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− | Neben der Schrift sind aber noch andere | + | Neben der Schrift sind aber noch andere Bedingungen für eine sekundäre Religion notwendig. Dazu zählt im besonderen die Vorstellung, dass die Welt letztlich einer Ordnung unterliegt, welche auf gerechten Prinzipien beruht. Gerechtigkeit ist nicht nur das hervorstechendste Attribut monotheistischer Gottesvorstellungen (vgl. „Jüngstes Gericht“), auch im Buddhismus stellt die {{s|Karma}}-Theorie so etwas wie das Versprechen eines letztlich gerechten Ausgleichs guter und böser Taten dar. Von diesen Gerechtigkeitsvorstellungen leiten sekundäre Religionen ihr moralisches Regelwerk ab. |
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− | Die Traditionen des Shintō lassen sich nun in den meisten Fällen auf primär- | + | Die Traditionen des Shintō lassen sich nun in den meisten Fällen auf primär-religiöse Formen der ''kami''-Verehrung zurückführen. Zugleich gibt es in der japanischen Religionsgeschichte verschiedene Versuche, die Verehrung der ''kami'' analog dem Buddhismus in eine sekundäre „Buchreligion“ umzuformen (z.B. {{g|yoshidashintou}}). Doch letztlich ist es nicht gelungen, diesen Schritt konsequent bis zum Ende durch zu führen. Der Grund liegt wahrscheinlich in erster Linie darin, dass bislang keiner dieser Versuche ohne das Kaiserhaus ausgekommen ist. Das Kaiserhaus wiederum bedient sich seit alters her mythologischer Begründungen, keiner objektivierbaren moralischen Prinzipien. Diese Form der Legitimierung widerspricht einem universalistischen Gerechtigkeitsgrundsatz, wie er für sekundäre Religionen kennzeichnend ist. Shintō ist daher aus meiner Sicht am ehesten als eine „hybride“ Zwischenform zwischen primärer und sekundärer Religion zu charakterisieren. |
− | Zugleich kommt auch der | + | Zugleich kommt auch der japanische Buddhismus — wie im übrigen auch andere sekundär-religiöse Traditionen — nicht ganz ohne primär-religiöse, lokale, mythologisch begründete Vorstellungen aus. Zum einen ist die Präsenz zahlreicher aus Indien importierter Gottheiten aus dieser Funktion zu erklären (s. [[Ikonographie/Wächtergötter| Wächtergötter]]). Zum anderen können auch diverse Richtungen, die heute als Shintō klassifiziert werden (z.B. {{g|ryoubushintou}}) als primär-religiöse Aspekte des japanischen Buddhismus interpretiert werden. Anders ausgedrückt, der japanische Buddhismus bediente sich der lokalen Götter, um primär-religiöse Bedürfnisse zu befriedigen und schuf damit das Modell für spätere „hybride“ Formen des Shintō. Im Gegensatz zur Auffassung des oben besprochenen „alten Modells“, ist Shintō daher nicht ''trotz'', sondern ''wegen'' der Begegnung von ''kami'' und Buddhas bis heute erhalten geblieben. |
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Aktuelle Version vom 19. Juni 2024, 15:47 Uhr
Wie sieht nun das religiöse Weltbild Japans aus? Wie soll man sich das Nebeneinander von Buddhismus [bukkyō (jap.) 仏教 Lehre des Buddha, Buddhismus] und Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami] darin vorstellen? Und welche Rolle spielt der Konfuzianismus [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten] dabei? Diese Fragen werden zwar auf verschiedenen Seiten dieser Website angeschnitten, es liegt aber außerhalb meiner Möglichkeiten, sie befriedigend zu erklären. Als Orientierungshilfe und als Zusammenfassung dieses Einführungskapitels möchte ich dennoch versuchen, einige Erklärungsansätze modellhaft darzustellen.
