Grundbegriffe/Weltbild: Unterschied zwischen den Versionen

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| Das traditionelle religiöse Weltbild Japans
 
| Das traditionelle religiöse Weltbild Japans
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{{fl|W}}ie sieht nun das religiöse Weltbild Japans aus? Wie soll man sich das Neben·einander von {{g|Bukkyou|Bud·dhis·mus}} und {{g|Shintou}} darin vorstellen? Und welche Rolle spielt der Konfuzianismus dabei? Diese Fragen werden zwar auf ver·schiedenen Seiten dieser Web·site ange·schnitten, es liegt aber außerhalb meiner Möglich·keiten, sie befrie·di·gend zu erklä·ren. Als Orien·tier·ungs·hilfe und als Zusam·men·fas·sung dieses Ein·füh·rungs·kapi·tels möchte ich den·noch ver·suchen, einige Erklä·rungs·an·sätze modell·haft dar·zustellen.
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Wie sieht nun das religiöse Weltbild Japans aus? Wie soll man sich das Nebeneinander von {{g|Bukkyou|Buddhismus}} und {{g|Shintou}} darin vorstellen? Und welche Rolle spielt der {{g|jukyou|Konfuzianismus}} dabei? Diese Fragen werden zwar auf verschiedenen Seiten dieser Website angeschnitten, es liegt aber außerhalb meiner Möglichkeiten, sie befriedigend zu erklären. Als Orientierungshilfe und als Zusammenfassung dieses Einführungskapitels möchte ich dennoch versuchen, einige Erklärungsansätze modellhaft darzustellen.
  
In seinem Buch ''Shintō und die Konzeption des japanischen Staats·wesens'' (1998) hat der deutsche Shintō-Spezialist Klaus Antoni ein graphisches Modell vorgelegt, das ich hier in leicht modi·fizier·ter Form über·nom·men habe:
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== Antonis Dreieck ==
  
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In seinem Buch ''Shintō und die Konzeption des japanischen Staatswesens'' (1998) hat der deutsche Shintō-Spezialist {{g|Antoniklaus}} ein graphisches Modell des Verhältnisses zwischen den verschiedenen japanischen Denktraditionen vorgelegt, das ich hier in leicht modifizierter Form übernommen habe:
Dieses Modell veranschaulicht die Einflüsse der drei wichtigsten vormodernen Wert- und Glaubens·systeme auf das tradi·tio·nelle japa·nische Welt·bild, wie es heute in Japan wirksam ist. Wenn man sich also heute auf tradi·tio·nelle ''mora·lische'' Werte besinnt, so wird man diese in bud·dhis·tischen und/ oder kon·fuzia·ni·schen Schriften suchen. Wenn man eine jen·sei·tige Macht um Hilfe und Unter·stüt·zung bittet, wird man zu Buddhas und/ oder zu den {{g|kami}} Zu·flucht nehmen. Und wenn man sich fragt, was es bedeu·tet Japaner zu sein und nach welchen Werten Staat und Gesell·schaft aus·ge·rich·tet sein sollen, werden Tradi·tiona·listen die mytho·logi·sche Chrono·logie des {{g|Tennou}}-Hauses heran·ziehen und/ oder das kon·fuzia·nische Ideal der Loya·lität gegen·über dem Herrscher her·vor·streichen.
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Dieses Modell veranschaulicht die Einflüsse der drei wichtigsten vormodernen Wert- und Glaubenssysteme auf das traditionelle japanische Weltbild, wie es heute in Japan wirksam ist. Wenn man sich also heute auf traditionelle ''moralische'' Werte besinnt, so wird man diese in buddhistischen und/ oder konfuzianischen Schriften suchen. Wenn man eine jenseitige Macht um Hilfe und Unterstützung bittet, wird man zu Buddhas und/ oder zu den {{g|kami}} Zuflucht nehmen. Und wenn man sich fragt, was es bedeutet Japaner zu sein und nach welchen Werten Staat und Gesellschaft ausgerichtet sein sollen, werden Traditionalisten die mythologische Chronologie des {{g|Tennou}}-Hauses heranziehen und/ oder das konfuzianische Ideal der Loyalität gegenüber dem Herrscher hervorstreichen.
  
Dieses Modell darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass das japanische Welt·bild immer schon so aus·gesehen hat. Es beschreibt vielmehr das „tradtionelle Japan“, wie es sich seit der Begeg·nung mit dem Westen im Unter·schied zur „Moderne“ heraus·differen·ziert hat. Die Bedeu·tung des Kon·fuzianis·mus ({{g|jukyou}}) ist bei·spiels·weise starken histo·rischen Schwan·kungen unter·worfen, die direkt oder indirekt mit dem Prestige Chinas zu·sam·men·hängen. Der Kon·fuzia·nis·mus ist daher an den fluk·tuie·renden Einfluss von China als Japans tradi·tio·neller Leit·kultur gekoppelt.
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Dieses Modell darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass das japanische Weltbild immer schon so ausgesehen hat. Es beschreibt vielmehr das „tradtionelle Japan“, wie es sich seit der Begegnung mit dem Westen im Unterschied zur „Moderne“ herausdifferenziert hat. Die Bedeutung des Konfuzianismus ({{g|jukyou}}) ist beispielsweise starken historischen Schwankungen unterworfen, die direkt oder indirekt mit dem Prestige Chinas zusammenhängen. Der Konfuzianismus ist daher an den fluktuierenden Einfluss von China als Japans traditioneller Leitkultur gekoppelt.
  
