigung herbeiführen und spielt daher in vielen religiösen Feiern ein Rolle. Es gibt auch groß angelegte matsuri, die das Feuer in den Mittelpunkt stellen. In den meisten Fällen besteht der Höhepunkt eines solchen Feuer-matsuri im Gang durch die glühenden Kohlen (hiwatari [hiwatari (jap.) 火渡り Feuer-Gang, Gang durch glühende Kohlen]), der von Priestern und Laien gemeinsam durchgeführt wird. Solche Feuergänge sind aus vielen Kulturen bekannt. In Japan werden sie fast immer von buddhistischen Tempeln, beziehungsweise vom synkretistischen Orden der Bergasketen (yamabushi [yamabushi (jap.) 山伏 Bergasket, wtl. der in den Bergen schläft; Praktikant des Shugendō]) durchgeführt.

Ernte- und Fruchtbarkeitsfeste

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In der ehemals agrarischen, traditionellen Gesellschaft spielten Erntebitt- und Erntedankfeste stets eine große Rolle. Wie in anderen Kulturen bediente man sich bei rituellen Bitten um reiche Ernte (hōnen matsuri [hōnen matsuri (jap.) 豊年祭 Erntebitt-Fest, Fruchtbarkeitsfest]) auch in Japan häufig einer sexuellen Symbolik. Spuren von entsprechenden Phalluskulten sind in ganz Japan zu finden, allerdings sind die entsprechenden Kultgegenstände zumeist in diskrete Seitenschreine ausgelagert worden. In ein paar wenigen Schreinen haben sich phallische matsuri-Prozessionen allerdings als besondere Touristenattraktionen erwiesen und werden mit großer Ausgelassenheit gefeiert. Ursprünglich mit der Bitte um fruchtbare Ernte oder Kindersegen verbunden, haben manche dieser matsuri heute die Züge von love parades angenommen.

Matsuri — Allgemeine Merkmale

Matsuri sind heutzutage besonders für den innerjapanischen Tourismus attraktiv und werden daher zunehmend bunter und vielgestaltiger. Nicht selten erweisen sich angeblich Jahrhunderte alte Traditionen als kürzlich entstandene invented traditions. Berühmte Schreinfeste wie das Gion Matsuri in Kyōto können aber andererseits sehr wohl auf eine lange Geschichte zurückblicken. Ästhetisch gesehen sind die meisten matsuri von den Stilelementen des Kabuki-Theaters geprägt. Man kann daher davon ausgehen, dass das heute typische matsuri seine Ausgestaltung der Edo [Edo (jap.) 江戸 Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);]-zeitlichen Stadtkultur verdankt.

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6 Matsuri der Edo-Zeit, 1867
Szene eines matsuri der späten Edo-Zeit (1860er Jahre). Im Mittelpunkt ein tragbarer Schrein (mikoshi), der von einer johlenden Menge hin und hergeschwenkt wird. Die Bildunterschrift „Otinta sama“ (O-chinza-sama?) ist rätselhaft, die Darstellung beruht allerdings sicher auf japanischen Vorlagen. Anhand der Schriftelemente handelt es sich wahrscheinlich um das Tennō-sai, ein Fest des Gozu Tennō Schreins in Edo (heute Susanoo Schrein im Bezirk Arakawa, Tōkyō). Ähnlich wie das Gion Matsuri in Kyōto wurde auch dieses Fest in erster Linie zur Abwehr von Krankheiten abgehalten und erfuhr nach einer Pockenepidemie im Jahr 1858 großen Zulauf.  
Bildquelle: Open Library.

Soziologisch betrachtet fällt der gruppenbetonte Charakter japanischer matsuri ganz besonders ins Auge. Dieser erstreckt sich nicht nur auf die Teilnahme am Fest, sondern auch auf die Vorbereitung. Ob Tänze, Wettkämpfe oder Prozessionen, stets ist eine verhältnismäßig große Anzahl von Helfern nötig, die sich zumeist unentgeltlich und auf der Basis lokaler Verbundenheit für die Veranstaltung engagieren. Während des matsuri sind sie durch einheitliche Gewänder als zusammengehörige Gruppe gekennzeichnet. Matsuri haben somit eine wichtige Funktion in der Errichtung und Aufrechterhaltung eines lokalen Gemeinschaftsbewusstseins, da ohne eine funktionierende mit dem Schrein (oder Tempel) in Verbindung stehende Gemeinde kein matsuri zustande kommen könnte.