Antonis Dreieck
In seinem Buch Shintō und die Konzeption des japanischen Staatswesens (1998) hat der deutsche Shintō-Spezialist Klaus Antoni [Antoni, Klaus (west.) 1953–; deutscher Japanologe und Kulturwissenschaftler an der Universität Tübingen] ein graphisches Modell des Verhältnisses zwischen den verschiedenen japanischen Denktraditionen vorgelegt, das ich hier in leicht modifizierter Form übernommen habe:
Dieses Modell veranschaulicht die Einflüsse der drei wichtigsten vormodernen Wert- und Glaubenssysteme auf das traditionelle japanische Weltbild, wie es heute in Japan wirksam ist. Wenn man sich also heute auf traditionelle moralische Werte besinnt, so wird man diese in buddhistischen und/ oder konfuzianischen Schriften suchen. Wenn man eine jenseitige Macht um Hilfe und Unterstützung bittet, wird man zu Buddhas und/ oder zu den kami [kami (jap.) 神 Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō] Zuflucht nehmen. Und wenn man sich fragt, was es bedeutet Japaner zu sein und nach welchen Werten Staat und Gesellschaft ausgerichtet sein sollen, werden Traditionalisten die mythologische Chronologie des Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels]-Hauses heranziehen und/ oder das konfuzianische Ideal der Loyalität gegenüber dem Herrscher hervorstreichen.
Dieses Modell darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass das japanische Weltbild immer schon so ausgesehen hat. Es beschreibt vielmehr das „tradtionelle Japan“, wie es sich seit der Begegnung mit dem Westen im Unterschied zur „Moderne“ herausdifferenziert hat. Die Bedeutung des Konfuzianismus (jukyō [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten]) ist beispielsweise starken historischen Schwankungen unterworfen, die direkt oder indirekt mit dem Prestige Chinas zusammenhängen. Der Konfuzianismus ist daher an den fluktuierenden Einfluss von China als Japans traditioneller Leitkultur gekoppelt.
Der Buddhismus besitzt ganz gegen das gängige Klischee sehr wohl Verbindungen zur japanischen Politik und damit auch zu Fragen der nationalen Identität, ja sogar des japanischen Nationalismus. Die sogenannte „Partei der Öffentlichen Sauberkeit“ (Kōmeitō [Kōmeitō (jap.) 公明党 „Partei der öffentlichen Sauberkeit“, buddhistisch orientierte politische Parlamentspartei]) ist beispielsweise aus dem politischen Arm der buddhistischen Laienbewegung Sōka Gakkai [Sōka Gakkai (jap.) 創価学会 wtl. in etwa „Organisation zum Studium vermehrter Werte“; neu-religiöse buddhistische Laienorganisation, gegr. 1930] entstanden. Die Tradition, sich von einem buddhistischen Standpunkt aus in das politische Geschehen Japans einzubringen, lässt sich bereits beim mittelalterlichen Mönch Nichiren [Nichiren (jap.) 日蓮 1222–1282; Begründer des Nichiren Buddhismus] finden, auf den sich beide Organisationen berufen.
Der Shintō wiederum hat in den letzten Jahren einen mehrfachen Bedeutungswandel erfahren. Während er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs — zumindest von offizieller Seite — als reiner Staatskult ohne tiefere religiöse Dimension definiert wurde (s. Staatsshintō), gibt es in jüngerer Zeit Bestrebungen, aus dem Shintō eine besondere ökologische Sensibilität oder gar Moral abzuleiten. Von dieser Seite wird also auch dem Shintō eine ethisch-moralische Kompetenz zugesprochen, die sich aus dem obigen Dreieck nicht ergibt.
Geschichtliche Entwicklung von Buddhismus und Shintō
Dennoch lässt sich als generelle Tendenz festhalten, dass der Konfuzianismus innerhalb der traditionellen Wertvorstellungen eher im „weltlichen“ oder politisch-rechtlichen Bereich wirksam ist, während die „geistlichen“ oder „religiösen“ Aspekte vor allem von Buddhismus und Shintō abgedeckt werden. Doch haben diese beiden Religionen, wie auf den vorhergehenden Seiten bereits erwähnt, nicht immer im gleichen Verhältnis neben einander bestanden wie heute. Insbesondere was die Entwicklung des Shintō betrifft, setzt sich unter Religionshistorikern mehr und mehr die Auffassung durch, dass Shintō eine relativ junge Erscheinung ist, die ohne den Buddhismus nicht denkbar wäre (s. dazu den berühmten Artikel „Shintō in the History of Japanese Religion“ von Kuroda Toshio [Kuroda Toshio (jap.) 