Der Bud·dhis·mus besitzt ganz gegen das gängige Klischee sehr wohl Ver·bin·dun·gen zur japanischen Politik und damit auch zu Fragen der nationalen Identität, ja sogar des japa·nischen Nationa·lis·mus. Die so·ge·nannte „Partei der Öffent·lichen Sauber·keit“ ({{g|Koumeitou}}) ist bei·spiels·weise aus dem poli·tischen Arm der bud·dhis·tischen Laien·bewe·gung {{g|Soukagakkai}} ent·standen. Die Tradition, sich von einem bud·dhis·tischen Stand·punkt aus in das politische Ge·sche·hen Japans ein·zubringen, lässt sich bereits beim mittel·alter·lichen Mönch {{g|Nichiren}} finden, auf den sich beide Orga·nisa·tionen berufen.
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Der Buddhismus besitzt ganz gegen das gängige Klischee sehr wohl Verbindungen zur japanischen Politik und damit auch zu Fragen der nationalen Identität, ja sogar des japanischen Nationalismus. Die sogenannte „Partei der Öffentlichen Sauberkeit“ ({{g|Koumeitou}}) ist beispielsweise aus dem politischen Arm der buddhistischen Laienbewegung {{g|Soukagakkai}} entstanden. Die Tradition, sich von einem buddhistischen Standpunkt aus in das politische Geschehen Japans einzubringen, lässt sich bereits beim mittelalterlichen Mönch {{g|Nichiren}} finden, auf den sich beide Organisationen berufen.
  
Der Shintō wiederum hat in den letzten Jahren einen  mehrfachen Be·deu·tungs·wandel erfahren. Während er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs — zumindest von offizieller Seite — als reiner Staatskult ohne tiefere religiöse Dimension definiert wurde (s. [[Geschichte/Staatsshinto|Staatsshintō]]), gibt es in jüngerer Zeit Be·stre·bungen, aus dem Shintō eine be·son·dere öko·logische Sensi·bili·tät oder gar Moral abzu·leiten. Von dieser Seite wird also auch dem Shintō eine ethisch-mora·lische Kompe·tenz zuge·sprochen, die sich aus dem obi·gen Drei·eck nicht ergibt.  
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Der Shintō wiederum hat in den letzten Jahren einen  mehrfachen Bedeutungswandel erfahren. Während er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs — zumindest von offizieller Seite — als reiner Staatskult ohne tiefere religiöse Dimension definiert wurde (s. [[Geschichte/Staatsshinto|Staatsshintō]]), gibt es in jüngerer Zeit Bestrebungen, aus dem Shintō eine besondere ökologische Sensibilität oder gar Moral abzuleiten. Von dieser Seite wird also auch dem Shintō eine ethisch-moralische Kompetenz zugesprochen, die sich aus dem obigen Dreieck nicht ergibt.
  
