Besessenheit im Heike monogatari

Aus Kamigraphie
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Hauptsächlich handelt das mittelalterliche Krieger-Epos (jap. gunki monogatari 軍記物語) Heike monogatari 平家物語 (dt. „Erzählungen von den Heike“) von dem politischen beziehungsweise militärischen Konflikt zwischen dem Taira- (auch Heike 平家) und dem Minamoto-Klan (auch Genji 源氏). Schlussendlich gingen im Laufe dieses Konflikts die Taira unter und die siegreichen Minamoto etablierten eine Militärregierung (bakufu 幕府) in Kamakura 鎌倉 im Osten von Japan. Das Heike monogatari ist in verschiedenen Fassungen überliefert, die alle erst im Laufe der Zeit aus zunächst oral tradierten Texten kompiliert und niedergeschrieben wurden. Somit sollte man immer im Hinterkopf behalten, dass auch wenn größten Teils historische Geschehnisse beschrieben werden, diese jedoch immer im Rahmen dieses literarischen Werkes narrativ ausgeschmückt wurden und damit auch von der Sichtweise der jeweiligen Kompilatoren beziehungsweise Verfasser geprägt sind. [1]

Neben den direkten kriegerischen Konfrontationen der beiden Fraktionen werden aber auch einige unterschiedliche Topoi behandelt und in die Geschichte hineingewoben. So finden sich zum Beispiel auch einige Liebeserzählungen oder Vergleiche zu vergangen Zeiten der japanischen oder chinesischen Geschichte. Ebenfalls wurden in die Heike-Texttradition einige Episoden, in denen Begegnungen mit übernatürlichen Begebenheiten geschildert werden, aufgenommen und ausformuliert.

Besessenheit

Unter Besessenheit (jap. hyōi 憑依) wird im Folgenden ein zugeschriebener Zustand verstanden, in dem eine übernatürliche Kraft, ein Geist oder eine Gottheit in den Körper eines Menschen fährt und dadurch unterschiedliche Umstände hervorruft. Der Mensch, von dem diese übernatürliche Entität Besitz ergreift, wird als „Medium“ bezeichnet. Um die unterschiedlichen Umstände, durch die sich eine solche Besessenheit äußert, zu unterscheiden, gibt es verschiedene Merkmale. Eine sinnvolle Unterscheidungsmöglichkeit ist, ob eine Besessenheit vom Medium selbst herbeigerufen wurde und somit ein freiwillig hervorgerufener (solicited) Akt des Mediums ist, oder ob das Medium ohne dessen Absicht in einen Besessenheitszustand verfällt und dieser Akt somit ein unfreiwillig hervorgerufener (unsolicited) Akt ist. Diese Unterscheidung steht meistens, aber nicht immer, damit in Verbindung, ob das Resultat der Besessenheit ein grundsätzlich wünschenswertes oder eher ein schädigendes Ergebnis ist. [2]

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist, ob es sich um eine kontrollierte oder unkontrollierte Besessenheitsform handelt. Hiermit ist gemeint, ob das Medium grundsätzlich Kontrolle über die Ausprägungen der Besessenheit hat oder nicht. Eine unfreiwillig hervorgerufene, kontrollierte Besessenheit würde also zum Beispiel bedeuten, dass das Medium die besitzergreifende übernatürliche Entität zwar nicht bewusst hervorruft, aber im Fall der Besessenheit weiterhin mehr oder weniger Kontrolle über den Verlauf der Besessenheit hat und somit sogar in manchen Fällen die Besessenheit von sich heraus beenden kann. Dies ist zum Beispiel oft bei prophetischen Visionserscheinungen der Fall. [3]

Ein weiterer Aspekt zur Unterscheidung stellt auch die besitzergreifende Entität selbst dar. Meist steht diese ebenfalls in Verbindung zu dem letztendlichen Resultat der Besessenheit. Handelt es sich um einen erfreulichen Ausgang, so handelt es sich meist um eine wohlwollende Gottheit. Handelt es sich im Gegensatz aber um ein eher unerfreuliches Ergebnis der Besessenheit, wie einer Krankheit, so wird dies meist als Besessenheit einer böswilligen Entität beziehungsweise Gottheit gesehen.

Durch diese Unterscheidungen nennt die deutsche Japanologin Birgit Staemmler vier Hauptarten, durch die sich Besessenheit ausdrückt: [4]

1. Unfreiwillig hervorgerufene Besessenheit durch eine böswillige Entität, welche sich in Form einer Krankheit oder unkontrollierbarer Trance manifestiert. Diese wird negativ gedeutet und die besitzergreifende Entität muss exorziert oder beschwichtigt werden.