黒田俊雄 1923–1993; Historiker und Religionswissenschaftler], 1981). Demgegenüber findet man in älteren Werken zur japanischen Religionsgeschichte die Ansicht, Shintō habe immer schon in Japan existiert und sei nur zeitweilig vom Buddhismus überlagert worden. Dies hat in der älteren westlichen Forschung dazu geführt, die „synkretistischen Glaubensformen“ des japanischen Mittelalters weitgehend zu ignorieren, während die heutige Forschung in dieser Zeit die Grundvoraussetzung für das immer noch bestimmende Ineinandergreifen von kami- und Buddha-Glauben sieht. Einer Anregung des Religionshistorikers William Bodiford [Bodiford, William (west.) 1955–; Buddhismushistoriker und Japanologe an der University of California, Los Angeles] (University of California, Los Angeles) folgend lassen sich das „alte“ und das „neue“ Entwicklungsmodell folgendermaßen grafisch darstellen:
Das alte Entwicklungsmodell setzt also die Entstehung des Shintō vor dem Buddhismus an. Das neue Modell geht dagegen von einer inhomogenen Mischung unterschiedlicher vorbuddhistischer Religionsformen aus, die erst durch den Buddhismus zusammengefasst wurden, dabei aber auch den japanischen Buddhismus mit geprägt haben. Aus einer oder mehreren innerhalb des japanischen Buddhismus entstandenen Glaubensrichtungen, die besonders auf die einheimischen Gottheiten ausgerichtet waren, hat sich die heute gängige Vorstellung des Shintō erst nach und nach vom Buddhismus abgelöst. Die einzelnen Schritte dieser Entwicklung werden v.a. innerhalb des Kapitels „Religionsgeschichte“ eingehender besprochen.
Primäre und sekundäre Religion
Das Zusammenspiel von Buddhismus und Shintō lässt sich meiner Meinung nach nur dann adäquat darstellen, wenn man die beiden Traditionen nicht um jeden Preis derselben Kategorie von Phänomenen — in diesem Fall der Kategorie Religion — zuordnet. Das bedeutet natürlich nicht, dass der erwähnte Versuch, Shintō jegliche „religiöse Natur“ abzusprechen, zu rechtfertigen wäre. Vielmehr muss man den Buddhismus als den Sonderfall begreifen, den ich mit Jan Assmann [Assmann, Jan (west.) 1938–; deutscher Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler] als „sekundäre Religion“ klassifizieren möchte. Andere religiöse Sonderfälle dieser Art wären etwa das Christentum oder der Islam. Derartige sekundäre religiöse Traditionen gehen im Grunde auf nicht mehr als zwei verschiedene kulturelle Wurzeln zurück, nämlich auf die Kulturen des alten Indien (Buddhismus, Jainismus [Jina (skt.) जिन „Der Siegreiche“, Ehrenname des Mahavira, Begründer des nach ihm benannten Jainismus, soll ein Zeitgenosse Buddhas gewesen sein]) und des alten Ägypten (als Wiege der monotheistischen Religionen). Sekundäre Religionen werden auch als „Buchreligionen“ bezeichnet, besitzen heilige Schriften (einen „Kanon“), historische Gründerfiguren und eine klar definierte Glaubenslehre. Primäre Religionen berufen sich dagegen auf Traditionen, die meist auf eine mythologische Urzeit zurückgeführt werden. Diese Urzeit setzt ein Weltgeschehen in Gang, das sich von seiner Gründung an im wesentlichen zyklisch wiederholt und daher kein teleologisches Ziel der Weltentwicklung kennt. Insoferne gibt es in diesen Religionen auch keine eschatologischen, das heißt auf eine individuelle oder kollektive „Errettung“ oder „Erleuchtung“ ausgerichteten Ziele.
Assmann's Unterscheidung lässt sich unschwer auch bei älteren Autoren finden, neu ist allerdings, dass er die Entstehung einer sekundären Religion nicht auf irgendwelche mentalen Entwicklungen (z.B. primitives Denken vs. rationales Denken) zurückführt, sondern in erster Linie auf ein neues Medium der kulturellen Vermittlung: die Schrift. Sekundäre Religionen sind laut Assmann ohne Schrift nicht möglich. Erst die Schrift ermöglicht die Entstehung von religiösen Spezialisten, die nicht selbst Medien der Vermittlung religiöser Inhalte — d.h. Ritualisten — sind, sondern auch zu Interpreten und damit zu Lehrern, Theologen und letztlich auch zu Ideologen religiöser Inhalte werden können. Diese Schriftgelehrten verleihen Religion neue Dimensionen, z.B. einen universalistischen Anspruch und damit einhergehend überregionale Netzwerke in Form von Kirchen, Klöstern und ähnliches mehr.