 
==Geschichtliche Entwicklung von Buddhismus und Shintō==
 
==Geschichtliche Entwicklung von Buddhismus und Shintō==
  
Dennoch lässt sich als generelle Tendenz festhalten, dass der Konfuzianismus inner·halb der traditionellen Wert·vor·stell·ungen eher im „welt·lichen“ oder poli·tisch-recht·lichen Bereich wirk·sam ist, während die „geist·lichen" oder „religi·ösen“ Aspekte vor allem von Bud·dhis·mus und Shintō ab·gedeckt werden. Doch haben diese beiden Reli·gio·nen, wie auf den vor·her·gehenden Seiten bereits erwähnt, nicht immer im gleichen Ver·hält·nis neben einan·der bestan·den wie heute. Ins·beson·dere was die Ent·wick·lung des Shintō betrifft, setzt sich unter Reli·gions·histori·kern mehr und mehr die Auf·fassung durch, dass Shintō eine relativ junge Erschei·nung ist, die ohne den Bud·dhis·mus nicht denkbar wäre (s. dazu den berühmten Artikel „Shintō in the History of Japanese Religion“ von  {{g|Kurodatoshio}}, 1981). Dem·gegen·über findet man in älteren Werken zur japa·ni·schen Religions·ge·schichte die Ansicht, Shintō habe immer schon in Japan exis·tiert und sei nur zeit·weilig vom Bud·dhis·mus über·lagert worden. Dies hat in der älteren west·lichen Forschung dazu geführt, die „synkre·tis·tischen Glaubens·formen“ des japani·schen Mittel·alters weit·gehend zu igno·rieren, wäh·rend die heutige Forschung in dieser Zeit die Grund·vor·aus·set·zung für das immer noch be·stim·mende In·ein·ander·greifen von ''kami''- und Buddha-Glauben sieht. Einer Anre·gung des Reli·gions·histori·kers William Bodiford (University of California, Los Angeles) folgend lassen sich das „alte“ und das „neue“ Ent·wick·lungs·modell fol·gender·maßen grafisch darstellen:
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Dennoch lässt sich als generelle Tendenz festhalten, dass der Konfuzianismus innerhalb der traditionellen Wertvorstellungen eher im „weltlichen“ oder politisch-rechtlichen Bereich wirksam ist, während die „geistlichen“ oder „religiösen“ Aspekte vor allem von Buddhismus und Shintō abgedeckt werden. Doch haben diese beiden Religionen, wie auf den vorhergehenden Seiten bereits erwähnt, nicht immer im gleichen Verhältnis neben einander bestanden wie heute. Insbesondere was die Entwicklung des Shintō betrifft, setzt sich unter Religionshistorikern mehr und mehr die Auffassung durch, dass Shintō eine relativ junge Erscheinung ist, die ohne den Buddhismus nicht denkbar wäre (s. dazu den berühmten Artikel „Shintō in the History of Japanese Religion“ von  {{g|Kurodatoshio}}, 1981). Demgegenüber findet man in älteren Werken zur japanischen Religionsgeschichte die Ansicht, Shintō habe immer schon in Japan existiert und sei nur zeitweilig vom Buddhismus überlagert worden. Dies hat in der älteren westlichen Forschung dazu geführt, die „synkretistischen Glaubensformen“ des japanischen Mittelalters weitgehend zu ignorieren, während die heutige Forschung in dieser Zeit die Grundvoraussetzung für das immer noch bestimmende Ineinandergreifen von ''kami''- und Buddha-Glauben sieht. Einer Anregung des Religionshistorikers {{g|Bodifordwilliam|William Bodiford}} (University of California, Los Angeles) folgend lassen sich das „alte“ und das „neue“ Entwicklungsmodell folgendermaßen grafisch darstellen:
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Das alte Ent·wick·lungs·mo·dell setzt also die Entstehung des Shintō vor dem Bud·dhis·mus an. Das neue Modell geht dagegen von einer in·homo·genen Mischung unter·schied·licher vor·bud·dhis·tischer Reli·gions·formen aus, die erst durch den Bud·dhis·mus zusam·men·gefasst wurden, dabei aber auch den japa·ni·schen Bud·dhis·mus mit geprägt haben. Aus einer oder meh·reren inner·halb des japanischen Bud·dhis·mus ent·stan·denen Glau·bens·rich·tungen, die beson·ders auf die ein·heim·ischen Gott·heiten aus·gerichtet waren, hat sich die heute gän·gige Vor·stellung des Shintō erst nach und nach vom Bud·dhis·mus abgelöst. Die einzelnen Schritte dieser Ent·wick·lung werden v.a. innerhalb des Kapitels „[[Geschichte|Religionsgeschichte]]“ ein·gehen·der besprochen.
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Das alte Entwicklungsmodell setzt also die Entstehung des Shintō vor dem Buddhismus an. Das neue Modell geht dagegen von einer inhomogenen Mischung unterschiedlicher vorbuddhistischer Religionsformen aus, die erst durch den Buddhismus zusammengefasst wurden, dabei aber auch den japanischen Buddhismus mit geprägt haben. Aus einer oder mehreren innerhalb des japanischen Buddhismus entstandenen Glaubensrichtungen, die besonders auf die einheimischen Gottheiten ausgerichtet waren, hat sich die heute gängige Vorstellung des Shintō erst nach und nach vom Buddhismus abgelöst. Die einzelnen Schritte dieser Entwicklung werden v.a. innerhalb des Kapitels „[[Geschichte|Religionsgeschichte]]“ eingehender besprochen.
  
 
==Primäre und sekundäre Religion==
 
==Primäre und sekundäre Religion==
  
Das Zusammenspiel von Bud·dhis·mus und Shintō lässt sich meiner Meinung nach nur dann adäquat dar·stellen, wenn man die beiden Tradi·tionen nicht um jeden Preis der·selben Kate·gorie von Phäno·menen — in diesem Fall der Kate·gorie Religion — zuordnet. Das bedeu·tet natür·lich nicht, dass der er·wähnte Versuch, Shintō jeg·liche „religiöse Natur“ abzu·sprechen, zu recht·fer·tigen wäre. Vielmehr muss man den Bud·dhis·mus als den Sonder·fall begreifen, den ich mit Jan Assmann als „sekun·däre Religion“ klassi·fizie·ren möchte. Andere reli·giöse Sonder·fälle dieser Art wären etwa das Chris·ten·tum oder der Islam. Der·artige sekun·däre reli·giöse Tradi·tionen gehen im Grunde auf nicht mehr als zwei ver·schie·dene kultu·relle Wurzeln zurück, nämlich auf die Kulturen des alten Indien (Bud·dhis·mus, Jainis·mus) und des alten Ägypten (als Wiege der mono·theis·ti·schen Reli·gionen). Sekun·däre Reli·gionen werden auch als „Buch·religio·nen“ bezeichnet, besit·zen heilige Schrif·ten (einen „Kanon“),  histo·rische Grün·der·figu·ren und eine klar defi·nierte Glaubens·lehre. Pri·märe Reli·gionen berufen sich dage·gen auf Tradi·tionen, die meist auf eine mytho·lo·gische Urzeit zu·rück·ge·führt werden. Diese Urzeit setzt ein Welt·gesche·hen in Gang, das sich von seiner Grün·dung an im wesent·lichen zyklisch wie·der·holt und daher kein teleo·logi·sches Ziel der Welt·ent·wick·lung kennt. Inso·ferne gibt es in diesen Religionen auch keine eschato·logischen, das heißt auf eine indivi·duelle oder kollektive „Erret·tung“ oder „Erleuchtung“ aus·gerich·teten Ziele.  
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Das Zusammenspiel von Buddhismus und Shintō lässt sich meiner Meinung nach nur dann adäquat darstellen, wenn man die beiden Traditionen nicht um jeden Preis derselben Kategorie von Phänomenen — in diesem Fall der Kategorie Religion — zuordnet. Das bedeutet natürlich nicht, dass der erwähnte Versuch, Shintō jegliche „religiöse Natur“ abzusprechen, zu rechtfertigen wäre. Vielmehr muss man den Buddhismus als den Sonderfall begreifen, den ich mit {{g|assmannjan|Jan Assmann}} als „sekundäre Religion“ klassifizieren möchte. Andere religiöse Sonderfälle dieser Art wären etwa das Christentum oder der Islam. Derartige sekundäre religiöse Traditionen gehen im Grunde auf nicht mehr als zwei verschiedene kulturelle Wurzeln zurück, nämlich auf die Kulturen des alten Indien (Buddhismus, {{s|Jina|Jainismus}}) und des alten Ägypten (als Wiege der monotheistischen Religionen). Sekundäre Religionen werden auch als „Buchreligionen“ bezeichnet, besitzen heilige Schriften (einen „Kanon“),  historische Gründerfiguren und eine klar definierte Glaubenslehre. Primäre Religionen berufen sich dagegen auf Traditionen, die meist auf eine mythologische Urzeit zurückgeführt werden. Diese Urzeit setzt ein Weltgeschehen in Gang, das sich von seiner Gründung an im wesentlichen zyklisch wiederholt und daher kein teleologisches Ziel der Weltentwicklung kennt. Insoferne gibt es in diesen Religionen auch keine eschatologischen, das heißt auf eine individuelle oder kollektive „Errettung“ oder „Erleuchtung“ ausgerichteten Ziele.  
 