2. Unfreiwillig hervorgerufene Besessenheit durch eine wohlwollende Entität, welche sich in Form einer kontrollierbaren Trance eines Propheten für diese Entität äußert.

3. Unfreiwillig hervorgerufene Besessenheit, die sich als Trance in Kombination anderer Symptome äußert, welche als Zeichen zur Berufung eines professionellen Mediums zur Initiation verstanden wird. Infolge dessen soll der Berufene seinen Geist stärken und dadurch zu einem religiösen Spezialisten werden.

4. Freiwillig hervorgerufene Besessenheit, welche von einem religiösen Spezialisten bewusst ausgelöst wird, um seinen Tätigkeiten als solcher nachzugehen und damit spirituelle Unordnung durch Kommunikation mit übernatürlichen Entitäten wieder in Ordnung zu bringen.

In Bezug auf die Kakuichi-bon-Fassung (覚一本 1372) des Heike monogatari sind eigentlich nur die erste und zweite Ausprägung von Belangen.

Unfreiwillig hervorgerufene Besessenheit durch böswillige Entitäten

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Unfreiwillig hervorgerufene Besessenheit durch wohlwollende Entitäten

<WIP>

In der Kakuichi-bon-Fassung finden sich zwei Erzählungen, in der eine unfreiwillig hervorgerufene Besessenheit durch eine wohlwollende Entität geschildert wird. Beide Erzählungen finden noch recht am Anfang der größeren Rahmenhandlung des Heike monogatari am Ende von Buch 1 und am Anfang von Buch 2 statt. Zu diesem Zeitpunkt herrscht gerade ein Konflikt zwischen den Mönchen des Enyraku-ji 延暦寺 der Tendai-Schule und dem Hofadel in Heian-kyō. Die Tendai-Mönche erbeten den abgedankten und in den Mönchsstand eingetreten Tennō Go-Shirakawa 後白河法皇[5] darum, für die Tendai-Schule unliebsame politische Akteure ihrer Ämter zu entheben und ins Exil zu schicken. Go-Shirakawa kommt dieser Bitte aber nicht nach, weshalb die Mönche mit Aufständen beginnen, die teilweise in kriegerische Auseinandersetzungen münden, was die Situation nur noch weiter aus dem Ruder laufen lässt. Beide Episoden werden in Folge dieser Auseinandersetzungen des kaiserlichen Hofes mit den Mönchen des Enryaku-ji-Klosterkomplexes erzählt.

Buch 1, Abschnitt 14

Diese erste Besessenheits-Episode wird zu Beginn des oben genannten Konflikts geschildert. [6] Die Mönche der Tendai-Schule haben zunächst die Bitte an Go-Shirakawa geschickt und sind aufgrund der bisherigen Untätigkeit des abgedankten Tennō daran, einen Protestzug mit den mikoshi 神輿 [7] der Schutzgottheiten des Berg Hiei 比叡山 (sanō 山王) nach Heian-kyō durchzuführen. Nach der Schilderung der Versammlung der Mönche an den Schreinen der Schutzgottheiten folgt ein Wechsel der Erzählzeit etwa 100 Jahre vor der eigentlichen Erzählzeit des Heike monogatari.

Hier wird von einer ähnlichen Situation zwischen den Mönchen des Enryaku-ji und dem Aristokratenhof erzählt. Da ein Mitglied der Aristokratie einen Mönch bei einer Konfrontation getötet hat, gehen 30 hochrangige Mönche der Tendai-Schule nach Heian-kyō, um Rechenschaft durch den kaiserlichen Hof zu fordern. Anstelle, dass der Hof ihnen aber Gehör schenkt, werden sie von Wachen mit Pfeilen angegriffen, wodurch acht der Mönche getötet werden und die restlichen in die Flucht getrieben werden. Erzürnt über diese Missetaten wenden sich die Mönche des Enryaku-ji an die Schutzgötter des Berg Hiei. Dafür holen sie die mikoshi der sieben Schutzgötter in die Haupthalle und führen dort eine eintägige Rezitation von Sutren durch, worauf sie Hachiōji 八王子, eine der sieben Schutzgottheiten, bitten, den derzeitigen Fujiwara-Regenten mit einem Brummpfeil abzuschießen und damit zu verfluchen.