Neben der Schrift sind aber noch andere Bedingungen für eine sekundäre Religion notwendig. Dazu zählt im besonderen die Vorstellung, dass die Welt letztlich einer Ordnung unterliegt, welche auf gerechten Prinzipien beruht. Gerechtigkeit ist nicht nur das hervorstechendste Attribut monotheistischer Gottesvorstellungen (vgl. „Jüngstes Gericht“), auch im Buddhismus stellt die Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. gō 業)]-Theorie so etwas wie das Versprechen eines letztlich gerechten Ausgleichs guter und böser Taten dar. Von diesen Gerechtigkeitsvorstellungen leiten sekundäre Religionen ihr moralisches Regelwerk ab.
Primäre Religionen kennen dagegen prinzipiell nur mehr oder weniger mächtige Götter, die sich ähnlich wie die Menschen (oder die Natur) von weitgehend unkalkulierbaren, spontanen Regungen leiten lassen. Man kann diese Götter günstig stimmen oder ihren Zorn hervorrufen; es gibt auch Regeln, welches Verhalten welche Reaktion hervorruft; doch unterliegen diese Regeln letztlich keinem objektivierbaren moralischen Code. Genau deshalb sind die Regeln primärer Religionen auch nicht hinterfragbar und manifestieren sich, unabhängig von den Intentionen der Handelnden, in Form von Tabus oder Erfolg versprechenden (magischen) rituellen Prozeduren.
Die Traditionen des Shintō lassen sich nun in den meisten Fällen auf primär-religiöse Formen der kami-Verehrung zurückführen. Zugleich gibt es in der japanischen Religionsgeschichte verschiedene Versuche, die Verehrung der kami analog dem Buddhismus in eine sekundäre „Buchreligion“ umzuformen (z.B. Yoshida Shintō [Yoshida Shintō (jap.) 吉田神道 mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo]). Doch letztlich ist es nicht gelungen, diesen Schritt konsequent bis zum Ende durch zu führen. Der Grund liegt wahrscheinlich in erster Linie darin, dass bislang keiner dieser Versuche ohne das Kaiserhaus ausgekommen ist. Das Kaiserhaus wiederum bedient sich seit alters her mythologischer Begründungen, keiner objektivierbaren moralischen Prinzipien. Diese Form der Legitimierung widerspricht einem universalistischen Gerechtigkeitsgrundsatz, wie er für sekundäre Religionen kennzeichnend ist. Shintō ist daher aus meiner Sicht am ehesten als eine „hybride“ Zwischenform zwischen primärer und sekundärer Religion zu charakterisieren.
Zugleich kommt auch der japanische Buddhismus — wie im übrigen auch andere sekundär-religiöse Traditionen — nicht ganz ohne primär-religiöse, lokale, mythologisch begründete Vorstellungen aus. Zum einen ist die Präsenz zahlreicher aus Indien importierter Gottheiten aus dieser Funktion zu erklären (s. Wächtergötter). Zum anderen können auch diverse Richtungen, die heute als Shintō klassifiziert werden (z.B. Ryōbu Shintō [Ryōbu Shintō (jap.) 両部神道 Shintō-Interpretation des Mittelalters; wtl. „Shintō der beiden Teile“]) als primär-religiöse Aspekte des japanischen Buddhismus interpretiert werden. Anders ausgedrückt, der japanische Buddhismus bediente sich der lokalen Götter, um primär-religiöse Bedürfnisse zu befriedigen und schuf damit das Modell für spätere „hybride“ Formen des Shintō. Im Gegensatz zur Auffassung des oben besprochenen „alten Modells“, ist Shintō daher nicht trotz, sondern wegen der Begegnung von kami und Buddhas bis heute erhalten geblieben.
Verweise
Literatur
Glossar
- Antoni, Klaus (west.) ^ 1953–; deutscher Japanologe und Kulturwissenschaftler an der Universität Tübingen
- Assmann, Jan (west.) ^ 1938–; deutscher Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler
- Bodiford, William (west.) ^ 1955–; Buddhismushistoriker und Japanologe an der University of California, Los Angeles
- Kuroda Toshio 黒田俊雄 ^ 1923–1993; Historiker und Religionswissenschaftler
- Ryōbu Shintō 両部神道 ^ Shintō-Interpretation des Mittelalters; wtl. „Shintō der beiden Teile“
- Sōka Gakkai 創価学会 ^ wtl. in etwa „Organisation zum Studium vermehrter Werte“; neu-religiöse buddhistische Laienorganisation, gegr. 1930