 
Assmann's Unterscheidung lässt sich unschwer auch bei älteren Autoren finden, neu ist aller·dings, dass er die Ent·ste·hung einer sekun·dären Religion nicht auf irgend·welche men·talen Ent·wick·lungen (z.B. primitives Denken vs. rationales Denken) zurück·führt, sondern in erster Linie auf ein neues Medium der kultu·rellen Ver·mitt·lung: die Schrift. Sekun·däre Reli·gionen sind laut Ass·mann ohne Schrift nicht möglich. Erst die Schrift ermög·licht die Ent·stehung von reli·giösen Spezia·listen, die nicht selbst Medien der Ver·mitt·lung reli·giöser Inhalte — d.h. Ritua·listen — sind, sondern auch zu Inter·preten und damit zu Lehrern, Theo·logen und letzt·lich auch zu Ideo·logen reli·giöser Inhalte werden können. Diese Schrift·ge·lehr·ten ver·leihen Religion neue Dimen·sio·nen, z.B. einen uni·versa·listi·schen Anspruch und damit ein·her·ge·hend über·regio·nale Netz·werke in Form von Kirchen, Klöstern und ähn·liches mehr. 
 
  
Neben der Schrift sind aber noch andere Bedingungen für eine sekundäre Religion notwendig. Dazu zählt im beson·deren die Vor·stel·lung, dass die Welt letzt·lich einer Ordnung unter·liegt, welche auf gerech·ten Prinzi·pien beruht. Gerech·tig·keit ist nicht nur das her·vor·ste·chendste Attribut mono·theis·ti·scher Gottes·vorstel·lungen (vgl. „Jüngstes Gericht“), auch im Bud·dhis·mus stellt die {{s|Karma}}-Theorie so etwas wie das Ver·sprechen eines letzt·lich gerech·ten Aus·gleichs guter und böser Taten dar. Von diesen Ge·rech·tig·keits·vorstel·lungen leiten sekundäre Religionen ihr mora·lisches Regel·werk ab.  
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Assmann's Unterscheidung lässt sich unschwer auch bei älteren Autoren finden, neu ist allerdings, dass er die Entstehung einer sekundären Religion nicht auf irgendwelche mentalen Entwicklungen (z.B. primitives Denken vs. rationales Denken) zurückführt, sondern in erster Linie auf ein neues Medium der kulturellen Vermittlung: die Schrift. Sekundäre Religionen sind laut Assmann ohne Schrift nicht möglich. Erst die Schrift ermöglicht die Entstehung von religiösen Spezialisten, die nicht selbst Medien der Vermittlung religiöser Inhalte — d.h. Ritualisten — sind, sondern auch zu Interpreten und damit zu Lehrern, Theologen und letztlich auch zu Ideologen religiöser Inhalte werden können. Diese Schriftgelehrten verleihen Religion neue Dimensionen, z.B. einen universalistischen Anspruch und damit einhergehend überregionale Netzwerke in Form von Kirchen, Klöstern und ähnliches mehr.
  
Primäre Religionen kennen dagegen prinzipiell nur mehr oder weniger mächtige Götter, die sich ähn·lich wie die Men·schen (oder die Natur) von weit·ge·hend un·kalkulier·baren, spontanen Regungen leiten lassen. Man kann diese Götter günstig stimmen oder ihren Zorn hervorrufen; es gibt auch Regeln, welches Verhalten welche Reaktion hervorruft; doch unterliegen diese Regeln letztlich keinem objekt·ivier·baren moralischen Code. Genau deshalb sind die Regeln primärer Religionen auch nicht hinter·frag·bar und mani·fest·ieren sich, unabhängig von den Inten·tionen der Handelnden, in Form von Tabus oder Erfolg ver·sprech·enden (magischen) rituellen Prozeduren.  
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Neben der Schrift sind aber noch andere Bedingungen für eine sekundäre Religion notwendig. Dazu zählt im besonderen die Vorstellung, dass die Welt letztlich einer Ordnung unterliegt, welche auf gerechten Prinzipien beruht. Gerechtigkeit ist nicht nur das hervorstechendste Attribut monotheistischer Gottesvorstellungen (vgl. „Jüngstes Gericht“), auch im Buddhismus stellt die {{s|Karma}}-Theorie so etwas wie das Versprechen eines letztlich gerechten Ausgleichs guter und böser Taten dar. Von diesen Gerechtigkeitsvorstellungen leiten sekundäre Religionen ihr moralisches Regelwerk ab.  
  
