Neureligionen und Religionspolitik in der japanischen Moderne

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Staatsshintō und Tennō-Verehrung

In der Meiji-Zeit war es zunächst Ziel, den Shintō als Staatsreligion zu etablieren. Zu diesem Zweck wurde 1868 zunächst gesetzlich die Trennung zwischen Shintōismus und Buddhismus vorgenommen (shinbutsu bunri 神仏分離). In der Verfassung von 1889 sieht der Artikel 28 die Religiöse Freiheit vor:

Alle japanischen Untertanen genießen, soweit es nicht gegen Frieden und Ordnung verstößt, und nicht ihren Pflichten als Untertanen Abbruch tut, Freiheit des religiösen Bekenntnisses.
Altmann 1913:309

Auch wenn diese Verfassungsbestimmung nur sehr eingeschränkt Religiöse Freiheit garantiert, stünde eine Staatsreligion im Widerspruch zu ihr. Daher wurde nun versucht, den Staatsshintō nicht als Religion, sondern als „bürgerliche Pflicht“ zu etablieren. Dementsprechend standen keine tatsächlichen religiösen Inhalte im Mittelpunkt, sondern vielmehr Maßnahmen zur Herausbildung ergebener japanischer Staatsbürger sowie zur Einschwörung auf die Veränderungen, die die Meiji-Zeit mit sich brachten. Ziel war die Stärkung und Förderung des „nationalen Charakters“ (kokutai 国体). Die Tennō-Verehrung war zentraler Bestandteil dieser Ideologie.

Das Kaiserliche Erziehungsedikt

Der Meiji Tennō erließ 1890 das Kaiserliche Erziehungsedikt (kyōiku ni kansuru chokugo 教育ニ関スル勅語), dass die Aufgabe des Schulwesens weg vom reinen Wissenserwerb hin zur moralischen Charakterbildung umdefinierte. Der Text wurde gemeinsam mit einem Porträt des Tennō an alle japanischen Schulen gesendet. Makiguchi Tsunesaburō, selbst Lehrer, zählt zu den Kritikern dieses Edikts.

Gesetze zur Aufrechterhaltung des Friedens

Von der Meiji- bis in die Shōwa-Zeit wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, welche die Meinungsfreiheit stark einschränkten und Bürgerrechtsbewegungen sowie politische Bewegungen kriminalisierten und es dem Staat erlaubten, diese zu verfolgen.

  • Hoan jōrei 法案条例 (dt.: „Sicherheitsverordnung“) 1894: schränkte Freiheits- und Bürgerbewegungen ein
  • Chian keisatsu hō 治安警察法 („Gesetz zur öffentlichen Sicherheit und Polizei“) 1900: beinhaltete Restriktionen gegen Redefreiheit und verbot Gewerkschaftsbewegungen
  • Chian iji hō 治安維持法 (dt.: „Friedenserhaltungsgesetz“) 1925: richtete sich vor allem gegen Sozialisten und Kommunisten in Japan; zur Umsetzung wurde auch eine Abteilung im Bildungsministerium eingerichtet, die „Abweichler“ unter den Professoren und Schüler ausfindig machte und „korrigierte“ beziehungsweise verhaftete.

Gesetz zu Religionsgemeinschaften

Im Jahre 1939 wurde das Shūkyō dantaihō 宗教団体法 („Gesetz zu Religionsgemeinschaften“) verabschiedet. Es regelte die Bedingungen für Anerkennung bzw. Verbot von Religionsgemeinschaften und gab dem Staat weitreichende Befugnisse zur Regulierung dieser. So war es zum Beispiel möglich, eine ganze Religionsgemeinschaft zu verbieten, wenn ein Prediger aus dieser gegen die öffentliche Ordnung verstieß, was wiederum ein sehr dehnbarer Begriff ist. Dieses Gesetz zielte natürlich auch auf neu entstandene Religionen wie Ōmoto und Sōka Gakkai ab.