In der folgenden Nacht hat jemand in Heian-kyō einen Traum, dass vom Berg Hiei ein Brummpfeil in das Haus des Regenten geschossen wurde, und daraufhin wird der Regent schwer krank, was im Text der Macht des Hachiōji zugeschrieben wird. Die Mutter des Regenten verkleidet sich als Frau von niederem Stand, um zum Schrein von Hachiōji zu gehen und dort die Gottheit um Gnade für ihren Sohn zu bitten. Hierzu betet sie sieben Tage und Nächte lang in Stille, wobei sie drei geheime Versprechen an die Gottheit macht, die sie sonst niemandem verrät.

In der letzten der sieben Nächte fällt eine Schreinjungfrau (warawa miko 童神子), ), die von ‘‘Michinoku‘‘ 陸奥[8] auf Pilgerschaft zu dem Schrein gereist war, in Ohnmacht. Wenig später erwacht sie plötzlich wieder und beginnt zu tanzen. Nach einer halben Stunde beginnt sie dann besessen von der Schutzgottheit zu sprechen. In dieser Besessenheit zählt die Gottheit die drei Gelübde auf, die die Mutter des Regenten still gemacht hatte, und verkündet, dass die Gottheit den Regenten noch drei Jahre zu leben lassen würde, sofern die Mutter zumindest das letzte ihrer drei Gelübde einhalten würde, dass sie jeden Tag Rezitationen des Lotos-Sūtras am Schrein von Hachiōji durchführen lassen würde. Nach dieser Verkündung verlässt die Gottheit den Körper der Schreinjungfrau. Da die Mutter niemandem von ihren Gelöbnissen erzählt hatte, ist sie überzeugt, dass das Orakel wahrlich durch den Geist der Gottheit übertragen wurde, und lässt, wie versprochen, jeden Tag das Lotos-Sūtra rezitieren. Daraufhin wird der Regent zwar wieder gesund, doch wie angekündigt, verstirbt er nach drei Jahren dennoch frühzeitig.

Die ganze Episode scheint als Machbekundung der Macht der sanō zu dienen. Und diese Macht kommt sogleich in mehrfacher Weise zum Ausdruck. Zunächst verursacht die Gottheit Hachiōji, dass der den Tendai-Mönchen in Ungunst gefallene Regent schwer krank dem Tod nah gebracht wird. In der Besessenheitssequenz selbst ist interessant, dass hier eine weibliche, explizit junge Person als Medium dient, der weder Verbindungen zum Schrein, noch zu der Besitz ergreifenden Gottheit zugeschrieben werden, da sie sozusagen nur zufällig während ihrer Pilgerschaft gerade zu diesem Zeitpunkt am Schrein des Berg Hiei ist. Die Besessenheit dient ebenfalls als Machtdemonstration. Nicht nur, weil die Gottheit in der Lage ist, Besitz über einen Menschen zu ergreifen, sondern auch weil sie währenddessen beweisen kann, über Wissen zu verfügen, die nur ein übernatürliches Wesen erlangen kann. Erst nachdem die Mutter des Regenten ein Versprechen abgibt, das der Gottheit genügt, gewährt Hachiōji nach Erfüllung des Versprechens dem Regenten noch Lebenszeit. Hierbei ist aber auch interessant, dass die Strafe eben nur gelindert werden kann, nicht aber vollständig aufgehoben, da die Gottheit dem Regenten dann dennoch nur drei weitere Jahre zu leben gibt. Trotzdem wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Gottheit nicht zwingend nur auf Seite der Tendai-Mönche steht, sondern auch durch angebrachte Verehrung anderen Personen zur Seite stehen kann.

Buch 2, Abschnitt 3

Die zweite Episode wird ebenfalls im Rahmen dieser Mönchsaufstände geschildert. Nachdem die Mönche sich mit ihrer Schreinprozssion nach Heian-kyō aufgemacht hatten, werden sie mit einem Pfeilhagel empfangen, wobei nicht nur einige Mönche getötet wurden, sondern auch die mikoshi beschädigt wurden. Wenig später bricht ein Feuer in Heian-kyō aus, wobei der Großteil des kaiserlichen Palastes zerstört wird. Dies wird als Folge der Missetat gegen die sanō-Gottheiten gedeutet. [9] In weiterer Folge versucht die Hofaristokratie, denjenigen zu bestrafen, der dafür verantwortlich ist, dass die Mönche des Enryaku-ji überhaupt mit den mikoshi nach Heian-kyō gegangen sind. Hierbei identifizieren sie dann den Abt (zasu 座主) des Enryaku-ji und damit einen der hochrangigsten Zugehörigen der Tendai-Schule Meiun 明雲, der aus Sicht der Tendai-Mönche zu Unrecht angeklagt wird. Go-shirakawa will Meiun seinen Titel und Funktionen entziehen und will ihn darauf ins Exil schicken. [10]