Die Traditionen des Shintō lassen sich nun in den meisten Fällen auf primär-religiöse Formen der ''kami''-Verehrung zurückführen. Zugleich gibt es in der japanischen Reli·gions·geschichte verschiedene Versuche, die Verehrung der ''kami'' analog dem Bud·dhis·mus in eine sekundäre „Buch·religion“ umzuformen (z.B. {{g|yoshidashintou}}). Doch letztlich ist es nicht gelungen, diesen Schritt konsequent bis zum Ende durch zu führen. Der Grund liegt wahrscheinlich in erster Linie darin, dass bislang keiner dieser Versuche ohne das  Kaiserhaus ausgekommen ist. Das Kaiserhaus wiederum bedient sich seit alters her mythologischer Be·grün·dungen, keiner objekt·ivier·baren moralischen Prinzipien. Diese Form der Legi·timierung widerspricht einem uni·versa·listischen Ge·rechtig·keits·grund·satz, wie er für sekundäre Reli·gio·nen kennzeichnend ist. Shintō ist daher aus meiner Sicht am ehesten als eine „hybride“ Zwischen·form zwischen primärer und sekundärer Religion zu cha·rakter·isieren.
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Primäre Religionen kennen dagegen prinzipiell nur mehr oder weniger mächtige Götter, die sich ähnlich wie die Menschen (oder die Natur) von weitgehend unkalkulierbaren, spontanen Regungen leiten lassen. Man kann diese Götter günstig stimmen oder ihren Zorn hervorrufen; es gibt auch Regeln, welches Verhalten welche Reaktion hervorruft; doch unterliegen diese Regeln letztlich keinem objektivierbaren moralischen Code. Genau deshalb sind die Regeln primärer Religionen auch nicht hinterfragbar und manifestieren sich, unabhängig von den Intentionen der Handelnden, in Form von Tabus oder Erfolg versprechenden (magischen) rituellen Prozeduren.  
  
Zugleich kommt auch der japanische Bud·dhis·mus — wie im übrigen auch andere sekundär-religiöse Traditionen — nicht ganz ohne primär-religiöse, lokale, mythologisch begründete Vorstellungen aus. Zum einen ist die Präsenz zahlreicher aus Indien importierter Gott·heiten aus dieser Funktion zu erklären (s. [[Ikonographie/Wächtergötter| Wächtergötter]]). Zum anderen können auch diverse Rich·tungen, die heute als Shintō klassi·fiziert werden (z.B. {{g|ryoubushintou}}) als primär-religiöse Aspekte des japanischen Bud·dhis·mus interpretiert werden. Anders ausgedrückt, der japanische Bud·dhis·mus bediente sich der lokalen Götter, um primär-religiöse Bedürfnisse zu befriedigen und schuf damit das Modell für spätere „hybride“ Formen des Shintō. Im Gegensatz zur Auffassung des oben besprochenen „alten Modells“, ist Shintō daher nicht ''trotz'', sondern ''wegen'' der Begegnung von ''kami'' und Buddhas bis heute erhalten geblieben.
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Die Traditionen des Shintō lassen sich nun in den meisten Fällen auf primär-religiöse Formen der ''kami''-Verehrung zurückführen. Zugleich gibt es in der japanischen Religionsgeschichte verschiedene Versuche, die Verehrung der ''kami'' analog dem Buddhismus in eine sekundäre „Buchreligion“ umzuformen (z.B. {{g|yoshidashintou}}). Doch letztlich ist es nicht gelungen, diesen Schritt konsequent bis zum Ende durch zu führen. Der Grund liegt wahrscheinlich in erster Linie darin, dass bislang keiner dieser Versuche ohne das  Kaiserhaus ausgekommen ist. Das Kaiserhaus wiederum bedient sich seit alters her mythologischer Begründungen, keiner objektivierbaren moralischen Prinzipien. Diese Form der Legitimierung widerspricht einem universalistischen Gerechtigkeitsgrundsatz, wie er für sekundäre Religionen kennzeichnend ist. Shintō ist daher aus meiner Sicht am ehesten als eine „hybride“ Zwischenform zwischen primärer und sekundärer Religion zu charakterisieren.
  
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Zugleich kommt auch der japanische Buddhismus — wie im übrigen auch andere sekundär-religiöse Traditionen  — nicht ganz ohne primär-religiöse, lokale, mythologisch begründete Vorstellungen aus. Zum einen ist die Präsenz zahlreicher aus Indien importierter Gottheiten aus dieser Funktion zu erklären (s. [[Ikonographie/Wächtergötter| Wächtergötter]]). Zum anderen können auch diverse Richtungen, die heute als Shintō klassifiziert werden (z.B. {{g|ryoubushintou}}) als primär-religiöse Aspekte des japanischen Buddhismus interpretiert werden. Anders ausgedrückt, der japanische Buddhismus bediente sich der lokalen Götter, um primär-religiöse Bedürfnisse zu befriedigen und schuf damit das Modell für spätere „hybride“ Formen des Shintō. Im Gegensatz zur Auffassung des oben besprochenen „alten Modells“, ist Shintō daher nicht ''trotz'', sondern ''wegen'' der Begegnung von ''kami'' und Buddhas bis heute erhalten geblieben. 
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Aktuelle Version vom 19. Juni 2024, 15:47 Uhr

Zusammenfassung:Das traditionelle religiöse Weltbild Japans

Wie sieht nun das religiöse Weltbild Japans aus? Wie soll man sich das Nebeneinander von Buddhismus [bukkyō (jap.) 仏教 Lehre des Buddha, Buddhismus] und Shintō [Shintō (jap.) 神道 Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami] darin vorstellen? Und welche Rolle spielt der Konfuzianismus [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten] dabei? Diese Fragen werden zwar auf verschiedenen Seiten dieser Website angeschnitten, es liegt aber außerhalb meiner Möglichkeiten, sie befriedigend zu erklären. Als Orientierungshilfe und als Zusammenfassung dieses Einführungskapitels möchte ich dennoch versuchen, einige Erklärungsansätze modellhaft darzustellen.