Deguchi Nao und Ōmoto

Gründerin und Glaubensinhalte

Ōmoto und der Staatsshintō

Asahara Shōkō und Ōmu shinrikyō

Asahara Shōkō 麻原 彰晃 wurde 1955 als Matsumoto Chizuo 松本 智津夫 in Kumamoto geboren. Nach seinem Schulabschluss wandte er sich der chinesischen Medizin sowie dem Drogenhandel zu. Nachdem er gefasst und verurteilt wurde, beschäftigte er sich intensiv mit dem Buddhismus. Sein Interesse galt vor allem indischen und tibetischen Buddhismus sowie Yoga. 1984 eröffnete er in Tōkyō den Yogazirkel Ōmu shinsen no kai. Um mehr über die Lehren und Praktiken des Buddhismus zu erfahren, bereiste er Regionen, an welchen der Buddhismus schon länger praktiziert wird als in Japan. In Indien soll er laut eigenen Angaben die Erleuchtung erfahren haben, was ihn zur Gründung der Sekte Ōmu shinrikyō 1987 bewegte. Asahara war als Erleuchteter der Guru, sozusagen der spirituelle Führer der Sekte.

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1989 wurde Ōmu shinrikyō von den japanischen Behörden offiziell als Religion anerkannt. Ein Empfehlungsschreiben des Dalai Lama soll dabei hilfreich gewesen sein. Fest steht jedoch nur, dass Treffen zwischen diesen beiden Personen stattfanden. Anerkannte Religionen genießen in Japan erhebliche Steuererleichterungen. Diese Vorteile gelten auch für gewinnbringende Organisationen der Religion, welche de facto Unternehmen waren. Es wurden Gastronomiebetriebe errichtet und Immobilienhandel praktiziert.

Die Wahrheitspartei Shinritō

1989 wurde die politische Partei der Sekte, die „Wahrheitspartei“ Shinritō 真理党, gegründet. Das Ziel der Partei soll, wie auch schon das Ziel der Sekte an sich, die Rettung der Menschheit gewesen sein. Bei den japanischen Unterhauswahlen 1990 kandidierten neben Asahara 24 weitere Mitglieder Ōmu shinrikyōs. Der Wahlkampf der Shinritō war für japanische Verhältnisse unorthodox. Einige der Sektenanhänger kostümierten sich als Elefanten oder trugen Masken, auf denen Asaharas Gesicht abgebildet war. An Ständen und Veranstaltungen wurden Musikstücke der Sekte, zum Beispiel Shōkō māchi 彰晃マーチ, wiedergegeben, während weibliche Mitglieder Tänze aufführten. Die Wahlplakate der Shinritō waren schlicht gestaltet. Auf ihnen war meist nur ein Foto des Kandidaten in weißer Kleidung sowie sein hōrīnēmu ホーリーネーム[1] groß und sein bürgerlicher Name klein abgebildet. Mitglieder der Wahlkampagne sollen von anderen Parteien der Sabotage ihrer Veranstaltungen verdächtigt worden sein. Allerdings führte keine Aktivität zum Erfolg, da jeder Kandidat die Anzahl der nötigen Stimmen zum Einzug weit verfehlte. Die Shinritō kandidierte nach dieser herben Niederlage kein weiteres Mal für eine Wahl.

Weiterer Einfluss auf die Politik

Für Asahara stellte die Niederlage der Shinritō die Weiche für eine Katastrophe für die Menschheit. Finstere Mächte hätten sich mit der Regierung gegen Ōmu shinrikyō verschworen, da es anders nicht zu erklären wäre, dass eine Partei, dessen Ziel es ist die Menschheit zu retten, verliert. Es ist wahrscheinlich, dass von diesem Zeitpunkt an die Herstellung biologischer und chemischer Waffen begann. Das Giftgas Sarin wurde 1995 eingesetzt, um in der Stadt Matsumoto Widersacher in einem Rechtsstreit zu beseitigen, sowie das Regierungsviertel Tōkyōs von U-Bahntunnel aus auszuschalten.

Nachdem Asahara und über 100 weitere Mitglieder der Sekte 1995 verhaftet wurden, ist scharfe Kritik gegenüber verschiedenen Behörden entflammt. Ein Kritikpunkt war das Gesetz über religiöse Körperschaften und der Religionsfreiheit. Die Machenschaften anerkannter Religionen, welche in nur einer Präfektur tätig sind, durften nicht vom Kulturministerium untersucht werden. Die landesweit tätige Sekte Ōmu shinrikyō nutzte ein Schlupfloch aus, indem lediglich der Hauptsitz in Tōkyō gemeldet wurde. Dadurch konnte die Sekte in anderen Präfekturen, zum Beispiel Yamanashi, illegalen Machenschaften wie der Herstellung von Sarin nachgehen.