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7 Fukagawa Matsuri
Fröhliche rituelle Reinigung/Kühlung beim sommerlichen Fukagawa Matsuri in Tōkyō.
Wada Toshio, 2005 (mit freundlicher Genehmigung).

Trotz des üblicherweise spektakulären Charakters von matsuri sollte ihr sakraler Aspekt nicht übersehen werden. Die Ausgelassenheit der Teilnehmer steht nur scheinbar im Widerspruch zu religiöser Ernsthaftigkeit, oder genauer, sie schließt religiöse Ernsthaftigkeit keineswegs aus. Vor allem die Vorbereitungen verlangen sowohl gewissenhafte Arbeitsteilung als auch die Befolgung zeremonieller Taburegeln. Dies betrifft insbesondere die beteiligten Priester. Sie bereiten sich traditionellerweise durch asketische Übungen und die Einhaltung von Taburegeln (Vermeidung jeden Kontakts mit „Unreinem“) mehrere Tage oder Wochen auf das Fest vor, das ja im Grunde eine besondere Begegnung mit der gefeierten Gottheit darstellt.

Matsuri sind Zeiten, in denen die Regeln des Alltags aufgehoben sind. Das kann heiligen Ernst bedeuten oder exzessive Ausgelassenheit, in vielen Fällen beides. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit ist typisch, nicht nur für Japan (vgl. Faschings- oder Fronleichnamsprozessionen). Die Verdrängung des Exzesses, die aus der Sicht christlicher Pietät und aufgeklärter Rationalität ganz natürlich erscheint, ist wohl eher die Ausnahme als die Regel in der Kultur religiöser Feiern.

Verweise

Internetquellen

Siehe auch Internetquellen

  • Photoguide Japan, Philbert Ono (en.)
    Ausführlicher Foto-Essay über das Fukagawa Hachiman Matsuri, eines der bekanntesten matsuri Tōkyōs. Insbesondere die rituellen Vorbereitungen des Umzugs sind hier genau dokumentiert.
  • Festivals of Japan, Jeff Mendoza (en.)
    Gut gemachte Website, die eher an den schrägen Aspekten von matsuri interessiert ist.
  • wadaphoto.jp, Wada Toshio (jap.)
    Website mit Dokumentationen und wunderschönen Bildern zu verschiedenen matsuri.


Letzte Überprüfung der Linkadressen: Jul. 2020

Bilder

Quellen und Erläuterungen zu den Bildern auf dieser Seite

  1. ^ 
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    Trotz Regen ausgelassene Fröhlichkeit bei der Prozession des mikoshi zu Ehren des Kanda Schreins.
    2013. Bildquelle: JAPONIA, 2013/5.
  2. ^ 
    Gion dashi.jpg
    Da die handgezogenen Wägen (dashi) des Gion Matsuri, welches vom Yasaka Jinja veranstaltet wird, keine lenkbaren Räder haben, ist das Kurvenfahren eine höchst aufwendige Angelegenheit.
    Heisei-Zeit. Kansai Digital Archives, 1996, über Internet Archive.
  3. ^ 
    Gion 2005.jpg
    Das Gion Matsuri in Kyōto ist eines der größten und bekanntesten religiösen Feste (matsuri) Japans. Es hat buddhistische Wurzeln, wird heute aber von einem Shintō-Schrein, dem Yasaka Jinja, veranstaltet.
    Heisei-Zeit. Bildquelle: unbekannt.
  4. ^ 
    Naginata chigo.jpg
    Detail des Naginata-hoko, des prächtigsten Schauwagens (dashi) beim Gion Matsuri, der stets die Parade anführt. Das reich geschmückte Kind in der Bildmitte ist ein Knabe, der während des Festivals eine Gottheit repräsentiert. Er eröffnet die Prozession, indem er ein Götterseil (shimenawa) mit einem Schwert durchschneidet, dabei wird er von den ihn begleitenden Helfern des Festivals wie eine Puppe geführt.
    Kansai Digital Archives, 1996.
  1. ^ 
    Gion edo.jpg
    Prozession der Schauwagen beim Gion Matsuri in Kyōto aus der Edo-Zeit. Die Schauwagen sehen ihren heutigen Nachfahren recht ähnlich, als Datum des Umzugs ist hier jedoch der 7. Tag des 6. Monats angegeben.
    Werk von Hayami Shungyōsai (1767–1823). Edo-Zeit. Waseda University Library.
  2. ^ 
    Tenno matsuri.jpg
    Szene eines matsuri der späten Edo-Zeit (1860er Jahre). Im Mittelpunkt ein tragbarer Schrein (mikoshi), der von einer johlenden Menge hin und hergeschwenkt wird. Die Bildunterschrift „Otinta sama“ (O-chinza-sama?) ist rätselhaft, die Darstellung beruht allerdings sicher auf japanischen Vorlagen. Anhand der Schriftelemente handelt es sich wahrscheinlich um das Tennō-sai, ein Fest des Gozu Tennō Schreins in Edo (heute Susanoo Schrein im Bezirk Arakawa, Tōkyō). Ähnlich wie das Gion Matsuri in Kyōto wurde auch dieses Fest in erster Linie zur Abwehr von Krankheiten abgehalten und erfuhr nach einer Pockenepidemie im Jahr 1858 großen Zulauf.  
    Bildquelle: Open Library.
  3. ^ 
    Fukagawa matsuri wada.jpg
    Fröhliche rituelle Reinigung/Kühlung beim sommerlichen Fukagawa Matsuri in Tōkyō.
    Wada Toshio, 2005 (mit freundlicher Genehmigung).