Antonis Dreieck

In seinem Buch Shintō und die Konzeption des japanischen Staatswesens (1998) hat der deutsche Shintō-Spezialist Klaus Antoni [Antoni, Klaus (west.) 1953–; deutscher Japanologe und Kulturwissenschaftler an der Universität Tübingen] ein graphisches Modell des Verhältnisses zwischen den verschiedenen japanischen Denktraditionen vorgelegt, das ich hier in leicht modifizierter Form übernommen habe:

Wertvorstellungen.gif

Dieses Modell veranschaulicht die Einflüsse der drei wichtigsten vormodernen Wert- und Glaubenssysteme auf das traditionelle japanische Weltbild, wie es heute in Japan wirksam ist. Wenn man sich also heute auf traditionelle moralische Werte besinnt, so wird man diese in buddhistischen und/ oder konfuzianischen Schriften suchen. Wenn man eine jenseitige Macht um Hilfe und Unterstützung bittet, wird man zu Buddhas und/ oder zu den kami [kami (jap.) Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō] Zuflucht nehmen. Und wenn man sich fragt, was es bedeutet Japaner zu sein und nach welchen Werten Staat und Gesellschaft ausgerichtet sein sollen, werden Traditionalisten die mythologische Chronologie des Tennō [Tennō (jap.) 天皇 jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels]-Hauses heranziehen und/ oder das konfuzianische Ideal der Loyalität gegenüber dem Herrscher hervorstreichen.

Dieses Modell darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass das japanische Weltbild immer schon so ausgesehen hat. Es beschreibt vielmehr das „tradtionelle Japan“, wie es sich seit der Begegnung mit dem Westen im Unterschied zur „Moderne“ herausdifferenziert hat. Die Bedeutung des Konfuzianismus (jukyō [jukyō (jap.) 儒教 Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten]) ist beispielsweise starken historischen Schwankungen unterworfen, die direkt oder indirekt mit dem Prestige Chinas zusammenhängen. Der Konfuzianismus ist daher an den fluktuierenden Einfluss von China als Japans traditioneller Leitkultur gekoppelt.

Der Buddhismus besitzt ganz gegen das gängige Klischee sehr wohl Verbindungen zur japanischen Politik und damit auch zu Fragen der nationalen Identität, ja sogar des japanischen Nationalismus. Die sogenannte „Partei der Öffentlichen Sauberkeit“ (Kōmeitō [Kōmeitō (jap.) 公明党 „Partei der öffentlichen Sauberkeit“, buddhistisch orientierte politische Parlamentspartei]) ist beispielsweise aus dem politischen Arm der buddhistischen Laienbewegung Sōka Gakkai [Sōka Gakkai (jap.) 創価学会 wtl. in etwa „Organisation zum Studium vermehrter Werte“; neu-religiöse buddhistische Laienorganisation, gegr. 1930] entstanden. Die Tradition, sich von einem buddhistischen Standpunkt aus in das politische Geschehen Japans einzubringen, lässt sich bereits beim mittelalterlichen Mönch Nichiren [Nichiren (jap.) 日蓮 1222–1282; Begründer des Nichiren Buddhismus] finden, auf den sich beide Organisationen berufen.

Der Shintō wiederum hat in den letzten Jahren einen mehrfachen Bedeutungswandel erfahren. Während er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs — zumindest von offizieller Seite — als reiner Staatskult ohne tiefere religiöse Dimension definiert wurde (s. Staatsshintō), gibt es in jüngerer Zeit Bestrebungen, aus dem Shintō eine besondere ökologische Sensibilität oder gar Moral abzuleiten. Von dieser Seite wird also auch dem Shintō eine ethisch-moralische Kompetenz zugesprochen, die sich aus dem obigen Dreieck nicht ergibt.

Geschichtliche Entwicklung von Buddhismus und Shintō

Dennoch lässt sich als generelle Tendenz festhalten, dass der Konfuzianismus innerhalb der traditionellen Wertvorstellungen eher im „weltlichen“ oder politisch-rechtlichen Bereich wirksam ist, während die „geistlichen“ oder „religiösen“ Aspekte vor allem von Buddhismus und Shintō abgedeckt werden. Doch haben diese beiden Religionen, wie auf den vorhergehenden Seiten bereits erwähnt, nicht immer im gleichen Verhältnis neben einander bestanden wie heute. Insbesondere was die Entwicklung des Shintō betrifft, setzt sich unter Religionshistorikern mehr und mehr die Auffassung durch, dass Shintō eine relativ junge Erscheinung ist, die ohne den Buddhismus nicht denkbar wäre (s. dazu den berühmten Artikel „Shintō in the History of Japanese Religion“ von Kuroda Toshio [Kuroda Toshio (jap.) 黒田俊雄 1923–1993; Historiker und Religionswissenschaftler], 1981). Demgegenüber findet man in älteren Werken zur japanischen Religionsgeschichte die Ansicht, Shintō habe immer schon in Japan existiert und sei nur zeitweilig vom Buddhismus überlagert worden. Dies hat in der älteren westlichen Forschung dazu geführt, die „synkretistischen Glaubensformen“ des japanischen Mittelalters weitgehend zu ignorieren, während die heutige Forschung in dieser Zeit die Grundvoraussetzung für das immer noch bestimmende Ineinandergreifen von kami- und Buddha-Glauben sieht. Einer Anregung des Religionshistorikers William Bodiford [Bodiford, William (west.) 1955–; Buddhismushistoriker und Japanologe an der University of California, Los Angeles] (University of California, Los Angeles) folgend lassen sich das „alte“ und das „neue“ Entwicklungsmodell folgendermaßen grafisch darstellen:

Modell alt.gif
Modell neu.gif
Altes Modell (li) und neues Modell (re.)