Die Kritik führte zu einer Revision des Gesetzes, die noch im selben Jahr stattfand. Seither muss eine Religionsgemeinschaft, welche in mehr als einer Präfektur tätig ist, beim Kulturministerium registrieren. Außerdem müssen sie ihre Bilanzen offen legen. Die dritte wichtige Änderung ist das Recht des Kulturministeriums, bei Verdachtsmomenten möglicherweise involvierte Personen zu zitieren. Allerdings ist „Verdacht“ nicht näher definiert.

Ōmu shinrikyō heute

Neureligion „Happy Science“

Happy Science 幸福の科学 [Kōfuku no Kagaku] wurde 1986 von Ōkawa Ryūhō大川 隆法gegründet und 1991 als legale Organisation anerkannt. Der Glaube dieser Gemeinschaft beruht auf die Aussage des Gründers Ōkawas, Botschaften unterschiedlicher Gottheiten zu erhalten und selbst eine Inkarnation des Gottes El Cantare zu sein. Es werden vier Pfade der Erleuchtung gepredigt: Liebe, Weisheit, Selbstreflexion und Entwicklung.

Die Religionsgemeinschaft ist wie eine durchschnittliche japanische Firma aufgebaut, die von einem Präsidenten geführt wird. Neben den hierarchisch angeordneten Gruppen gibt es auch diverse Gemeinschaften für Frauen, Männer, Kinder und Studenten. Durch die Firmenstruktur und Organisation konnte die Religionsgemeinschaft finanzielle Absicherung finden und ist international vertreten. Es gibt große Vereinigungen der Happy Science in New York, Los Angeles, San Francisco, Hawaii, Seoul, Sao Paulo, Melbourne und London. (http://happy-science.org/)

Der Gründer und spirituelle Führer Ōkawa Ryūhō wurde am 7. Juli 1956 in Tokushima, Japan geboren. Er veröffentlichte über 2100 Bücher, hielt 2500 Vorträge über Spiritualität und hat Anhänger in mehr als 100 Ländern. Happy Science hat um die 11 Millionen Mitglieder auf der ganzen Welt (http://happy-science.org/). (Astley 1995:9)

Glücksrealisierungspartei

Im Mai 2009 wurde die politische Partei der Religionsgemeinschaft unter dem Namen „Glücksrealisierungspartei“ 幸福実現党 [Kōfuku jitsugen tō] gegründet. Hauptziel der Religion sowie der Partei ist es „den Himmel auf Erden in dieser Welt zu schaffen“ (Ōkawa 2014:26).

Als erste Namensidee der Partei war „Zukunftsglückspartei“ angedacht – mit der Hoffnung, in Zukunft die Menschheit ins Glück führen zu können. Ōkawa findet jedoch, dass es nicht gut ist, wenn Menschen der Realität entfliehen und hoffen, erst in Zukunft glücklich zu werden. Deshalb entschied er sich für den Namen „Glücksrealisierungspartei“. (Ōkawa 2014:25)

Als erste Maßnahmen wollen sie eine proaktive Lösung gegen die militärischen Drohungen seitens Nordkorea sowie China finden und der wirtschaftlichen Rezession entgegenwirken. Die Partei proklamiert, den Frieden im Land durch drastische Änderungen japanischer Regierungsreformen sichern zu können – sie vertritt nämlich die Meinung, dass die aktuelle Verfassung Japans sehr viele Einschränkungen enthält.

Politische Ziele

Ōkawa Ryūhō schrieb eine fünfteilige Buchreihe über die Glücksrealisierungspartei, welche die zentralen politischen Ideen der Partei erklärt. Im Hauptwerk „Manifest der Glücksrealisierungspartei“ steht deutlich geschrieben, dass es sein Ziel sei, eine große Volkspartei zu gründen, die für alle Menschen offen ist. Dieses Bestreben soll auch nicht dem Eigeninteresse von Happy Science dienen, sondern vielmehr Bestandteil ihrer Aktivitäten für die Menschen dieser Welt sein. (Ōkawa 2014:24)

Für eine Verbesserung der politischen, wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Lage werden von der Partei zwei Maßnahmen als notwendig angesehen:

1) Die Stärkung der nationalen Sicherheit und der US-Japanischen Allianz

2) Eine Verbesserung der Wirtschaft Japans durch drastische Senkung der Steuern und den Bau neuer Industrien