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • dashi 山車 ^ Prozessionswagen bei Schreinfesten
  • Edo 江戸 ^ Hauptstadt der Tokugawa-Shōgune, heute: Tōkyō; auch: Zeit der Tokugawa-Dynastie, 1600–1867 (= Edo-Zeit);
  • fundoshi^ traditionelle, japanische Unterwäsche für Männer
  • Gion Matsuri 祇園祭 ^ Gion Fest; größtes matsuri Kyōtos; ursprünglich zur Abwehr zürnender Geister, später zur Besänftigung der Seuchengottheit Gozu Tennō abgehalten
  • goryō-e 御霊会 ^ Zeremonie zur Geisterbesänftigung
  • Gozu Tennō 牛頭天王 ^ „Ochsenköpfiger Himmelskönig“, Seuchengott; wird manchmal mit Susanoo identifiziert
  • hadaka matsuri 裸祭 ^ wtl. Nackt-Fest; religiöses Fest
  • Heian 平安 ^ auch Heian-kyō 平安京, „Stadt des Friedens“; politisches Zentrum 794–1185 (= Heian-Zeit)
  • hi matsuri 火祭り ^ wtl. Feuerfest; rel. Fest rund um ein Feuer
  • hiwatari 火渡り ^ Feuer-Gang, Gang durch glühende Kohlen
  • hōnen matsuri 豊年祭 ^ Erntebitt-Fest, Fruchtbarkeitsfest
  • Kabuki 歌舞伎 ^ „Gesang- und Tanzkunst“; Anfang des 17. Jh. aus Musik, Schauspiel und Tanz entwickeltes Theater-Genre
  • kami^ Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō
  • matsuri^ religiöses (Volks-)Fest
  • Meiji 明治 ^ posthumer Name von Kaiser Mutsuhito; nach ihm wird auch die Meiji-Zeit (1868–1912) benannt
  • mikoshi 神輿 ^ tragbarer Schrein
  • misogi^ Purifikation, Reinigungsritus, rituelle Waschung
  • nenjū gyōji 年中行事 ^ Jahresfeste
  • shintai 神体 ^ heiliges Objekt eines Shintō-Schreins; wtl. „Gottkörper“
  • Susanoo 須佐之男/素戔男 ^ mytholog. Gottheit; Trickster-Gott, Sturmgott, Mondgott; Bruder der Amaterasu
  • tabisho 旅所 ^ wtl. „Reiseort“; Ziel einer Prozession mit tragbarem Schrein (mikoshi) bei Schreinfesten
  • yamaboko 山鉾 ^ Festwägen (eig. dashi) des Gion Matsuri in Kyoto in Form stilisierter Berge (yama) und Lanzen (hoko)
  • yamabushi 山伏 ^ Bergasket, wtl. der in den Bergen schläft; Praktikant des Shugendō
  • Yasaka Jinja 八坂神社 ^ Yasaka Schrein (Kyōto), ehemals als Gion Schrein bezeichnet