Das alte Entwicklungsmodell setzt also die Entstehung des Shintō vor dem Buddhismus an. Das neue Modell geht dagegen von einer inhomogenen Mischung unterschiedlicher vorbuddhistischer Religionsformen aus, die erst durch den Buddhismus zusammengefasst wurden, dabei aber auch den japanischen Buddhismus mit geprägt haben. Aus einer oder mehreren innerhalb des japanischen Buddhismus entstandenen Glaubensrichtungen, die besonders auf die einheimischen Gottheiten ausgerichtet waren, hat sich die heute gängige Vorstellung des Shintō erst nach und nach vom Buddhismus abgelöst. Die einzelnen Schritte dieser Entwicklung werden v.a. innerhalb des Kapitels „Religionsgeschichte“ eingehender besprochen.

Primäre und sekundäre Religion

Das Zusammenspiel von Buddhismus und Shintō lässt sich meiner Meinung nach nur dann adäquat darstellen, wenn man die beiden Traditionen nicht um jeden Preis derselben Kategorie von Phänomenen — in diesem Fall der Kategorie Religion — zuordnet. Das bedeutet natürlich nicht, dass der erwähnte Versuch, Shintō jegliche „religiöse Natur“ abzusprechen, zu rechtfertigen wäre. Vielmehr muss man den Buddhismus als den Sonderfall begreifen, den ich mit Jan Assmann [Assmann, Jan (west.) 1938–; deutscher Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler] als „sekundäre Religion“ klassifizieren möchte. Andere religiöse Sonderfälle dieser Art wären etwa das Christentum oder der Islam. Derartige sekundäre religiöse Traditionen gehen im Grunde auf nicht mehr als zwei verschiedene kulturelle Wurzeln zurück, nämlich auf die Kulturen des alten Indien (Buddhismus, Jainismus [Jina (skt.) जिन „Der Siegreiche“, Ehrenname des Mahavira, Begründer des nach ihm benannten Jainismus, soll ein Zeitgenosse Buddhas gewesen sein]) und des alten Ägypten (als Wiege der monotheistischen Religionen). Sekundäre Religionen werden auch als „Buchreligionen“ bezeichnet, besitzen heilige Schriften (einen „Kanon“), historische Gründerfiguren und eine klar definierte Glaubenslehre. Primäre Religionen berufen sich dagegen auf Traditionen, die meist auf eine mythologische Urzeit zurückgeführt werden. Diese Urzeit setzt ein Weltgeschehen in Gang, das sich von seiner Gründung an im wesentlichen zyklisch wiederholt und daher kein teleologisches Ziel der Weltentwicklung kennt. Insoferne gibt es in diesen Religionen auch keine eschatologischen, das heißt auf eine individuelle oder kollektive „Errettung“ oder „Erleuchtung“ ausgerichteten Ziele.

Assmann's Unterscheidung lässt sich unschwer auch bei älteren Autoren finden, neu ist allerdings, dass er die Entstehung einer sekundären Religion nicht auf irgendwelche mentalen Entwicklungen (z.B. primitives Denken vs. rationales Denken) zurückführt, sondern in erster Linie auf ein neues Medium der kulturellen Vermittlung: die Schrift. Sekundäre Religionen sind laut Assmann ohne Schrift nicht möglich. Erst die Schrift ermöglicht die Entstehung von religiösen Spezialisten, die nicht selbst Medien der Vermittlung religiöser Inhalte — d.h. Ritualisten — sind, sondern auch zu Interpreten und damit zu Lehrern, Theologen und letztlich auch zu Ideologen religiöser Inhalte werden können. Diese Schriftgelehrten verleihen Religion neue Dimensionen, z.B. einen universalistischen Anspruch und damit einhergehend überregionale Netzwerke in Form von Kirchen, Klöstern und ähnliches mehr.

Neben der Schrift sind aber noch andere Bedingungen für eine sekundäre Religion notwendig. Dazu zählt im besonderen die Vorstellung, dass die Welt letztlich einer Ordnung unterliegt, welche auf gerechten Prinzipien beruht. Gerechtigkeit ist nicht nur das hervorstechendste Attribut monotheistischer Gottesvorstellungen (vgl. „Jüngstes Gericht“), auch im Buddhismus stellt die Karma [Karma (skt.) कर्म „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. 業)]-Theorie so etwas wie das Versprechen eines letztlich gerechten Ausgleichs guter und böser Taten dar. Von diesen Gerechtigkeitsvorstellungen leiten sekundäre Religionen ihr moralisches Regelwerk ab.

Primäre Religionen kennen dagegen prinzipiell nur mehr oder weniger mächtige Götter, die sich ähnlich wie die Menschen (oder die Natur) von weitgehend unkalkulierbaren, spontanen Regungen leiten lassen. Man kann diese Götter günstig stimmen oder ihren Zorn hervorrufen; es gibt auch Regeln, welches Verhalten welche Reaktion hervorruft; doch unterliegen diese Regeln letztlich keinem objektivierbaren moralischen Code. Genau deshalb sind die Regeln primärer Religionen auch nicht hinterfragbar und manifestieren sich, unabhängig von den Intentionen der Handelnden, in Form von Tabus oder Erfolg versprechenden (magischen) rituellen Prozeduren.