Darüber[11] bestürzt, dass der kaiserliche Hof sich weiterhin gegen die Mönchgemeinschaft der Tendai-Schule stellt, treffen sich die Mönche vor dem Schrein von Jūzenji 十禅師, einer weiteren der sanō-Gottheiten. Dort beratschlagen sie, ob sie nach Awazu 粟津 gehen sollen, wo Meiun gefangen gehalten wird, und diesen zu befreien und vor dem Exil zu bewahren. Da Meiun gut bewacht wird, rufen sie die sanō-Gottheiten an, ihnen zur Seite zu stehen und ihnen ein Zeichen dafür zu senden, damit sie wissen, ob sie wirklich in der Lage sein werden, Meiun zu befreien. Sogleich tritt ein 18-jähriger, junger Mann auf, der in tiefe körperliche und geistige Qualen verfällt, wobei aus seinem ganzen Körper Schweiß fließt. Daraufhin verkündet er, dass er die Gottheit jūzenji ist und, dass er sie dazu antreibt, nach Awazu zu gehen und Meiun zu befreien. Die Mönche sind aber noch zunächst skeptisch, ob dies wirklich das Orakel der Gottheit ist, weshalb sie ihn um einen Beweis dafür ersuchen. Hierfür nehmen hunderte Mönche ihre Gebetskette (juzu 数珠) und werfen sie auf den Boden. Da der besessene Mann jedem Mönch seine eigene Gebetskette zuordnen und zurückgeben kann, sehen die Mönche dies als Beweis, dass es sich wahrlich um das Orakel der Gottheit Jūzenji handeln muss. Mit dieser göttlichen Bekräftigung machen sich die Mönche des Enryaku-ji auf den Weg nach Awazu. Alle Wachmänner, die ihnen auf dem Weg entgegenstehen, fliehen vor Angst und so kommen die Mönche ohne Hindernisse nach Awazu, bewahren ihren Abt vor dem Exil und bringen ihn zurück zum Berg Hiei.


Verweise

Fußnoten

  1. Schneider 2000, S. 18-19
  2. Staemmler 2009, S. 22
  3. Staemmler 2009, S. 23
  4. die folgende Aufzählung folgt Staemmler 2009, S. 23-24
  5. zu dieser Zeit war es üblich, dass ein Tennō erst politisch aktiv wurde, sobald er sein Amt offiziell niedergelegt hat und in den Mönchsstand eingetreten ist
  6. Folgende Ausführungen zum Inhalt des Abschnitts folgen der kommentierten Ausgabe des Originaltextes (SNKBT 44, S. 51–56) und den Übersetzungen von Kitagawa Hiroshi (1975, S. 60–66) und Helen Craig McCullough (1988, S. 49–52).
  7. eine Sänfte, die als Sitz einer Kami-Gottheit zu Umzügen und Festivitäten verwendet wird
  8. Provinz in heutiger Tōhoku-Region
  9. McCullough 1988, S. 52–56
  10. McCullough 1988, S. 57–59
  11. Folgende Ausführungen zum Inhalt des Abschnitts folgen der kommentierten Ausgabe des Originaltextes (SNKBT 44, S. 83–87) und den Übersetzungen von Kitagawa Hiroshi (1975, S. 60–66) und Helen Craig McCullough (1988, S. 60–62).

Literatur

Hiroshi Kitagawa (Ü.) 1975
The tale of the Heike. Tokyo: University of Tokyo Press 1975.
Helen Craig McCullough (Ü.) 1988
The tale of the Heike. Stanford: Stanford University Press 1988.
Roland Schneider 2000
„Pinsel, Schwert und Mönchsgewand: Das Heike monogatari als literarisches Werk.“ In: Franziska Ehmcke und Heinz-Dieter Reese (Hg.), Von Helden, Mönchen und Frauen: Die Welt des japanischen Heike-Epos. Köln: Böhlau 2000, S. 11-32.
Birgit Staemmler 2009
Chinkon kishin: Mediated spirit possession in Japanese new religions. Berlin, Münster: Lit 2009.