Des Weiteren führen Mitglieder der Glücksrealisierungspartei die Philosophie, dass Japan durch die friedliche Existenz mehrere Religionen als Vorbild anderer Länder dienen soll. Sie wollen sich auch für eine enge Zusammenarbeit zwischen Religion und Regierung einsetzen, da in der Überzeugung der Glücksrealisierungspartei eine Ausgeglichenheit zwischen Einflüssen der Religion, Regierung und Wirtschaft herrschen sollten. Es wird dafür Artikel 20 der Japanischen Konstitution referenziert, der für die strikte Trennung von Religionen sowie der Regierung steht. Dieses Gesetz wird als veraltet angesehen und soll an die zeitgenössischen Ereignisse angepasst werden. (http://en.hr-party.jp/)

Auf der Homepage der Glücksrealisierungspartei wird folgendes geschrieben: „Die Partei wurde als Antwort auf die Notwendigkeit positiver sowie konkreter Handlungen in der Gesellschaft gegründet, um sich mit wirklichen Probleme auseinanderzusetzen, die Religionen allein nicht lösen können.“ (http://en.hr-party.jp/)

Erwähnung anderer religiöser Parteien

Im Buch „Manifest der Glücksrealisierungspartei“ spricht Ōkawa die damals noch einzige religiöse Partei Japans an:

Ich bin der Ansicht, dass die ‚Neue Komeito‘ nicht die Kraft hat, die religiösen politischen Parteien ausreichend zu repräsentieren. Die ‚Neue Komeito‘ wurde als Laienorganisation namens Taiseki-ji gegründet, die zu Nichiren-Richtung des Buddhismus gehört. Der Nichiren-Buddhismus ist eine Religion, der ein hohes Maß an Abgrenzung an den Tag legt. Daher schließt die ‚Neue Komeito‘ auch bestimmte Aspekte rigoros aus. Sie hat den Ruf, sehr ausgrenzend zu sein. Ich bin der Meinung, es sollte eine Partei geben, die breiter gefächert und toleranter ist. Ich denke, es muss eine weitere Partei geben, auf die sich andere religiöse Kräfte und Menschen, die an andere Religionen glauben, stützen können.

Ōkawa 2014:22-23

Er betont im Anschluss darauf auch stark, dass eine „blutige Revolution“ abgelehnt wird und auf friedlicher Basis Veränderungen in der japanischen Regierung durchgeführt werden sollten.

Anmerkungen

  1. Bei Eintritt in die Sekte Ōmu shinrikyō wurde der Person ein Name von Asahara zugeteilt. Bei diesen Namen handelt es sich hauptsächlich um buddhistische Begriffe auf Pali oder Sanskrit.

Quellen

  • Ryūhō Ōkawa 2008
    "I'm fine" spirit : How to get through tough times. Tokyo: Jaico Publishing House 2008.
  • Ryūhō Ōkawa 2011
    Selbstheilung : Die wahre Beziehung zwischen Geist und Körper. Düsseldorf: Happy Science 2011.
  • Trevor Astley 1995
    „The transformation of a recent japanese New Religion: Ryūhō Ōkawa and Kofuku no kagaku.“ Japanese Journal of Religious Studies 22/3-4 (1995), S. 343–380.
  • Kenya Numata 1990
    „Kōfuku no kagaku no kenkyū.“ St. Andrew's University sociological review 24/2 (1990), S. 81–112. (Exzerpt.)
  • Ryūhō Ōkawa 2014
    Manifest der Glücksrealisierungspartei. Verlag BoD – Books on Demand 2014.
  • Hauptseite der Happy Science:[1]
  • Hauptseite der Happiness Realization Party: [2]
  • Wilhelm Altmann 1913
    Ausgewählte Urkunden zur ausserdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776: Zum Handgebrauch für Historiker und Juristen. Berlin: Weidmann 1913. (2. Auflage.)
  • Dayle M. Bethel 1973
    Makiguchi: The value creator: Revolutionary japanese educator and founder of Sōka Gakkai. New York: Weatherhill 1973.
  • Kōichi Mori 1977
    Study of Makiguchi Tsunesaburō: The founder of Sōka Gakkai. Berkeley 1977. (Exzerpt Diss..)
  • Artikel „Staatsshintō“ in „Religion in Japan“[3]