Die Traditionen des Shintō lassen sich nun in den meisten Fällen auf primär-religiöse Formen der kami-Verehrung zurückführen. Zugleich gibt es in der japanischen Religionsgeschichte verschiedene Versuche, die Verehrung der kami analog dem Buddhismus in eine sekundäre „Buchreligion“ umzuformen (z.B. Yoshida Shintō [Yoshida Shintō (jap.) 吉田神道 mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo]). Doch letztlich ist es nicht gelungen, diesen Schritt konsequent bis zum Ende durch zu führen. Der Grund liegt wahrscheinlich in erster Linie darin, dass bislang keiner dieser Versuche ohne das Kaiserhaus ausgekommen ist. Das Kaiserhaus wiederum bedient sich seit alters her mythologischer Begründungen, keiner objektivierbaren moralischen Prinzipien. Diese Form der Legitimierung widerspricht einem universalistischen Gerechtigkeitsgrundsatz, wie er für sekundäre Religionen kennzeichnend ist. Shintō ist daher aus meiner Sicht am ehesten als eine „hybride“ Zwischenform zwischen primärer und sekundärer Religion zu charakterisieren.

Zugleich kommt auch der japanische Buddhismus — wie im übrigen auch andere sekundär-religiöse Traditionen — nicht ganz ohne primär-religiöse, lokale, mythologisch begründete Vorstellungen aus. Zum einen ist die Präsenz zahlreicher aus Indien importierter Gottheiten aus dieser Funktion zu erklären (s. Wächtergötter). Zum anderen können auch diverse Richtungen, die heute als Shintō klassifiziert werden (z.B. Ryōbu Shintō [Ryōbu Shintō (jap.) 両部神道 Shintō-Interpretation des Mittelalters; wtl. „Shintō der beiden Teile“]) als primär-religiöse Aspekte des japanischen Buddhismus interpretiert werden. Anders ausgedrückt, der japanische Buddhismus bediente sich der lokalen Götter, um primär-religiöse Bedürfnisse zu befriedigen und schuf damit das Modell für spätere „hybride“ Formen des Shintō. Im Gegensatz zur Auffassung des oben besprochenen „alten Modells“, ist Shintō daher nicht trotz, sondern wegen der Begegnung von kami und Buddhas bis heute erhalten geblieben.

Ende des Kapitels „Grundbegriffe“

Verweise

Literatur

Siehe auch Literaturliste

Kuroda Toshio, „Shinto in the History of Japanese Religion“. Journal of Japanese Studies 7:1 (1981), 1–22. (Online.) [Ü. J. Dobbins und S. Gay.]
Klaus Antoni, Shintō und die Konzeption des japanischen Staatswesens (kokutai). Leiden: Brill, 1998.
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck, 1999. [Erstausgabe 1992.]
Bernhard Scheid, „Memories of the Divine Age: Shintō seen through Jan Assmann’s concepts of religion“. In: Bernard Faure, Michael Como und Iyanaga Nobumi (Hg.), Rethinking Medieval Shintō. O.O.: Cahiers d’Extrême-Asie 16, 2009, 327–341.

Glossar

Namen und Fachbegriffe auf dieser Seite

  • Antoni, Klaus (west.) ^ 1953–; deutscher Japanologe und Kulturwissenschaftler an der Universität Tübingen
  • Assmann, Jan (west.) ^ 1938–; deutscher Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler
  • Bodiford, William (west.) ^ 1955–; Buddhismushistoriker und Japanologe an der University of California, Los Angeles
  • bukkyō 仏教 ^ Lehre des Buddha, Buddhismus
  • Jina (skt.) जिन ^ „Der Siegreiche“, Ehrenname des Mahavira, Begründer des nach ihm benannten Jainismus, soll ein Zeitgenosse Buddhas gewesen sein
  • jukyō 儒教 ^ Konfuzianismus, Lehre des Konfuzius (Kong Zi oder Kong Fuzi); wtl. Lehre der Gelehrten
  • kami^ Gottheit; im engeren Sinne einheimische oder lokale japanische Gottheit, Schreingottheit (s. jinja), Gottheit des Shintō
  • Karma (skt.) कर्म ^ „Tat“, auch „konsequente Folge“; moralische Bilanz der gesetzten Handlungen (jap. 業)
  • Kōmeitō 公明党 ^ „Partei der öffentlichen Sauberkeit“, buddhistisch orientierte politische Parlamentspartei
  • Kuroda Toshio 黒田俊雄 ^ 1923–1993; Historiker und Religionswissenschaftler
  • Nichiren 日蓮 ^ 1222–1282; Begründer des Nichiren Buddhismus
  • Ryōbu Shintō 両部神道 ^ Shintō-Interpretation des Mittelalters; wtl. „Shintō der beiden Teile“
  • Shintō 神道 ^ Shintō; wtl. Weg der Götter, Weg der kami
  • Sōka Gakkai 創価学会 ^ wtl. in etwa „Organisation zum Studium vermehrter Werte“; neu-religiöse buddhistische Laienorganisation, gegr. 1930
  • Tennō 天皇 ^ jap. „Kaiser“-Titel, wtl. Herrscher des Himmels
  • Yoshida Shintō 吉田神道 ^ mittelalterl. Shintō-Richtung, begründet von Yoshida Kanetomo